- Abenteuerreisen zum Niger.
Taschenbuchausgabe, 575 Seiten
dtv Verlagsgesellschaft, 1. Juni 2015
Neuübersetzung
"Wassermusik" ist Boyles Debüt aus dem Jahr 1981 und hat ihn als amerikanischen Kultautor etabliert (Quelle: Klappentext).
Im Rahmen einer Leserunde auf whatchareadin haben wir uns gemeinsam diesem Erstlingswerk gewidmet und darüber diskutiert.
Inhalt
Im Mittelpunkt des Abenteuerromans stehen die Reisen des schottischen Entdeckers Mungo Park, dessen erklärtes Ziel es war, den Verlauf des Niger zu erkunden. Boyle hält sich weitestgehend an die historischen Daten der Reisen.
Der Roman beginnt während der ersten Reise (1795-1797), als Mungo in die Gefangenschaft der Mauren gerät.
"Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat ausbrachten, stellte Mungo Park seinen nackten Hintern vor al-Hadsch Ali ibn Fatoudi, dem Emir von Ludamar, zur Schau." (S.13)
Gequält wird er von Alis Scherge und menschlichem Schakal Dassoud, der ihn bis an sein Lebensende immer wieder verfolgen wird. Begleitet wird Mungo von einem Schwarzen - Johnson, der zunächst als Sklave in den USA Baumwolle gepflückt hat, unter glücklichen Umständen nach London gelangte und dort als Kammerdiener Sir Reginald Durfeys arbeitet. Er bringt sich selbst Griechisch und Latein bei, liest die Klassiker und erzählt seinem Herren vom schwarzen Kontinent.
Nachdem ihn ein britischer Gentleman beleidigt, tötet er diesen im Duell und wird nach Gorée deportiert. Er kann fliehen und kehrt in sein Heimatdorf Dindiku nach Westafrika zurück, wo Mungo ihn auf Vermittlung von Sir Durfeys für seine Reise als Dolmetscher mitnimmt.
Als Sekundant des Mannes, den er erschossen hat, dient Ned Rise. Ein Überlebenskünstler, Sohn einer Alkoholikeren, als Kind misshandelt und gedemütigt. Er lebt auf der Straße, als sich der Musiker Prentiss Barrenboyne seiner annimmt, ihm das Klarinette spielen beibringt und sieben gute Jahre beschert. Bis zu jenem Duell, in dem sein Gönner von Johnson getötet wird.
Abwechselnd erzählt Boyle vom abenteuerlichen Verlauf der Afrikareise und von Ned Rise schauerlichem und nicht weniger abenteuerlustigen Leben in London im Jahre 1795. Man fragt sich, wie die beiden Handlungsstränge zusammenlaufen werden.
Während Mungo der Gefangenschaft der Mauren entkommen kann, wartet seine Verlobte Ailie in Schottland sehnsüchtig auf ihn. Der Gehilfe ihres Vaters, der als Arzt tätig ist, Georgie Gleg umwirbt sie mit Gedichten, Liedern und Geschenken, ein linkischer Junge, mit Segelohren und Pferdegebiss. Wird sie auf Mungo warten?
Mungos und Johnsons Weg führt auf verwunschenen Pfaden bis nach Segu, wo der Entdecker voll Enthusiasmus zum ersten Mal in den Niger springt. Eigentlich ein erhebender Moment:
"Die Stimme des Entdeckers bebt und stockt, ein Schauer überläuft ihn. Die blaue Samtjacke hängt formlos und schwarz vor Nässe an ihm herab, sein Hemd ist mit Entengrütze gesprenkelt, seine Stiefel sind Fischteiche. Ein riesiger Wasserläufer hat sich im Bart verfangen und rudert mit seinen hässlichen Beinen." (S.144)
Boyle vermag erhebende Momente, derart komisch darzustellen, dass ich beim Lesen oft laut lachen musste. Bildlich lassen die Helden Zelte einstürzen, werden tiefgefroren in der Themse gefunden und flüchten auf abenteuerliche Art und Weise aus den Gefahrenzonen.
Am Ende des ersten Teils ist Johnson von einem Krokodil in die Tiefe gezogen worden.
Mungo musste aufgrund der einbrechenden Regenzeit umkehren und ihm gelingt im Dezember 1797 die Rückkehr nach England, wo er als Held gefeiert wird, während seine Verlobte Georgie Gleg versprochen hat, ihn an Weihnachten 1797 zu heiraten.
Ned Rise hingegen ist am Strang gestorben, zu oft hat er betrogen und mit dem Feuer gespielt.
Wie soll es weitergehen? Im 2.Teil, der in England und Schottland spielt, wird die zweite Afrikareise (1805-1806) Mungos vorbereitet, von der 3.Teil des Romans erzählt. Dabei warten einige Überraschungen und zahlreiche skurrile Szenen auf die Leser*innen.
Bewertung
Auf der Buchrückseite ist zu lesen, dass "Wassermusik" ein Meisterwerk sei, "in dem zwischen Absurdem und Komischem, bitterer Ernst lauert."
Treffender kann man es nicht ausdrücken. Die witzigen Szenen im Roman sind zahlreich, sie unterhalten, verführen beständig zum Weiterlesen, ebenso wie die verschiedenen Erzählstränge, die geschickt verflochten werden.
Unzählige kleine Geschichten entfaltet Boyle und gleichzeitig entsteht ein Bild Londons Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vor dem inneren Auge - man kann den Dreck auf den Straßen sehen, den bestialischen Gestank riechen und den Lärm der Kutschen und Menschen hören.
Genauso gut gelingt es Boyle die afrikanische Landschaft, die Hitze, die Feuchtigkeit erlebbar zu machen. Aber auch die vielfältigen Krankheiten, die sehr detailliert in ihren Auswirkungen beschrieben werden.
Die kulturellen Unterschiede werden thematisiert, genauso wie die Diskrepanz zwischen Erlebtem und dem Reisebericht, in dem vieles geschönt wird. Das Opfer an Menschen, die für die Expedition ihr Leben lassen oder zuhause leiden, wird ebenso wenig verschwiegen, wie Mungos Fehlentscheidungen auf der 2.Reise, sein Größenwahn und seine mangelnde Menschenkenntnis. Er ist kein strahlender Held, eher ein Mensch, der für sein Vorhaben über Leichen geht.
Aber auch gesellschaftliche Verhältnisse werden unter die Lupe genommen. So wie Ailie aus Langeweile mikroskopiert, so stellt Boyle die Situation in den Gefängnissen Londons detailliert dar, die Farce des Gerichtsprozesses von Ned Rise und die Perversionen der Oberschicht. Unter welch unwürdigen Umständen die Menschen teilweise gelebt haben - man mag es nicht glauben, Boyle kann es erzählen.
Diese Fülle an Geschichten, der Einfallsreichtum und die skurrilen Situationen, die Fähigkeit Situationen so zu beschreiben, dass die Leser*innen sie sehen, hören und riechen, sind der Grund, warum ich den Roman weiter gelesen habe. Interessant fand ich auch die historisch eingebetteten Informationen, die Beschreibung, wie eine Forschungsreise vor 200 Jahren ausgesehen hat - ohne die Möglichkeiten, wie wir sie heute kennen. Der schonungslose Blick auf die Gesellschaft auf beiden Kontinenten ist ebenfalls faszinierend und im Fall des Verhaltens der Weißen gegenüber den Schwarzen schockierend, aber wirklich berührt hat mich der Roman nicht.
Für mich ist es ein ideenreicher, detaillierter Abenteuerroman, der längst vergangene Zeiten wieder auferstehen lässt.
Ich möchte auf meinem Blog alle möglichen Bücher und Hörbücher vorstellen - quer durch alle Genres - ob Gegenwartsliteratur, Fantasy, Krimis, Liebesromane, historische Romane oder Romane gegen das Vergessen. Viel Spaß beim Lesen!
Dienstag, 25. Juli 2017
Samstag, 22. Juli 2017
Claire Fuller: Eine englische Ehe
- ein Liebesroman (?)
Hörbuch von Audible
gelesen von Heikko Deutschmann, Leslie Malton
9 Stunden 56 Minuten
Inhalt
Gil Coleman, ein bekannter Schriftsteller, steht in einer Buchhandlung und während er im Roman "Wer verändert war und wer gestorben war" blättert und dort einen Brief vom 2.Juli 1992 findet, der an ihn selbst gerichtet ist, sieht er draußen seine Frau Ingrid vorüber gehen. Ingrid, die vor 12 Jahren (1992) spurlos verschwunden ist. Ihre Sachen wurden am Nudistenstrand gefunden, unweit vom Haus, dem Swimming Pavilion, in dem sie mit ihren beiden Kindern, Flora (9) und Nan (15) gewohnt hat. Ingrid liebte es zu schwimmen und war eine hervorragende Schwimmerin.
