Montag, 1. Januar 2018

Daniel Kehlmann: Tyll

- das letzte Highlight 2017!

Lesen mit Mira und Sabine

Gebundene Ausgabe, 480 Seiten
Rowohlt, 9. Oktobber 2017


Auf der diesjährigen Buchmesse gab es für mich ein Muss: Ein Interview mit Daniel Kehlmann über seinen neuesten Roman "Tyll". In dem Gespräch hat Kehlmann über die Hintergründe seines Romans erzählt, über die Schelmenfigur, die er ins 17.Jahrhundert versetzt hat, und seine ausgiebige Recherchearbeit. Danach war ich überzeugt, dass ich diesen Roman lesen muss.

Worum geht es?

"Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen." (S.7)

Gemeint ist der 30-jährige Krieg (1618-1648), dessen verheerende Auswirkungen im Mittelpunkt des "Tyll" stehen. In diese Zeit hinein hat Kehlmann seinen Protagonisten versetzt, eine Sagengestalt, zu der es eine Quelle aus dem 14.Jahrhundert gibt und die zum fahrenden Volk gehört.

"Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den schützt keine Gilde, und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird denken, du hättest Feuer gelegt. Bist du in einem Dorf und etwas wird gestohlen, mach dich ebenfalls davon." (S.168)

Das ermöglicht Tyll in der immobilen Gesellschaft zu reisen, an verschiedenen Orten aufzutreten, aber auch mit unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Berührung zu kommen - mit Königen, Grafen und sogar dem Kaiser. Ihnen allen kann er schonungslos den Spiegel vorhalten.

"Ich lach nicht über den Kaiser, ich lach über dich. Wieso bist du so fett? Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?" "Halt deinen Mund", sagte der dicke Graf und wurde sofort wütend darüber, dass ihm nichts Geistreicheres eingefallen war." (S.207f.)

Der Roman beginnt mit einem Auftritt Tylls, den man aus den Till Eulenspiegel-Geschichten kennt.
Tyll tanzt auf dem Seil und fordert die Menschen einer kleinen Stadt dazu auf, ihren rechten Schuh auszuziehen und ihm hinaufzuwerfen. Die Situation artet in einem Chaos aus.

"Wie ein Fieber griff die Wut um sich - wo man hinsah, wurde geschrien und geschlagen, Leiber wälzten sich" (S.24)

- eine Allegorie auf den heran nahenden Krieg, der das Dorf überrollt und fast nur Tote zurücklässt.

Im zweiten Kapitel "Herr der Luft" erzählt der auktoriale Erzähler von der Kindheit Tylls, in deren Mittelpunkt der Vater Claus steht, der aus dem lutherischen Norden stammt und als Müllersknecht die Tochter des Müllers geheiratet hat.

"Nebenbei heilt er die Bauern, die ihm immer noch nicht die Hand reichen, denn was sich nicht gehört, gehört sich nicht; aber wenn sie Schmerzen haben, kommen sie zu ihm." (S.40)

Kehlmann entwirft ein detailliertes Gesellschaftbild des Dorfes, schildert die Lebensbedingungen, die Armut und den permanenten Hunger derer, die nie genug zu essen haben. Die Grausamkeit untereinander, Kinder werden geschlagen und nicht geliebt, zu oft sterben sie jung.
Aber auch der Aberglaube der katholischen Gegend wird seziert. Für alles gibt es einen Spruch, eine Zeit, wann man wo nicht hingehen darf, sonst kommt die Kalte oder das kleine Volk.
Währenddessen beginnt der 30 -jährige Krieg, der Winterkönig ist aus Böhmen geflohen und verlangt die Unterstützung der englischen Krone.

Allein gelassen im Wald mit dem Esel und einem Wagen voller Mehl hat der junge Tyll ein seltsames Erlebnis. Sein Vater findet ihn ganz weiß, mit Eselfell auf einem Seil tanzen, wochenlang hat er es geübt, jetzt gelingt es plötzlich.

