Quelle: Suhrkamp Verlag |
Taschenbuch, 306 Seiten
Suhrkamp, 10.4.2017
Vielen Dank dem Suhrkamp Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.
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Inhalt
Der Roman spielt im Herbst in Stuttgart, in der Constantinstraße - einer Straße, in der die Wohlsituierten leben. Darunter Julia und Leonie und die alte Frau Posselt - Luise.
Julia lebt mit ihren beiden Kindern Kilian, 2 Jahre, Uli, 5 Jahre, und ihrem Mann Klaus, einem Universitätsprofessor, in einer schönen Wohnung, das Gärtle im Hinterhof hat sie sich vom älteren Ehepaar Posselt erorbert. Ein Idylle?
"Hackstraßenmist ist Klaus´Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat." (S.10)
Dazu gehört das Rauchen und auch ihre Abhängigkeit von Tavor, einem Medikament, das Ängste unterdrückt und gleichgültig macht.
Julia hat Kunstgeschichte studiert. Sie ist eine eifrige Studentin, die nächtelang lernt, aber unter Panikattacken leidet. Während ihrer Abschlussarbeit über Otto Dix steigern sich diese derart, dass ihr ein Arzt die blauen Pillen verschreibt.
"Das Medikament tauchte Canetti-Baumeister [ihren Professor], Dix´ Bilder und Judiths Zukunftsaussichten im Stuttgarter Kunstbetrieb in einen wabernden Nebel, vertrieb die Angst für eine Weile und half auch, die tägliche zermürbende Warterei auf Sörens Anrufe und sein sonstiges Verhalten zu ertragen." (S. 16)
Sören ist Medizinstudent, der in Tübingen lebt, sie zitiert, wenn er Lust hat, und nebenbei mindestens noch eine weitere Beziehung laufen hat. Trotzdem ist Judith ihm verfallen.
Klaus wohnt in dieser schwierigen Phase unter eine Etage unter ihr, "macht ihr den Hof", doch sie weist ihn ab. Dann zieht er in die Constantinstraße und hinterlässt ihr seine Telefonnummer. Als Judith am Boden ist, flieht sie zu Klaus, aufgelesen von Frau Posselt gelingt ihr der "Einbruch" in seine Wohnung und sein Leben.
Inzwischen hat sie sich eingenistet, geht scheinbar in der Rolle der fürsorglichen Mutter auf, hat sich der Waldorfpädagogik verschrieben - sie
"empfand eine befreiende Freude über die Strenge der dort vorgegebenen Richtlinien. Ihre Entscheidung für die Waldorf-Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden." (S.18)
In dieser begrenzten Welt, die sie nicht hinterfragt, fühlt sie sich sicher, ist überzeugt davon, dass ihr die Erziehung gelingen kann.
"Es schien einfach und bestechend: Ihre Kinder würden nicht krank werden, sie konnten zu geradlinigen, phantasievollen und glücklichen Menschen heranwachsen, frei von Süchten, Zweifeln, unvertraut mit Hackstraßenmist." (S.19)
Ihre Familie dient Leonie, die im Nachbarhaus wohnt, als Vorbild:
"Wenn Leonie in das Fester auf der anderen Straßenseite schaut, hat sie das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll." (S.101)
Leonie, die aus einer wohlsituierten Familie stammt, hat Simon geheiratet, den Aufsteiger aus der Unterschicht. Doch er hat es geschafft, hat sich in seiner Firma hoch gearbeitet, die schöne
Wohnung in der Constantinstraße, ein Symbol auf dem Weg nach oben.
Die beiden haben ebenfalls zwei Kinder, Feli, 2 Jahre, und Lisa, 6 Jahre, die ganztags in einen katholischen Kindergarten gehen.
Leonie arbeitet bei der Bank und an ihr nagt das schlechte Gewissen, dass sie zu wenig für ihre Mädchen da ist, gleichzeitig jedoch ihre Arbeit liebt.
"Als größten Verrat empfindet sie das Gefühl der Erleichterung, wenn sie im Büro ankommt und hinter ihrem Schreibtisch Platz nimmt. [...] Sie genießt die Telefonate und Meetings, oft nur aus dem Grund, daß sie dort die Kinder ausblenden kann." (S.43)
Zerrissen zwischen schlechtem Gewissen, dem Anspruch eine gute Mutter zu sein und ihre Arbeit gewissenhaft zu bewältigen, ist auch Leonie nur scheinbar in einem besseren Leben angekommen.