Während er ihr folgt, lehnt er sich über die Balustrade zur Strandpromenade des kleinen englischen Dorfes und fällt. Aufgrund seiner Verletzung informiert Nan Flora, die inzwischen Kunst studiert und gerade einige Nächte mit Richard verbracht hat.
Kurz entschlossen leiht er ihr sein Auto und sie fährt zum Swimming Pavilion. Von ihrer Schwester Nan erfährt sie, dass ihr Vater sterbenskrank ist und die alten Fragen nach dem Verbleib ihrer Mutter tauchen wieder auf. Das Haus ist zudem in einem chaotischen Zustand. Überall sind Bücher zu Stapeln aufgetürmt. Folge der Leidenschaft Gils, der Bücher sammelt, in die die Leser*innen hineingeschrieben, gemalt oder beschriftete Notizzettel hinterlassen haben.
Schon in der Zeit als Literaturprofessor ist es seine feste Überzeugung, dass Belletristik Leser*innen braucht, findet ein Roman keine, ist er sinnlos. Es ist die eine Seite, was der Autor oder die Autorin mit dem Werk "aussagen" wollte, die andere, wichtigere, was macht der Roman mit den Leser*innen, was löst er aus, welche Gedanken und Gefühle haben sie beim Lesen?
Die Rückkehr in ihr Zuhause und die Tatsache, dass ihr Vater ihre Mutter gesehen hat, wirft bei Flora Fragen an die Vergangenheit auf. Und die Antworten sind so nah - in Briefen, die Ingrid im Sommer 1992 an Gil geschrieben hat. In der Zeit, in der er sie verlassen hatte, um in London zu sein.
Die Briefe sind in seinen Büchern versteckt, die Titel passen jeweils zum Inhalt des Briefes. Wer die Romane oder Sachbücher alle kennt, könnte sicherlich weitere Bezüge entdecken.
Die Briefe, die parallel zur Handlung der Gegenwart eingeschoben werden, decken Ingrids gemeinsame Vergangenheit mit Gil bis zu dem Zeitpunkt ihres Verschwindens auf und erklären, warum sie sich für diesen radikalen Schritt - ihre Kinder zu verlassen, entschieden hat.
Kennen gelernt hat Ingrid Gil Coleman als ihren Literaturprofessor. Die beiden verliebten sich und Gil hat offensiv um die junge, hübsche Frau, die gebürtig aus Norwegen stammt, geworben. Er nimmt sie mit in sein Haus, den Swimming Pavilion, den er von seinen Eltern geerbt hat und zu dem ein Schreibzimmer außerhalb des Hauses gehört - Rückzugsort für den Schriftsteller.
Sowohl Gils Freund Jonathan als auch Ingrids Freundin Louise warnen sie vor der Beziehung. Jonathan deutet an, dass Gil nicht treu sein wird, Louise erinnert sie an ihre Träume, die nicht darin bestehen, Ehefrau und Mutter zu werden. Doch dann wird Ingrid schwanger, Gil muss die Universität verlassen, Ingrid darf ihr Studium nicht zu Ende machen - es ist das Jahr 1976.
Die beiden heiraten und alles scheint gut zu sein, sie sind glücklich in ihrem Haus am Meer, auch wenn sie kein Geld haben. Partys werden gefeiert, bis das Baby - Nan - auf die Welt kommt und Ingrid merkt, dass ihr eine tiefe Bindung zu dem Kind fehlt. Ihr Lebenstraum scheint sich in Luft aufzulösen.
Während sich in der Gegenwart die Beziehung zwischen Flora und Richard, der in das Küstendorf gekommen ist, festigt, und Gil Richard bittet, nach seinem Tod alle Bücher zu verbrennen, reflektieren die Schwestern die Vergangenheit ihrer Eltern. Nan schenkt Flora endlich reinen Wein ein: Gil war ein Frauenheld. Doch das ist nicht der einzige Verrat an Ingrid.
Die Briefe zeigen schonungslos Gils rücksichtsloses Verhalten, aber auch seine Liebe zu Ingrid, die ihm nichts entgegensetzen kann. Weder kann sie ihn verlassen noch sich mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter abzufinden.
Am Ende schließt sich der Kreis zum Beginn des Romans und lässt die Leser*innen mit einigen Fragen zurück.
Bewertung
Der Roman hat mich an "Eine treue Frau" von Jane Gardam erinnert. Die Unfähigkeit ein neues Leben beginnen zu können, an der Ehe festzuhalten, obwohl Gefühle dagegen sprechen.
Nach den letzten Sätzen des Romans habe ich den Anfang wieder gehört und festgestellt, wie gut er komponiert er ist. Die Symbolik der flatternden Plastiktüte, der Roman, in dem der letzte Brief Ingrids zu finden ist - durchdacht.
Auch der Wechsel zwischen der Handlung der Gegenwart und den Briefen hat mir gut gefallen. Oft wird in der Gegenwart ein Thema angesprochen, wie der "blaue Babyschuh", dessen Bedeutung dann in einem Brief Ingrids erklärt wird. Auch dass die Briefe alle in anderen Büchern versteckt waren und die Titel jeweils zum Inhalt des Briefes gepasst haben, hat mich fasziniert.
Neben dem Aufbau und den intertextuellen Bezügen trägt vor allem die Frage, warum Ingrid verschwunden ist, durch die Handlung. Ihre Briefe - einfühlsam gelesen von Leslie Malton, sind so authentisch, so gefühlvoll formuliert, dass sie Verständnis für Ingrid hervorrufen und man als Leser*in mit ihr leidet und liebt. Sie ist eindeutig, neben Flora und Nan, die Sympathiefigur im Roman. Doch auch Gil erscheint nicht als reine Antipathiefigur - mit seinem Charme und seiner Liebe zu Ingrid, empfindet man trotz seiner Untreue und seines Verrates an Ingrid am Ende Mitleid mit ihm. Hat er aus seinen Fehlern gelernt? Zumindest war er nach Ingrids Verschwinden für die Mädchen da, ob er ein guter Vater war?
Das Ende wirft einige Fragen auf, hier wäre Platz für Notizen im Buch. 😉
Ein lesenswerter Roman, der mit den Reflexionen zu Lebensträumen und -wegen, zur Ehe und Freundschaft bei mir als Leserin Fragen zum eigenen Leben ausgelöst hat.
Laut Gil Coleman also ein guter Roman 😉.
Hörbuch von Audible
gelesen von Heikko Deutschmann, Leslie Malton
9 Stunden 56 Minuten
Inhalt
Gil Coleman, ein bekannter Schriftsteller, steht in einer Buchhandlung und während er im Roman "Wer verändert war und wer gestorben war" blättert und dort einen Brief vom 2.Juli 1992 findet, der an ihn selbst gerichtet ist, sieht er draußen seine Frau Ingrid vorüber gehen. Ingrid, die vor 12 Jahren (1992) spurlos verschwunden ist. Ihre Sachen wurden am Nudistenstrand gefunden, unweit vom Haus, dem Swimming Pavilion, in dem sie mit ihren beiden Kindern, Flora (9) und Nan (15) gewohnt hat. Ingrid liebte es zu schwimmen und war eine hervorragende Schwimmerin.
Während er ihr folgt, lehnt er sich über die Balustrade zur Strandpromenade des kleinen englischen Dorfes und fällt. Aufgrund seiner Verletzung informiert Nan Flora, die inzwischen Kunst studiert und gerade einige Nächte mit Richard verbracht hat.
Kurz entschlossen leiht er ihr sein Auto und sie fährt zum Swimming Pavilion. Von ihrer Schwester Nan erfährt sie, dass ihr Vater sterbenskrank ist und die alten Fragen nach dem Verbleib ihrer Mutter tauchen wieder auf. Das Haus ist zudem in einem chaotischen Zustand. Überall sind Bücher zu Stapeln aufgetürmt. Folge der Leidenschaft Gils, der Bücher sammelt, in die die Leser*innen hineingeschrieben, gemalt oder beschriftete Notizzettel hinterlassen haben.
Schon in der Zeit als Literaturprofessor ist es seine feste Überzeugung, dass Belletristik Leser*innen braucht, findet ein Roman keine, ist er sinnlos. Es ist die eine Seite, was der Autor oder die Autorin mit dem Werk "aussagen" wollte, die andere, wichtigere, was macht der Roman mit den Leser*innen, was löst er aus, welche Gedanken und Gefühle haben sie beim Lesen?
Die Rückkehr in ihr Zuhause und die Tatsache, dass ihr Vater ihre Mutter gesehen hat, wirft bei Flora Fragen an die Vergangenheit auf. Und die Antworten sind so nah - in Briefen, die Ingrid im Sommer 1992 an Gil geschrieben hat. In der Zeit, in der er sie verlassen hatte, um in London zu sein.