"Wenn er bloß wüsste, was im Wald passiert ist. Er weiß, dass er nicht daran denken möchte. Erinnerung ist etwas Eigenartiges. Sie kommt und geht nicht einfach, wie sie will, sondern man kann sie hell machen und wieder löschen wie einen Kienspan." (S.89)

Viele Jahre später "Im Schacht" (Kapitel 7), als er in Brünn als Mineur verschüttet wird, denkt er daran zurück. Im Angesicht des Todes erinnert sich Tyll an Episoden seines Lebens, dadurch werden einige lose Fäden aufgenommen und zu Ende gesponnen, was für die hervorragende Komposition des Romans spricht.
Unter anderem denkt er an den Vater zurück, der sich in Bücher vergräbt und sich "wissenschaftlichen" Fragen widmet, ein Träumer ist und andere mit Sprüchen heilt und somit in den Fokus zweier Jesuitenbrüder gerät:
Doktor Tesimond, der einen Anschlag auf Jakob Stuart - Sohn Maria Stuarts und protestantischer König von England und Schottland - gewagt hat, um seiner Tochter Elisabeth auf den Thron zu verhelfen. Jene Elisabeth, die den Winterkönig geheiratet hat und die genau wie dieser im Mittelpunkt des Kapitels "Könige im Winter" (Kapitel 4) steht, in dem besonders drastisch die Auswirkungen des Krieges beschrieben werden. Friedrich, vertriebener König von Böhmen, der den Krieg ausgelöst hat (Prager Fenstersturz), nähert sich dem Lager des schwedischen Königs:

"Der Geruch wurde stärker, je näher sie kamen. (...) Das Erdreich war aufgewählt, die Pferde sanken ein, sie stapften wie durch tiefen Morast. Unrat häufte sich dunkelbraun am Wegesrand, der König versuchte, sich zu sagen, dass es wohl nicht das sei. was er vermutete, aber er wusste, es war genau das: der Kot von hunderttausend Menschen." (S.280)

Tyll begleitet Friedrich zu Gustav Adolf, dem schwedischen König, da er ihn um Hilfe bitten will - eine historische Begegnung, in der Friedrich erfährt, dass es dem Protestanten Gustav Adolf mitnichten um den Glauben geht, sondern um Geld und Macht.

Eine historische Figur ist auch der zweite Jesuit, der Doktor Tesimond begleitet: Athanasius Kircher, dessen Verlogenheit Kehlmann im Verlauf des Romans hervorragend aufdeckt und der Protagonist des sechsten Kapitels "Die große Kunst von Licht und Schatten" ist, in dem er als Pater und Professor des Collegium Romanum auftritt und als Verfasser zahlreicher Schriften. Nichtsdestotrotz ist er auch dem Aberglauben verhaftet und er kann einer Begegnung mit Tyll nicht standhalten.

Die Unwissenschaftlichkeit seiner Argumentation wird am besten in seiner Aussage über Drachen, an deren Existenz er fest glaubt, deutlich:

"Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. Aus genau diesem Grund hat man allen Berichten von Leuten, die Drachen gesichtet haben wollen, mit äußerstem Unglauben zu begegnen, denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist." (S.352)

Zurück zur Kindheit Tylls (Kapitel 2):
Der Prozess gegen den Vater offenbart, dass eine Verurteilung mit der Inhaftierung des Hexers oder der Hexe schon beschlossen ist. Es geht nur darum, dass der- bzw. diejenige gesteht. Die Verteidigung des Vaters durch einen Edelmann führt das den Leser*innen deutlich vor Augen:

"Der Prozess ist vorbei. Nur das Urteil fehlt noch. Der Angeklagte hat gestanden."
"Aber offensichtlich unter Folter?"
"Ja natürlich", ruft Doktor Tesimond. "Warum hätte er sonst gestehen sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!" 
"Während unter der Folter jeder gesteht."
"Gott sei Dank, ja!"
"Auch ein Unschuldiger." (S.137f.)

Tyll flieht aus dem Dorf und schließt sich gemeinsam mit der Bäckerstochter Nele einem Bänkelsänger an, den sie für einen Gaukler, den grausamen Pirmin verlassen. Von ihrer gemeinsamen Zeit handelt das fünfte Kapitel "Hunger". Kehlmann erzählt nicht chronologisch, trotzdem kann man der Handlung gut folgen - einige Figuren tauchen ebenso wie Tyll immer wieder auf. So wie Liz - Elisabeth Stuart, in deren Exil in Den Haag der Narr gemeinsam mit Nele eine Zeitlang verbracht hat (Kapitel 4) - auf diese Idee hat sie Pirmin gebracht, der als Schausteller mit dem jungen Kurprinzen Friedrich nach England gereist ist.