"Sie hat keine Zeit, bleibt die Neue, die Eilige, die sich mit Nadelstreifenkostüm und Make-up vorkommt wie ein Raubtier, das eine Kolonie kuscheliger Pinguine umkreist." (S.69)
An einem warmen Herbsttag, um Halloween herum, treffen die beiden Frauen mit ihren Kindern im Gärtle aufeinander. Judith betrachtet die Eindringlinge skeptisch, da sie in ihre wohl geordnete Welt einbrechen.
"Gleichzeitig weiß sie, daß der ungewollte Besuch der Nachbarin Störungen bringen wird. Lisa und Felicia haben abwaschbare Glitzer-Tätowierungen auf den Handrücken, Kaugummis in den Backentaschen." (S.127)
Während beide Frauen in ihrem Leben gefangen sind, blickt die alte Luise auf ihres zurück, während ihr Mann neben ihr im Bett liegt. Alles in allem war es erfüllt, sie, die Schwäbin, die einen Sudetendeutschen, einen Vertriebenen geheiratet und den Krieg überstanden hat. Jetzt hat sie mit dem Alter zu kämpfen, mit den täglichen Gebrechen und der zunehmenden Immobilität, während der junge Marco versucht aus seiner Welt auszubrechen.
Marcos Mutter hat sich mit einem Mann eingelassen, den Marco "Pornostar" nennt und der ihn während ihrer ersten Begegnung verprügelt hat. Um seiner Gewalt zu entgehen und dem lieblosen Zuhause zu entkommen, plant er seine Flucht nach Estland. Dort lebt der vorherige Freund seiner Mutter, der gut zu Marco gewesen ist.
Das Geld, das in Nazims Laden versteckt ist, wie ihm sein Freund Murat verraten hat, soll im diese Flucht ermöglichen. Wird es ihm gelingen, seinem Leben zu entkommen?
Wird Judith ihrer von Tavor hervorgerufenen Gleichgültigkeit entkommen und Leonie ihrem Streit mit Simon, dass er nie für sie und die Kinder da ist, beilegen können?
Bewertung
Der Roman lebt am Anfang vom Kontrast der beiden Lebenswelten der Frauen, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird.
Auf der einen Seite Judith, die ihren Kindern eine heile Welt ermöglichen will und immer für sie da ist, und Leonie, die berufstätige Mutter mit chronisch schlechtem Gewissen, die stolz mit ihrem Mann den sozialen Aufstieg geschafft hat.
Doch die Klischees bleiben nicht als solche bestehen, sondern werden von innen aufgeweicht. Aus der Perspektive der Frauen blicken wir hinter die "Kulissen". Das wird besonders an Hanna deutlich, einer Nebenfigur, die für ihr krankes Kind zu leben "scheint".
Im Klappentext steht, dass Anna Katharina Hahn von Frauen erzählt, "deren Lebensraum zum Käfig geworden ist."
Judith, deren Leben wie eine Idylle zwischen Kürbissuppe, Holzspielzeug und selbst gestrickten Mützen wirkt, ist in ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Liebe zu Sören gefangen. Sie vermag es nicht, sich ihren Ängsten zu stellen.
Leonie, gefangen in ihrem schlechten Gewissen und dem Gefühl, das Leben gehe an ihr vorüber. Simon selbst, seinem sozialen Umfeld entkommen, vergleicht sich permanent mit den anderen, so fehlt ihm die Selbstverständlichkeit sich unter den Wohlsituierten zu bewegen.
Die alte Frau Posselt, Luise, ist in ihrem Körper gefangen und muss sich eingestehen, dass sie innerhalb der Vertriebenen nie wirklich dazugehört hat.
Und Marco, der einzige männliche Protagonist, ein Kind noch, setzt alles daran seinem Käfig zu entkommen, wenn es auch auf Kosten anderer geht.
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse und die Frauen werden aus ihren vertrauten Bahnen geworfen, während Marco seinen Plan in die Tat umsetzen will. Die Autorin lässt offen, wie die Figuren mit den Rissen, die die Mauern ihrer scheinbar heilen Welt aufgebrochen haben, umgehen.
Ein Roman, der Fragen aufwirft und in klarer Sprache ungeschminkt die dunklen Seiten hinter der hellen Fassade aufdeckt - lesenswert.