Die Briefe sind in seinen Büchern versteckt, die Titel passen jeweils zum Inhalt des Briefes. Wer die Romane oder Sachbücher alle kennt, könnte sicherlich weitere Bezüge entdecken.
Die Briefe, die parallel zur Handlung der Gegenwart eingeschoben werden, decken Ingrids gemeinsame Vergangenheit mit Gil bis zu dem Zeitpunkt ihres Verschwindens auf und erklären, warum sie sich für diesen radikalen Schritt - ihre Kinder zu verlassen, entschieden hat.
Kennen gelernt hat Ingrid Gil Coleman als ihren Literaturprofessor. Die beiden verliebten sich und Gil hat offensiv um die junge, hübsche Frau, die gebürtig aus Norwegen stammt, geworben. Er nimmt sie mit in sein Haus, den Swimming Pavilion, den er von seinen Eltern geerbt hat und zu dem ein Schreibzimmer außerhalb des Hauses gehört - Rückzugsort für den Schriftsteller.
Sowohl Gils Freund Jonathan als auch Ingrids Freundin Louise warnen sie vor der Beziehung. Jonathan deutet an, dass Gil nicht treu sein wird, Louise erinnert sie an ihre Träume, die nicht darin bestehen, Ehefrau und Mutter zu werden. Doch dann wird Ingrid schwanger, Gil muss die Universität verlassen, Ingrid darf ihr Studium nicht zu Ende machen - es ist das Jahr 1976.
Die beiden heiraten und alles scheint gut zu sein, sie sind glücklich in ihrem Haus am Meer, auch wenn sie kein Geld haben. Partys werden gefeiert, bis das Baby - Nan - auf die Welt kommt und Ingrid merkt, dass ihr eine tiefe Bindung zu dem Kind fehlt. Ihr Lebenstraum scheint sich in Luft aufzulösen.
Während sich in der Gegenwart die Beziehung zwischen Flora und Richard, der in das Küstendorf gekommen ist, festigt, und Gil Richard bittet, nach seinem Tod alle Bücher zu verbrennen, reflektieren die Schwestern die Vergangenheit ihrer Eltern. Nan schenkt Flora endlich reinen Wein ein: Gil war ein Frauenheld. Doch das ist nicht der einzige Verrat an Ingrid.
Die Briefe zeigen schonungslos Gils rücksichtsloses Verhalten, aber auch seine Liebe zu Ingrid, die ihm nichts entgegensetzen kann. Weder kann sie ihn verlassen noch sich mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter abzufinden.
Am Ende schließt sich der Kreis zum Beginn des Romans und lässt die Leser*innen mit einigen Fragen zurück.
Bewertung
Der Roman hat mich an "Eine treue Frau" von Jane Gardam erinnert. Die Unfähigkeit ein neues Leben beginnen zu können, an der Ehe festzuhalten, obwohl Gefühle dagegen sprechen.
Nach den letzten Sätzen des Romans habe ich den Anfang wieder gehört und festgestellt, wie gut er komponiert er ist. Die Symbolik der flatternden Plastiktüte, der Roman, in dem der letzte Brief Ingrids zu finden ist - durchdacht.
Auch der Wechsel zwischen der Handlung der Gegenwart und den Briefen hat mir gut gefallen. Oft wird in der Gegenwart ein Thema angesprochen, wie der "blaue Babyschuh", dessen Bedeutung dann in einem Brief Ingrids erklärt wird. Auch dass die Briefe alle in anderen Büchern versteckt waren und die Titel jeweils zum Inhalt des Briefes gepasst haben, hat mich fasziniert.
Neben dem Aufbau und den intertextuellen Bezügen trägt vor allem die Frage, warum Ingrid verschwunden ist, durch die Handlung. Ihre Briefe - einfühlsam gelesen von Leslie Malton, sind so authentisch, so gefühlvoll formuliert, dass sie Verständnis für Ingrid hervorrufen und man als Leser*in mit ihr leidet und liebt. Sie ist eindeutig, neben Flora und Nan, die Sympathiefigur im Roman. Doch auch Gil erscheint nicht als reine Antipathiefigur - mit seinem Charme und seiner Liebe zu Ingrid, empfindet man trotz seiner Untreue und seines Verrates an Ingrid am Ende Mitleid mit ihm. Hat er aus seinen Fehlern gelernt? Zumindest war er nach Ingrids Verschwinden für die Mädchen da, ob er ein guter Vater war?
Das Ende wirft einige Fragen auf, hier wäre Platz für Notizen im Buch. 😉
Ein lesenswerter Roman, der mit den Reflexionen zu Lebensträumen und -wegen, zur Ehe und Freundschaft bei mir als Leserin Fragen zum eigenen Leben ausgelöst hat.
Laut Gil Coleman also ein guter Roman 😉.
Donnerstag, 20. Juli 2017
Susann Pásztor: Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
- ein einfühlsame Geschichte über eine Sterbende und ihren Begleiter.
Gebundene Ausgabe, 288 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 16.Februar 2017
Inhalt
Im Zentrum der Geschichte stehen drei Personen, aus deren Perspektive in der Er/Sie-Form die Handlung abwechselnd erzählt wird.
Karla Jenner-García ist eine Frau über 60 Jahre und unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Die Chemotherapie hat sie abgebrochen, ihr bleiben noch etwa 5-6 Monate zu leben. Sie ist schmal, blass und geht immer barfuß.
Jahrelang hat sie in Ibizia und Formentera gelebt, zuletzt Immobilien mit ihrem spanischen Mann verkauft, so dass sie keine finanziellen Nöte hat.
Da sie keine Familie und den Kontakt mit ihrer Schwester vor 40 (!) Jahren abgebrochen hat und nicht in ein Hopiz will, hat sie sich für eine Sterbebegleitung zuhause entschieden.
Fred Wiener übernimmt diese Aufgabe, ein ca. 40 Jahre alter Mann, geschieden, übergewichtig und überpünktlich. Es ist seine erste Sterbebegleitung - sein Versuch einen Sinn im Leben zu finden?
"Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, Anfahrtszeiten so großzügig zu kalkulieren, dass ihm bei der Ankunft noch genügend Zeit zur Orientierung bleib. Das gab ihm Sicherheit." (S.7)
Ihr erstes Zusammentreffen, in dem Fred sich angestrengt bemüht, eine Unterhaltung zu bestreiten, verläuft schwierig.
"Tun sie mir den Gefallen und hören Sie bitte mit dieser Scheißkonversation auf." Sie sagte es nicht unfreundlich, aber bestimmt." (S.14)
Karla bleibt unzugänglich, lässt sich aber zunächst auf die Begleitung ein.
Phil Wiener ist Freds Sohn und ein Einzelgänger, ein 13-jähriger, der Gedichte liest und verfasst.
Er hat sich bereits als Achtjähriger ein ein "Wörterkrankenhaus" ausgedacht, es
"bestand aus einer dreibändigen handschriftlichen Sammlung von Wörtern, die Phils Meinung nach vorübergehend längerfristig oder, wenn sie unheilbar erkrankt waren, auch endgültig aus dem Verkehr gezogen werden mussten." (S.26)
Er lebt nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Vater, seine esoterisch veranlagte Mutter schickt ihm Wachstumselixier und versucht, ihn mit positiver Energie per Telefon zu versorgen. Phil hasst es und bringt in seinen Gedichten seine Gefühle deutlich zum Ausdruck.
Karla war in den 80/90er Jahren ein Groupie der Band "The Grateful Dead" und hat unzählige hochwertige Fotographien aus dieser Zeit, die Phil digitalisieren soll. So lernen sich beide kennen und behutsam baut sich eine Freundschaft zwischen den beiden auf, da Karla Phil so sieht, wie er wahrgenommen werden möchte und er ihren Wunsch nach Ruhe akzeptiert.
Gleichzeitig verändert sich auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn.
Auch Karla schreibt Gedichte, Wortlisten, die mehr über sie verraten, als die Gespräche, die sie führt.
"otto verschont
gudrun vertraut
meiner kunst nicht vertraut
zweimal abgetrieben
mit dem fotografieren aufgehört
joaquín verlassen
chemo besseres wissen
weitere idiotische fehlentscheidungen
vielleicht sterbebegleiter engagiert
kinderarbeitgeberin geworden" (S.79)
Zwei Kapitel sind aus der Perspektive von Karlas Schwester Gudrun verfasst, die Leser*innen ahnen, welche Familientragödie sich abgespielt hat - Mutter weggelaufen, Vater Alkoholiker, Schwester frisst sich einen Schutzwall an, Karla muss für den Vater tanzen...der Rest bleibt offen und der Fantasie der Lese*innen überlassen.
Im Haus, in dem sich Karlas Wohnung befindet, wohnt auch Leo Klaffki, allein stehender, älterer Herr und bekennender Werder-Fan und Hundebesitzer, der sich ebenso um sie sorgt und an Freds Seite steht. Genauso wie die junge Reno, in die sich Phil verliebt. Sie lassen sich nicht von Karlas spröder und zugänglicher Art abschrecken.