"Es hatte eine seltsame Bewandtnis mit diesem Narren. Das hatte sie [Liz] sofort gespürt, damals, als er aufgetaucht war, letzten Winter, als die Tage besonders kalt gewesen waren und das Leben noch ärmlicher als sonst. Da waren die beiden mit einem Mal vor ihrer Tür gestanden, der dürre junge Mann im bunten Wams und die großgewachsene Frau. (...) Aber als sie ihr vorgetanzt hatten, war da eine Harmonie gewesen, ein Gleichklang der Stimmen und der Leiben wie sie es nie erlebt hatte, seit sie nicht mehr in England war." (S.236f.)

Liz steht auch im Mittelpunkt des letzten Kapitels "Westfalen",  das gleichzeitig auch die Verhandlungen zum westfälischen Frieden karikiert und in dem sich Tyll mit einem letzten Auftritt verabschiedet.

"Jeder will Gebiet, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar." (S.443)

Das dritte Kapitel "Zusmarshausen" gibt den Lebensbericht Martins von Wolkenstein wieder, den jener zu Beginn des 18.Jahrhunderts verfasst hat und der auf das Ende des 30-jährigen Krieges zurückblickt. Er soll den Tyll im Kloster Andechs finden, dahin hat sich jener nach dem Erlebnis im Schacht (Kapitel 7) zurückgezogen.

"Dieser Krieg war älter als er. Er war manchmal gewachsen und manchmal geschrumpft, er war hierhin und dorthin gekrochen, hatte den Norden verwüstet, sich nach Westen gewendet, hatte einen Arm nach Osten und einen in den Süden ausgestreckt, dann sein volles Gewicht in den Süden gewälzt, nur um sich so dann wieder für eine Weile im Norden niederzulassen." (S.193)

Gemeinsam geraten sie in die letzte große Schlacht des Krieges in Zusmarshausen. Der auktoriale Erzähler informiert uns, dass vieles im Lebensbericht fiktiv ist, fehlt oder verändert ist. Für die große Schlacht bedient sich Wolkenstein bei anderen Dichter - den Schrecken in eigene Worte fassen, vermag er nicht, im Gegensatz zu Kehlmann.

Bewertung
Ich habe den Roman mit meinen Mitleserinnen in nur vier Tagen "verschlungen", gemeinsam haben wir uns angespornt und sehr intensiv Nachrichten ausgetauscht. Wir waren wie in einem Sog, in den uns dieser hervorragend erzählte Roman gezogen hat.

Er hat mich veranlasst, die Hintergründe des 30-jährigen Krieges zu recherchieren, dessen Schrecken er sehr plastisch, manchmal aber auch nur andeutungsweise darstellt, wie Tylls schrecklichstes Kriegserlebnis.
Es ist ein echter Zeitroman, der das 17.Jahrhundert aufleben lässt, den Aberglauben und die Inquisition, die Armut, den Hunger, die Etikette der politischen Würdenträger.
Gleichzeitig zeigt er punktuell die machtpolitischen Verhältnisse auf, in dem er sich auf einige Schlüsselfiguren beschränkt.
Die Verknüpfungen zwischen diesen Figuren, die immer wieder auftauchen, allen voran der Tyll, haben mich besonders fasziniert. Der Roman ist wirklich meisterhaft komponiert.

Beim Austausch ist uns auch das Thema der subjektiven Wahrheit aufgefallen. So erinnern sich Liz und Friedrich ganz unterschiedlich an ihre Hochzeitsnacht, genau wie Tyll und Nele den Tod Pirmins konträr darstellen - wie sehr können wir uns auf unsere Erinnerung verlassen. Immer wieder taucht das Motiv des Vergessens auf, des sich nicht erinnern wollen, dabei ist die Erinnerung an die Geschichte, um aus ihr zu lernen, so wichtig. Eine Botschaft des Romans?

Ein anderes  Thema ist das Aufleben der deutschen Sprache in der Barockzeit, so ist der Dichter Paul Fleming mit Kircher unterwegs (Kapitel 6) und plädiert für den Gebrauch des Deutschen:

"Noch ist unsere Sprache eine Wirrnis aus Dialekten", sagte Fleming. "Weiß man im Satz nicht weiter, greift man sich das passende Wort aus dem Lateinischen oder Italienischen oder sogar Französischen, und die Sätze biegt man irgendwie nach lateinischer Manier zurecht. Aber das wird sich ändern! Man muss eine Sprache nähren und pflegen, man muss ihr helfen, auf dass sie gedeiht! Und ihr helfen, das heißt: dichten." (S.357)

Dass es sich verändert hat, zeigt Kehlmann eindrucksvoll mit diesem Roman.

Unbedingt lesen!

Hier geht es zu Miras Rezension.