Fred startet einen Versuch, die Schwestern an Weihnachten zu versöhnen. Ob das gelingen kann? Ob Karla diesen Übergriff verzeiht?
Bewertung
Susann Pásztor hat selbst eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist ehrenamtlich tätig (Quelle: Klappentext). Diese Erfahrung wird im Roman erlebbar.
Das Ende Karlas ist absehbar und der Sterbeprozess wird sensibel und sehr berührend geschildert, Szenen, die wirklich ans Herz gehen, ohne kitschig zu sein.
Ein trauriger, aber auch sehr schöner Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger deutlich macht, dass das Sterben zum Leben gehört und jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, selbst zu entscheiden, wann und wie er gehen möchte.
"Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster", damit die Seele den Körper verlassen kann.
Neben der Thematik Sterben (begleiten) steht die Beziehung zwischen Phil und seinem Vater im Fokus. Die Arbeit für Karla eröffnet dem Jungen die Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden, festigt sein Selbstvertrauen und der Vater erkennt das Potential seines Sohnes. Doch auch Fred geht nicht unverändert aus dieser Begleitung hervor, die Erfahrungen erweitern auch seinen Horizont.
Ein lesenswerter Roman, der lange nachhallt.
Gebundene Ausgabe, 288 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 16.Februar 2017
Inhalt
Im Zentrum der Geschichte stehen drei Personen, aus deren Perspektive in der Er/Sie-Form die Handlung abwechselnd erzählt wird.
Karla Jenner-García ist eine Frau über 60 Jahre und unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Die Chemotherapie hat sie abgebrochen, ihr bleiben noch etwa 5-6 Monate zu leben. Sie ist schmal, blass und geht immer barfuß.
Jahrelang hat sie in Ibizia und Formentera gelebt, zuletzt Immobilien mit ihrem spanischen Mann verkauft, so dass sie keine finanziellen Nöte hat.
Da sie keine Familie und den Kontakt mit ihrer Schwester vor 40 (!) Jahren abgebrochen hat und nicht in ein Hopiz will, hat sie sich für eine Sterbebegleitung zuhause entschieden.
Fred Wiener übernimmt diese Aufgabe, ein ca. 40 Jahre alter Mann, geschieden, übergewichtig und überpünktlich. Es ist seine erste Sterbebegleitung - sein Versuch einen Sinn im Leben zu finden?
"Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, Anfahrtszeiten so großzügig zu kalkulieren, dass ihm bei der Ankunft noch genügend Zeit zur Orientierung bleib. Das gab ihm Sicherheit." (S.7)
Ihr erstes Zusammentreffen, in dem Fred sich angestrengt bemüht, eine Unterhaltung zu bestreiten, verläuft schwierig.
"Tun sie mir den Gefallen und hören Sie bitte mit dieser Scheißkonversation auf." Sie sagte es nicht unfreundlich, aber bestimmt." (S.14)
Karla bleibt unzugänglich, lässt sich aber zunächst auf die Begleitung ein.
Phil Wiener ist Freds Sohn und ein Einzelgänger, ein 13-jähriger, der Gedichte liest und verfasst.
Er hat sich bereits als Achtjähriger ein ein "Wörterkrankenhaus" ausgedacht, es
"bestand aus einer dreibändigen handschriftlichen Sammlung von Wörtern, die Phils Meinung nach vorübergehend längerfristig oder, wenn sie unheilbar erkrankt waren, auch endgültig aus dem Verkehr gezogen werden mussten." (S.26)
Er lebt nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Vater, seine esoterisch veranlagte Mutter schickt ihm Wachstumselixier und versucht, ihn mit positiver Energie per Telefon zu versorgen. Phil hasst es und bringt in seinen Gedichten seine Gefühle deutlich zum Ausdruck.
Karla war in den 80/90er Jahren ein Groupie der Band "The Grateful Dead" und hat unzählige hochwertige Fotographien aus dieser Zeit, die Phil digitalisieren soll. So lernen sich beide kennen und behutsam baut sich eine Freundschaft zwischen den beiden auf, da Karla Phil so sieht, wie er wahrgenommen werden möchte und er ihren Wunsch nach Ruhe akzeptiert.
Gleichzeitig verändert sich auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn.
Auch Karla schreibt Gedichte, Wortlisten, die mehr über sie verraten, als die Gespräche, die sie führt.
"otto verschont
gudrun vertraut
meiner kunst nicht vertraut
zweimal abgetrieben
mit dem fotografieren aufgehört
joaquín verlassen
chemo besseres wissen
weitere idiotische fehlentscheidungen
vielleicht sterbebegleiter engagiert
kinderarbeitgeberin geworden" (S.79)
Zwei Kapitel sind aus der Perspektive von Karlas Schwester Gudrun verfasst, die Leser*innen ahnen, welche Familientragödie sich abgespielt hat - Mutter weggelaufen, Vater Alkoholiker, Schwester frisst sich einen Schutzwall an, Karla muss für den Vater tanzen...der Rest bleibt offen und der Fantasie der Lese*innen überlassen.
Im Haus, in dem sich Karlas Wohnung befindet, wohnt auch Leo Klaffki, allein stehender, älterer Herr und bekennender Werder-Fan und Hundebesitzer, der sich ebenso um sie sorgt und an Freds Seite steht. Genauso wie die junge Reno, in die sich Phil verliebt. Sie lassen sich nicht von Karlas spröder und zugänglicher Art abschrecken.
Fred startet einen Versuch, die Schwestern an Weihnachten zu versöhnen. Ob das gelingen kann? Ob Karla diesen Übergriff verzeiht?
Bewertung
Susann Pásztor hat selbst eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist ehrenamtlich tätig (Quelle: Klappentext). Diese Erfahrung wird im Roman erlebbar.
Das Ende Karlas ist absehbar und der Sterbeprozess wird sensibel und sehr berührend geschildert, Szenen, die wirklich ans Herz gehen, ohne kitschig zu sein.
Ein trauriger, aber auch sehr schöner Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger deutlich macht, dass das Sterben zum Leben gehört und jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, selbst zu entscheiden, wann und wie er gehen möchte.
"Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster", damit die Seele den Körper verlassen kann.
Neben der Thematik Sterben (begleiten) steht die Beziehung zwischen Phil und seinem Vater im Fokus. Die Arbeit für Karla eröffnet dem Jungen die Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden, festigt sein Selbstvertrauen und der Vater erkennt das Potential seines Sohnes. Doch auch Fred geht nicht unverändert aus dieser Begleitung hervor, die Erfahrungen erweitern auch seinen Horizont.
Ein lesenswerter Roman, der lange nachhallt.
Mittwoch, 19. Juli 2017
Tana French: Gefrorener Schrei
- ein packender Psychokrimi.
Taschenbuch, 656 Seiten
Fischer Scherz, 29. Dezember 2016
Gefrorener Schrei ist der 6. Kriminalroman Tana Frenchs, der in Irland spielt. Während in den ersten vier Romanen die Ermittler*innen wechseln und immer eine Figur aus den vorherigen Band wieder eine Rolle spielt, durchbricht sie im vorliegenden Roman dieses Muster.
Die ermittelnden Detectives sind die gleichen wie in "Geheimer Ort", nämlich Antoinette Conway und Stephen Moran, mit dem Unterschied, dass die Handlung dieses Mal ausschließlich aus der Ich-Perpektive Conways erzählt wird.
Inhalt
Antoinette Conway ist die einzige Frau im Morddezernat in Dublin. Seit sie gemeinsam mit Stephen Moran den Fall im Mädcheninternat gelöst hat (Geheimer Ort), sind die beiden ein Team. Während Stephen ein Sonnenschein ist und dazu gehören will, ihr gegenüber aber loyal ist, wird sie ausgegrenzt und jemand oder mehrere behindern ganz offensichtlich ihre Arbeit - Dokumente verschwinden, Mitteilungen werden nicht weitergeleitet, in ihr Spind wurde uriniert.
"Im Grunde aber ging es nicht darum, dass ich eine Frau bin. Das war bloß ihr Ansatzpunkt, bloß der Umstand, von dem sie glaubten, er würde, müsste es ihnen leichtmachen, mich herumzuschubsen. Im Grunde war es einfach. Es ging um genau dasselbe wie in der Grundschule, als Irland noch schneeweiß, ich das einzige in bisschen dunklere Kind in der Klasse und mein allererster Spitzname Kackgesicht war." (S.56)
Trotzdem gibt sie nicht auf, obwohl sie mit dem Gedanken spielt, in ein privates Wachunternehmen zu wechseln, denn sie glaubt, alle seien gegen sie. Kann sie ihrem Partner wirklich vertrauen?
Im vorliegenden Mordfall geht es die junge Aislinn Murray, die tot in ihrer Wohnung gefunden wird, nachdem ein anonymer Anruf auf der Polizeiwache eingeht. Gefallen auf die Sockelplatte ihres Kamins - Schädelbruch. Der Tisch festlich gedeckt für ein Candlelight-Dinner. Die Sachlage scheint klar zu sein - eine Beziehungstat.
Warum stellt der Superintendent O´Kelly dem Team Conway und Moran dann den erfahrenen Detective Breslin zur Seite? Wenn der Fall doch so klar erscheint? Vor Ort und nach dem Gespräch mit der besten Freundin des Opfers, Lucy, tauchen weitere Fragezeichen auf. Lucy bringt einen geheimnisvollen Lover ins Spiel, nicht der Mann, der zum Essen eingeladen war - Rory Fallon, Besitzer einer Buchhandlung.
Er ist zunächst der einzige Verdächtige, wirkt jedoch kaum wie jemand, der im Affekt eine junge Frau niederschlägt. Trotzdem will Breslin ihn möglichst schnell dingfest machen - Conway und Moran hegen jedoch erhebliche Zweifel an der Schuld Fallons.
Sie erwägen eine andere Theorie - Aislinns geheimer Lover könnte ein Krimineller sein, der eine Verbindung zur Polizei, vielleicht zu Breslin selbst hat.
Auch Breslins Partner McCann verhält sich eigenartig. Zudem finden Conway und Moran heraus, dass er vor langer Zeit das Verschwinden von Aislinns Vater untersucht hat - ein Umstand, der für den Fall noch wichtig werden wird.
Der aber auch die Wahrnehmung Conways beeinflusst, deren Vater selbst unbekannt ist und nie versucht hat, einen Kontakt zu ihr herzustellen. Immer verzwickter erscheint dieser Fall und hält einige unerwartete Wendungen bereit.
Bewertung
Der Fall ist spannend - keine Frage. Doch die Besonderheit dieses Krimis ist die Ich-Perspektive von Detective Conway - mit ihren messerscharfen Schlussfolgerungen einerseits, aber auch mit ihrer Unsicherheit, ihren Ängsten andererseits. Ihr Denken wird davon bestimmt, dass ihr im Dezernat jeder Böses will, sogar ihren Partner verdächtigt sie illoyal zu sein. Ständig fühlt sie sich beobachtet, ausgegrenzt. Auf wen kann sie sich verlassen?
Sie will mit aller Macht die starke, unangreifbare Frau sein, die niemanden an sich heran lässt und genau das scheint ihre größte Schwäche zu sein.
Der schmale Grat zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wahrheit, die permanente Verschiebung dieser Linie machen den besonderen Reiz dieses Krimis aus.
Bei Tana French ist psychologisch anspruchsvolle und unterhaltsame Kriminalliteratur garantiert!
Taschenbuch, 656 Seiten
Fischer Scherz, 29. Dezember 2016
Gefrorener Schrei ist der 6. Kriminalroman Tana Frenchs, der in Irland spielt. Während in den ersten vier Romanen die Ermittler*innen wechseln und immer eine Figur aus den vorherigen Band wieder eine Rolle spielt, durchbricht sie im vorliegenden Roman dieses Muster.
Die ermittelnden Detectives sind die gleichen wie in "Geheimer Ort", nämlich Antoinette Conway und Stephen Moran, mit dem Unterschied, dass die Handlung dieses Mal ausschließlich aus der Ich-Perpektive Conways erzählt wird.
Inhalt
Antoinette Conway ist die einzige Frau im Morddezernat in Dublin. Seit sie gemeinsam mit Stephen Moran den Fall im Mädcheninternat gelöst hat (Geheimer Ort), sind die beiden ein Team. Während Stephen ein Sonnenschein ist und dazu gehören will, ihr gegenüber aber loyal ist, wird sie ausgegrenzt und jemand oder mehrere behindern ganz offensichtlich ihre Arbeit - Dokumente verschwinden, Mitteilungen werden nicht weitergeleitet, in ihr Spind wurde uriniert.
"Im Grunde aber ging es nicht darum, dass ich eine Frau bin. Das war bloß ihr Ansatzpunkt, bloß der Umstand, von dem sie glaubten, er würde, müsste es ihnen leichtmachen, mich herumzuschubsen. Im Grunde war es einfach. Es ging um genau dasselbe wie in der Grundschule, als Irland noch schneeweiß, ich das einzige in bisschen dunklere Kind in der Klasse und mein allererster Spitzname Kackgesicht war." (S.56)
Trotzdem gibt sie nicht auf, obwohl sie mit dem Gedanken spielt, in ein privates Wachunternehmen zu wechseln, denn sie glaubt, alle seien gegen sie. Kann sie ihrem Partner wirklich vertrauen?
Im vorliegenden Mordfall geht es die junge Aislinn Murray, die tot in ihrer Wohnung gefunden wird, nachdem ein anonymer Anruf auf der Polizeiwache eingeht. Gefallen auf die Sockelplatte ihres Kamins - Schädelbruch. Der Tisch festlich gedeckt für ein Candlelight-Dinner. Die Sachlage scheint klar zu sein - eine Beziehungstat.
Warum stellt der Superintendent O´Kelly dem Team Conway und Moran dann den erfahrenen Detective Breslin zur Seite? Wenn der Fall doch so klar erscheint? Vor Ort und nach dem Gespräch mit der besten Freundin des Opfers, Lucy, tauchen weitere Fragezeichen auf. Lucy bringt einen geheimnisvollen Lover ins Spiel, nicht der Mann, der zum Essen eingeladen war - Rory Fallon, Besitzer einer Buchhandlung.
Er ist zunächst der einzige Verdächtige, wirkt jedoch kaum wie jemand, der im Affekt eine junge Frau niederschlägt. Trotzdem will Breslin ihn möglichst schnell dingfest machen - Conway und Moran hegen jedoch erhebliche Zweifel an der Schuld Fallons.
Sie erwägen eine andere Theorie - Aislinns geheimer Lover könnte ein Krimineller sein, der eine Verbindung zur Polizei, vielleicht zu Breslin selbst hat.
Auch Breslins Partner McCann verhält sich eigenartig. Zudem finden Conway und Moran heraus, dass er vor langer Zeit das Verschwinden von Aislinns Vater untersucht hat - ein Umstand, der für den Fall noch wichtig werden wird.
Der aber auch die Wahrnehmung Conways beeinflusst, deren Vater selbst unbekannt ist und nie versucht hat, einen Kontakt zu ihr herzustellen. Immer verzwickter erscheint dieser Fall und hält einige unerwartete Wendungen bereit.
Bewertung
Der Fall ist spannend - keine Frage. Doch die Besonderheit dieses Krimis ist die Ich-Perspektive von Detective Conway - mit ihren messerscharfen Schlussfolgerungen einerseits, aber auch mit ihrer Unsicherheit, ihren Ängsten andererseits. Ihr Denken wird davon bestimmt, dass ihr im Dezernat jeder Böses will, sogar ihren Partner verdächtigt sie illoyal zu sein. Ständig fühlt sie sich beobachtet, ausgegrenzt. Auf wen kann sie sich verlassen?
Sie will mit aller Macht die starke, unangreifbare Frau sein, die niemanden an sich heran lässt und genau das scheint ihre größte Schwäche zu sein.
Der schmale Grat zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wahrheit, die permanente Verschiebung dieser Linie machen den besonderen Reiz dieses Krimis aus.
Bei Tana French ist psychologisch anspruchsvolle und unterhaltsame Kriminalliteratur garantiert!
Dienstag, 4. Juli 2017
Lena Andersson: Unvollkommene Verbindlichkeiten
- eine obsessive Liebesbeziehung.
Gebundene Ausgabe, 380 Seiten
Luchterhand, 10.April 2017
Ich danke dem Bloggerportal für dieses Leseexemplar.
Widerrechtliche Inbesitznahme heißt der erste Roman, der sich um die Protagonistin Ester Nilsson und ihre unerwiderte Liebe zu einem Mann dreht. Mich hat er begeistert, auch wegen der außergewöhnlichen Sprache und den philosophischen Reflexionen über die Liebe und die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Aus diesem Grund war ich besonders neugierig auf "Unvollkommene Verbindlichkeiten" und wollte wissen, wie Ester Nilssons nächste Beziehung fünf Jahre später aussehen wird.
Inhalt
Sie verliebt sich in einen älteren, verheirateten Mann, Olof Sten, einen Schauspieler, der in ihrem Stück "Dreisamkeit" eine Hauptrolle innehat. Dieses Mal will sie von Anfang an Klarheit schaffen und konfrontiert ihn mit ihrer Liebe:
"Ich will mein Leben mit dir teilen." (S.18)
Es sagt nicht Nein, doch im Laufe ihrer Beziehung, die sich schließlich über mehr als drei Jahre erstreckt, macht er mehrmals deutlich, dass er seine Frau nicht verlassen will, während Ester immer wieder hofft, dass er es sich anders überlegen wird, obwohl ihre anfänglichen Betrachtungen auf das Gegenteil hinweisen:
"Olof und Ester waren wie zwei Zahnräder. Zahnräder verwachsen nicht miteinander. Sie treiben einander lediglich an. So kam es Ester jedenfalls vor. Allein ist ein Zahnrad einfach ein gezackter, stillstehender Gegenstand ohne Sinn und Zweck, was an sich nicht weiter schlimm ist. Aber um Bewegung zu erzeugen und das dem Zahnrad innewohnende Potential auszuschöpfen, braucht man zwei. Leider funktioniert es auch zu dritt, rein mechanisch geht das sogar ganz hervorragend." (S.13)
Olof ist nicht in der Lage, sich zu entscheiden, immer wieder gibt er Ester zu verstehen, dass er seine Frau nicht verlassen will, macht mit ihr Schluss, um sich dann doch wieder zu melden und erneut eine Beziehung zu beginnen - und das sogar im Jahreszeitenrhythmus.
Und Ester? Nimmt alles hin, verzeiht, liebt und lässt sich wie ein Hund behandeln. Deutet seine Äußerungen und glaubt immer wieder, es gäbe eine Entwicklung und seine Ehe stünde kurz vor dem Aus. Dennoch durchschaut sie sein Handeln, ohne ihres zu verändern:
"In dir gibt es ein Konto mit automatischen Überweisungen. Du kennst deinen Saldo bis auf die Öre genau, und davon ausgehend entscheidest du, wie du dich mir gegenüber verhalten sollst. Jedenfalls musst du einzahlen oder abheben. Oder du kannst es auch lassen, falls du rücksichtsvoll sein musst oder spöttisch, kalt und gleichgültig sein willst. Alle Menschen haben so ein Konto, alle Menschen passen auf, wo die Grenzen dafür verlaufen, wann man sich anstrengen muss und wann man sich zurücklehnen kann, wann man abheben kann und wann man einzahlen muss." (S.221)
Olof ist berechnend, er kommt Ester entgegen, wenn sie Kälte zeigt, unterwirft sie sich ihm, behandelt er sie wie der letzte Dreck.
Das ist sehr ermüdend zu lesen, trotz der interessanten philosophischen Betrachtungen. In der Mitte des Romans hatte ich den Impuls, einfach aufzuhören, doch ich war neugierig, ob der ewige Kreislauf durchbrochen wird. Irgendwann ist es dann auch soweit und Ester wagt einen radikalen Schritt.
"Und zum ersten Mal verlor sie den Respekt vor ihm. Diese ausgleichende Unterwürfigkeit, die er hier vorführte, da er sich dazu gezwungen fühlte, gehörte zu den bedrückendsten Dingen, die sie je erlebt hatte. Die aggressiven Schmeicheleien ekelten sie ebenso an wie seine feindselige Abweisung, aber ganz besonders widerlich fand sie sein pathologisches Pendeln zwischen beiden Extremen. (S.330)
Bewertung
Der intellektuelle Roman bietet tiefe Einsichten in die Natur der unerfüllten und unentschiedenen Liebe. Am Beispiel von Olof und Ester erkennt man den, der an der bewährten Beziehung festhalten will und trotzdem die Affäre mit der Geliebten genießt, und diejenige, die an der Hoffnung, aus ihrer Geliebtenrolle in die der Gattin zu wechseln, zugrunde geht.
Esters Verhalten, immer zu verzeihen, alles für den Geliebten zu tun, sich wirklich wie ein Hund behandeln zu lassen, ist über diese Länge fast nicht zu ertragen. Mehrmals dachte ich, ich kann das nicht weiterlesen, wollte dann aber doch wissen, ob ihre eine Befreiung gelingt. Ihre Unfähigkeit, die Unmenschlichkeit Olofs als solche anzuerkennen, die permanente Deutung seine Äußerung sind meines Erachtens "too much".
Wäre der Roman 150 Seiten kürzer, die "Affäre" dichter geschildert, hätte das der Handlung gut getan. Der Schluss entschädigt etwas für die Länge im Mittelteil.
Empfehlenswert? Wem die Darstellung einer aufopferungsvollen Liebe, eines sich wiederholendes Beziehungsmusters und philosophischen Betrachtungen darüber gefällt, wird vom Roman begeistert sein. Mich hat er nicht überzeugt, obwohl die Reflexionen über solche eine Beziehung interessant sind, behindern sie den Handlungsfluss und führen zu einer völligen Distanzierung - und das bei einer Liebesgeschichte ;)
Gebundene Ausgabe, 380 Seiten
Luchterhand, 10.April 2017
Ich danke dem Bloggerportal für dieses Leseexemplar.
Widerrechtliche Inbesitznahme heißt der erste Roman, der sich um die Protagonistin Ester Nilsson und ihre unerwiderte Liebe zu einem Mann dreht. Mich hat er begeistert, auch wegen der außergewöhnlichen Sprache und den philosophischen Reflexionen über die Liebe und die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Aus diesem Grund war ich besonders neugierig auf "Unvollkommene Verbindlichkeiten" und wollte wissen, wie Ester Nilssons nächste Beziehung fünf Jahre später aussehen wird.
Inhalt
Sie verliebt sich in einen älteren, verheirateten Mann, Olof Sten, einen Schauspieler, der in ihrem Stück "Dreisamkeit" eine Hauptrolle innehat. Dieses Mal will sie von Anfang an Klarheit schaffen und konfrontiert ihn mit ihrer Liebe:
"Ich will mein Leben mit dir teilen." (S.18)
Es sagt nicht Nein, doch im Laufe ihrer Beziehung, die sich schließlich über mehr als drei Jahre erstreckt, macht er mehrmals deutlich, dass er seine Frau nicht verlassen will, während Ester immer wieder hofft, dass er es sich anders überlegen wird, obwohl ihre anfänglichen Betrachtungen auf das Gegenteil hinweisen:
"Olof und Ester waren wie zwei Zahnräder. Zahnräder verwachsen nicht miteinander. Sie treiben einander lediglich an. So kam es Ester jedenfalls vor. Allein ist ein Zahnrad einfach ein gezackter, stillstehender Gegenstand ohne Sinn und Zweck, was an sich nicht weiter schlimm ist. Aber um Bewegung zu erzeugen und das dem Zahnrad innewohnende Potential auszuschöpfen, braucht man zwei. Leider funktioniert es auch zu dritt, rein mechanisch geht das sogar ganz hervorragend." (S.13)
Olof ist nicht in der Lage, sich zu entscheiden, immer wieder gibt er Ester zu verstehen, dass er seine Frau nicht verlassen will, macht mit ihr Schluss, um sich dann doch wieder zu melden und erneut eine Beziehung zu beginnen - und das sogar im Jahreszeitenrhythmus.
Und Ester? Nimmt alles hin, verzeiht, liebt und lässt sich wie ein Hund behandeln. Deutet seine Äußerungen und glaubt immer wieder, es gäbe eine Entwicklung und seine Ehe stünde kurz vor dem Aus. Dennoch durchschaut sie sein Handeln, ohne ihres zu verändern:
"In dir gibt es ein Konto mit automatischen Überweisungen. Du kennst deinen Saldo bis auf die Öre genau, und davon ausgehend entscheidest du, wie du dich mir gegenüber verhalten sollst. Jedenfalls musst du einzahlen oder abheben. Oder du kannst es auch lassen, falls du rücksichtsvoll sein musst oder spöttisch, kalt und gleichgültig sein willst. Alle Menschen haben so ein Konto, alle Menschen passen auf, wo die Grenzen dafür verlaufen, wann man sich anstrengen muss und wann man sich zurücklehnen kann, wann man abheben kann und wann man einzahlen muss." (S.221)
Olof ist berechnend, er kommt Ester entgegen, wenn sie Kälte zeigt, unterwirft sie sich ihm, behandelt er sie wie der letzte Dreck.
Das ist sehr ermüdend zu lesen, trotz der interessanten philosophischen Betrachtungen. In der Mitte des Romans hatte ich den Impuls, einfach aufzuhören, doch ich war neugierig, ob der ewige Kreislauf durchbrochen wird. Irgendwann ist es dann auch soweit und Ester wagt einen radikalen Schritt.
"Und zum ersten Mal verlor sie den Respekt vor ihm. Diese ausgleichende Unterwürfigkeit, die er hier vorführte, da er sich dazu gezwungen fühlte, gehörte zu den bedrückendsten Dingen, die sie je erlebt hatte. Die aggressiven Schmeicheleien ekelten sie ebenso an wie seine feindselige Abweisung, aber ganz besonders widerlich fand sie sein pathologisches Pendeln zwischen beiden Extremen. (S.330)
Bewertung
Der intellektuelle Roman bietet tiefe Einsichten in die Natur der unerfüllten und unentschiedenen Liebe. Am Beispiel von Olof und Ester erkennt man den, der an der bewährten Beziehung festhalten will und trotzdem die Affäre mit der Geliebten genießt, und diejenige, die an der Hoffnung, aus ihrer Geliebtenrolle in die der Gattin zu wechseln, zugrunde geht.
Esters Verhalten, immer zu verzeihen, alles für den Geliebten zu tun, sich wirklich wie ein Hund behandeln zu lassen, ist über diese Länge fast nicht zu ertragen. Mehrmals dachte ich, ich kann das nicht weiterlesen, wollte dann aber doch wissen, ob ihre eine Befreiung gelingt. Ihre Unfähigkeit, die Unmenschlichkeit Olofs als solche anzuerkennen, die permanente Deutung seine Äußerung sind meines Erachtens "too much".
Wäre der Roman 150 Seiten kürzer, die "Affäre" dichter geschildert, hätte das der Handlung gut getan. Der Schluss entschädigt etwas für die Länge im Mittelteil.
Empfehlenswert? Wem die Darstellung einer aufopferungsvollen Liebe, eines sich wiederholendes Beziehungsmusters und philosophischen Betrachtungen darüber gefällt, wird vom Roman begeistert sein. Mich hat er nicht überzeugt, obwohl die Reflexionen über solche eine Beziehung interessant sind, behindern sie den Handlungsfluss und führen zu einer völligen Distanzierung - und das bei einer Liebesgeschichte ;)
Sonntag, 2. Juli 2017
Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage
- angekommen im Wunsch-Leben?
Taschenbuch, 306 Seiten
Suhrkamp, 10.4.2017
Vielen Dank dem Suhrkamp Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Hier geht es zur Buchseite des Verlags.
Inhalt
Der Roman spielt im Herbst in Stuttgart, in der Constantinstraße - einer Straße, in der die Wohlsituierten leben. Darunter Julia und Leonie und die alte Frau Posselt - Luise.
Julia lebt mit ihren beiden Kindern Kilian, 2 Jahre, Uli, 5 Jahre, und ihrem Mann Klaus, einem Universitätsprofessor, in einer schönen Wohnung, das Gärtle im Hinterhof hat sie sich vom älteren Ehepaar Posselt erorbert. Ein Idylle?
"Hackstraßenmist ist Klaus´Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat." (S.10)
Dazu gehört das Rauchen und auch ihre Abhängigkeit von Tavor, einem Medikament, das Ängste unterdrückt und gleichgültig macht.
Julia hat Kunstgeschichte studiert. Sie ist eine eifrige Studentin, die nächtelang lernt, aber unter Panikattacken leidet. Während ihrer Abschlussarbeit über Otto Dix steigern sich diese derart, dass ihr ein Arzt die blauen Pillen verschreibt.
"Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister [ihren Professor], Dix´ Bilder und Judiths Zukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen." (S. 16)
Sören ist Medizinstudent, der in Tübingen lebt, sie zitiert, wenn er Lust hat, und nebenbei mindestens noch eine weitere Beziehung laufen hat. Trotzdem ist Judith ihm verfallen.
Klaus wohnt in dieser schwierigen Phase unter eine Etage unter ihr, "macht ihr den Hof", doch sie weist ihn ab. Dann zieht er in die Constantinstraße und hinterlässt ihr seine Telefonnummer. Als Judith am Boden ist, flieht sie zu Klaus, aufgelesen von Frau Posselt gelingt ihr der "Einbruch" in seine Wohnung und sein Leben.
Inzwischen hat sie sich eingenistet, geht scheinbar in der Rolle der fürsorglichen Mutter auf, hat sich der Waldorfpädagogik verschrieben - sie
"empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf-Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden." (S.18)
In dieser begrenzten Welt, die sie nicht hinterfragt, fühlt sie sich sicher, ist überzeugt davon, dass ihr die Erziehung gelingen kann.
"Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist." (S.19)
Ihre Familie dient Leonie, die im Nachbarhaus wohnt, als Vorbild:
"Wenn Leonie in das Fester auf der anderen Straßenseite schaut, hat sie das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll." (S.101)
Leonie, die aus einer wohlsituierten Familie stammt, hat Simon geheiratet, den Aufsteiger aus der Unterschicht. Doch er hat es geschafft, hat sich in seiner Firma hoch gearbeitet, die schöne
Wohnung in der Constantinstraße, ein Symbol auf dem Weg nach oben.
Die beiden haben ebenfalls zwei Kinder, Feli, 2 Jahre, und Lisa, 6 Jahre, die ganztags in einen katholischen Kindergarten gehen.
Leonie arbeitet bei der Bank und an ihr nagt das schlechte Gewissen, dass sie zu wenig für ihre Mädchen da ist, gleichzeitig jedoch ihre Arbeit liebt.
"Als größten Verrat empfindet sie das Gefühl der Erleichterung, wenn sie im Büro ankommt und hinter ihrem Schreibtisch Platz nimmt. [...] Sie genießt die Telefonate und Meetings, oft nur aus dem Grund, daß sie dort die Kinder ausblenden kann." (S.43)
Zerrissen zwischen schlechtem Gewissen, dem Anspruch eine gute Mutter zu sein und ihre Arbeit gewissenhaft zu bewältigen, ist auch Leonie nur scheinbar in einem besseren Leben angekommen.
"Sie hat keine Zeit, bleibt die Neue, die Eilige, die sich mit Nadelstreifenkostüm und Make-up vorkommt wie ein Raubtier, das eine Kolonie kuscheliger Pinguine umkreist." (S.69)
An einem warmen Herbsttag, um Halloween herum, treffen die beiden Frauen mit ihren Kindern im Gärtle aufeinander. Judith betrachtet die Eindringlinge skeptisch, da sie in ihre wohl geordnete Welt einbrechen.
"Gleichzeitig weiß sie, daß der ungewollte Besuch der Nachbarin Störungen bringen wird. Lisa und Felicia haben abwaschbare Glitzer-Tätowierungen auf den Handrücken, Kaugummis in den Backentaschen." (S.127)
Während beide Frauen in ihrem Leben gefangen sind, blickt die alte Luise auf ihres zurück, während ihr Mann neben ihr im Bett liegt. Alles in allem war es erfüllt, sie, die Schwäbin, die einen Sudetendeutschen, einen Vertriebenen geheiratet und den Krieg überstanden hat. Jetzt hat sie mit dem Alter zu kämpfen, mit den täglichen Gebrechen und der zunehmenden Immobilität, während der junge Marco versucht aus seiner Welt auszubrechen.
Marcos Mutter hat sich mit einem Mann eingelassen, den Marco "Pornostar" nennt und der ihn während ihrer ersten Begegnung verprügelt hat. Um seiner Gewalt zu entgehen und dem lieblosen Zuhause zu entkommen, plant er seine Flucht nach Estland. Dort lebt der vorherige Freund seiner Mutter, der gut zu Marco gewesen ist.
Das Geld, das in Nazims Laden versteckt ist, wie ihm sein Freund Murat verraten hat, soll im diese Flucht ermöglichen. Wird es ihm gelingen, seinem Leben zu entkommen?
Wird Judith ihrer von Tavor hervorgerufenen Gleichgültigkeit entkommen und Leonie ihrem Streit mit Simon, dass er nie für sie und die Kinder da ist, beilegen können?
Bewertung
Der Roman lebt am Anfang vom Kontrast der beiden Lebenswelten der Frauen, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird.
Auf der einen Seite Judith, die ihren Kindern eine heile Welt ermöglichen will und immer für sie da ist, und Leonie, die berufstätige Mutter mit chronisch schlechtem Gewissen, die stolz mit ihrem Mann den sozialen Aufstieg geschafft hat.
Doch die Klischees bleiben nicht als solche bestehen, sondern werden von innen aufgeweicht. Aus der Perspektive der Frauen blicken wir hinter die "Kulissen". Das wird besonders an Hanna deutlich, einer Nebenfigur, die für ihr krankes Kind zu leben "scheint".
Im Klappentext steht, dass Anna Katharina Hahn von Frauen erzählt, "deren Lebensraum zum Käfig geworden ist."
Judith, deren Leben wie eine Idylle zwischen Kürbissuppe, Holzspielzeug und selbst gestrickten Mützen wirkt, ist in ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Liebe zu Sören gefangen. Sie vermag es nicht, sich ihren Ängsten zu stellen.
Leonie, gefangen in ihrem schlechten Gewissen und dem Gefühl, das Leben gehe an ihr vorüber. Simon selbst, seinem sozialen Umfeld entkommen, vergleicht sich permanent mit den anderen, so fehlt ihm die Selbstverständlichkeit sich unter den Wohlsituierten zu bewegen.
Die alte Frau Posselt, Luise, ist in ihrem Körper gefangen und muss sich eingestehen, dass sie innerhalb der Vertriebenen nie wirklich dazugehört hat.
Und Marco, der einzige männliche Protagonist, ein Kind noch, setzt alles daran seinem Käfig zu entkommen, wenn es auch auf Kosten anderer geht.
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse und die Frauen werden aus ihren vertrauten Bahnen geworfen, während Marco seinen Plan in die Tat umsetzen will. Die Autorin lässt offen, wie die Figuren mit den Rissen, die die Mauern ihrer scheinbar heilen Welt aufgebrochen haben, umgehen.
Ein Roman, der Fragen aufwirft und in klarer Sprache ungeschminkt die dunklen Seiten hinter der hellen Fassade aufdeckt - lesenswert.
Quelle: Suhrkamp Verlag |
Taschenbuch, 306 Seiten
Suhrkamp, 10.4.2017
Vielen Dank dem Suhrkamp Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Hier geht es zur Buchseite des Verlags.
Inhalt
Der Roman spielt im Herbst in Stuttgart, in der Constantinstraße - einer Straße, in der die Wohlsituierten leben. Darunter Julia und Leonie und die alte Frau Posselt - Luise.
Julia lebt mit ihren beiden Kindern Kilian, 2 Jahre, Uli, 5 Jahre, und ihrem Mann Klaus, einem Universitätsprofessor, in einer schönen Wohnung, das Gärtle im Hinterhof hat sie sich vom älteren Ehepaar Posselt erorbert. Ein Idylle?
"Hackstraßenmist ist Klaus´Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat." (S.10)
Dazu gehört das Rauchen und auch ihre Abhängigkeit von Tavor, einem Medikament, das Ängste unterdrückt und gleichgültig macht.
Julia hat Kunstgeschichte studiert. Sie ist eine eifrige Studentin, die nächtelang lernt, aber unter Panikattacken leidet. Während ihrer Abschlussarbeit über Otto Dix steigern sich diese derart, dass ihr ein Arzt die blauen Pillen verschreibt.
"Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister [ihren Professor], Dix´ Bilder und Judiths Zukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen." (S. 16)
Sören ist Medizinstudent, der in Tübingen lebt, sie zitiert, wenn er Lust hat, und nebenbei mindestens noch eine weitere Beziehung laufen hat. Trotzdem ist Judith ihm verfallen.
Klaus wohnt in dieser schwierigen Phase unter eine Etage unter ihr, "macht ihr den Hof", doch sie weist ihn ab. Dann zieht er in die Constantinstraße und hinterlässt ihr seine Telefonnummer. Als Judith am Boden ist, flieht sie zu Klaus, aufgelesen von Frau Posselt gelingt ihr der "Einbruch" in seine Wohnung und sein Leben.
Inzwischen hat sie sich eingenistet, geht scheinbar in der Rolle der fürsorglichen Mutter auf, hat sich der Waldorfpädagogik verschrieben - sie
"empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf-Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden." (S.18)
In dieser begrenzten Welt, die sie nicht hinterfragt, fühlt sie sich sicher, ist überzeugt davon, dass ihr die Erziehung gelingen kann.
"Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist." (S.19)
Ihre Familie dient Leonie, die im Nachbarhaus wohnt, als Vorbild:
"Wenn Leonie in das Fester auf der anderen Straßenseite schaut, hat sie das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll." (S.101)
Leonie, die aus einer wohlsituierten Familie stammt, hat Simon geheiratet, den Aufsteiger aus der Unterschicht. Doch er hat es geschafft, hat sich in seiner Firma hoch gearbeitet, die schöne
Wohnung in der Constantinstraße, ein Symbol auf dem Weg nach oben.
Die beiden haben ebenfalls zwei Kinder, Feli, 2 Jahre, und Lisa, 6 Jahre, die ganztags in einen katholischen Kindergarten gehen.
Leonie arbeitet bei der Bank und an ihr nagt das schlechte Gewissen, dass sie zu wenig für ihre Mädchen da ist, gleichzeitig jedoch ihre Arbeit liebt.
"Als größten Verrat empfindet sie das Gefühl der Erleichterung, wenn sie im Büro ankommt und hinter ihrem Schreibtisch Platz nimmt. [...] Sie genießt die Telefonate und Meetings, oft nur aus dem Grund, daß sie dort die Kinder ausblenden kann." (S.43)
Zerrissen zwischen schlechtem Gewissen, dem Anspruch eine gute Mutter zu sein und ihre Arbeit gewissenhaft zu bewältigen, ist auch Leonie nur scheinbar in einem besseren Leben angekommen.
"Sie hat keine Zeit, bleibt die Neue, die Eilige, die sich mit Nadelstreifenkostüm und Make-up vorkommt wie ein Raubtier, das eine Kolonie kuscheliger Pinguine umkreist." (S.69)
An einem warmen Herbsttag, um Halloween herum, treffen die beiden Frauen mit ihren Kindern im Gärtle aufeinander. Judith betrachtet die Eindringlinge skeptisch, da sie in ihre wohl geordnete Welt einbrechen.
"Gleichzeitig weiß sie, daß der ungewollte Besuch der Nachbarin Störungen bringen wird. Lisa und Felicia haben abwaschbare Glitzer-Tätowierungen auf den Handrücken, Kaugummis in den Backentaschen." (S.127)
Während beide Frauen in ihrem Leben gefangen sind, blickt die alte Luise auf ihres zurück, während ihr Mann neben ihr im Bett liegt. Alles in allem war es erfüllt, sie, die Schwäbin, die einen Sudetendeutschen, einen Vertriebenen geheiratet und den Krieg überstanden hat. Jetzt hat sie mit dem Alter zu kämpfen, mit den täglichen Gebrechen und der zunehmenden Immobilität, während der junge Marco versucht aus seiner Welt auszubrechen.
Marcos Mutter hat sich mit einem Mann eingelassen, den Marco "Pornostar" nennt und der ihn während ihrer ersten Begegnung verprügelt hat. Um seiner Gewalt zu entgehen und dem lieblosen Zuhause zu entkommen, plant er seine Flucht nach Estland. Dort lebt der vorherige Freund seiner Mutter, der gut zu Marco gewesen ist.
Das Geld, das in Nazims Laden versteckt ist, wie ihm sein Freund Murat verraten hat, soll im diese Flucht ermöglichen. Wird es ihm gelingen, seinem Leben zu entkommen?
Wird Judith ihrer von Tavor hervorgerufenen Gleichgültigkeit entkommen und Leonie ihrem Streit mit Simon, dass er nie für sie und die Kinder da ist, beilegen können?
Bewertung
Der Roman lebt am Anfang vom Kontrast der beiden Lebenswelten der Frauen, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird.
Auf der einen Seite Judith, die ihren Kindern eine heile Welt ermöglichen will und immer für sie da ist, und Leonie, die berufstätige Mutter mit chronisch schlechtem Gewissen, die stolz mit ihrem Mann den sozialen Aufstieg geschafft hat.
Doch die Klischees bleiben nicht als solche bestehen, sondern werden von innen aufgeweicht. Aus der Perspektive der Frauen blicken wir hinter die "Kulissen". Das wird besonders an Hanna deutlich, einer Nebenfigur, die für ihr krankes Kind zu leben "scheint".
Im Klappentext steht, dass Anna Katharina Hahn von Frauen erzählt, "deren Lebensraum zum Käfig geworden ist."
Judith, deren Leben wie eine Idylle zwischen Kürbissuppe, Holzspielzeug und selbst gestrickten Mützen wirkt, ist in ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Liebe zu Sören gefangen. Sie vermag es nicht, sich ihren Ängsten zu stellen.
Leonie, gefangen in ihrem schlechten Gewissen und dem Gefühl, das Leben gehe an ihr vorüber. Simon selbst, seinem sozialen Umfeld entkommen, vergleicht sich permanent mit den anderen, so fehlt ihm die Selbstverständlichkeit sich unter den Wohlsituierten zu bewegen.
Die alte Frau Posselt, Luise, ist in ihrem Körper gefangen und muss sich eingestehen, dass sie innerhalb der Vertriebenen nie wirklich dazugehört hat.
Und Marco, der einzige männliche Protagonist, ein Kind noch, setzt alles daran seinem Käfig zu entkommen, wenn es auch auf Kosten anderer geht.
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse und die Frauen werden aus ihren vertrauten Bahnen geworfen, während Marco seinen Plan in die Tat umsetzen will. Die Autorin lässt offen, wie die Figuren mit den Rissen, die die Mauern ihrer scheinbar heilen Welt aufgebrochen haben, umgehen.
Ein Roman, der Fragen aufwirft und in klarer Sprache ungeschminkt die dunklen Seiten hinter der hellen Fassade aufdeckt - lesenswert.
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