Freitag, 9. Juni 2023

Helga Schubert: Der heutige Tag

 - Leserunde auf Whatchareadin

Helga Schubert erzählt in ihrem Roman schnörkellos und ehrlich davon, was es bedeutet, einen geliebten Menschen Tag und Nacht zu pflegen. Einen Menschen, der sowohl körperlich beeinträchtigt ist als auch zunehmend dement wird und manchmal nicht mehr weiß, wer vor ihm steht.

Dem autofiktionalen Roman vorangestellt ist das Bibelzitat „Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ (Matthäus, Kapitel 6, Vers 34).

Jeder einzelne Tag bringt neue Herausforderungen mit sich, dabei stehen jedoch nicht nur die Plagen im Vordergrund, sondern auch die schönen Momente, die Momente, in denen die Liebe zwischen H. Schubert und ihrem Mann hervorscheint, denn sie sind „Zwei alte Liebesleute“, die seit 58 Jahren zusammen sind. (S.7)

„Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen. Ich gab ihm unter der Decke die Hand und drückte sie. Und er drückte meine Hand. Wie ein Versprechen. In guten und in schlechten Zeiten. Aber es sind gar keine schlechten Zeiten.“ (96)

Die beiden leben im Hier und Jetzt, am „heutigen Tag“, wie eine Teilnehmerin der Leserunde es treffend auf den Punkt gebraucht hat.

Neben der Schilderung der täglichen Pflege, der Freundlichkeit der Pflegekräfte, die ihr wiederum Kraft schenken, thematisiert H.Schubert auch, wie schwierig es ist, einem pflegebedürftigen geliebten Menschen ein Leben zuhause zu ermöglichen. Kaum eine Chance eine Vertretung zu finden, immer präsent sein müssen, nachts geweckt zu werden, Geduld zu bewahren und damit konfrontiert zu sein, vom geliebten Menschen nicht mehr erkannt zu werden. Oft fühlt sie sich am Ende ihrer Kräfte und allein gelassen.

„Wie lange wird in Deutschland die Pflege eines alten kranken hilfsbedürftigen Menschen, der gern zuhause leben und auch sterben will, noch so holprig sein, so ausschließlich auf einen einzigen Angehörigen bezogen?“ (S.187)

„Manchmal möchte ich tot sein, endlich ohne Verantwortung und Pflichten, aber trotzdem dabei sein, niemand soll sich schuldig fühlen (…)“ (S.189)

Der Roman trägt den Untertitel „Ein Stundenbuch der Liebe“, wobei das Stundenbuch das offizielle Buch der römisch-katholischen Kirche für die Tagezeitenliturgie bzw. das Stundengebet ist. Schuberts Liebe ermöglicht es ihr, stündlich für ihren Geliebten da zu sein. Sie betet dafür, dass er noch in ihrer Nähe sein kann, behütet und beschützt ihn, lebt für die kostbaren Momenten ihrer gemeinsamen Liebe.

Sie schildert in Rückblicken auch, wie diese Liebe gewachsen ist, welchen Herausforderungen sie sich in der ehemaligen DDR stellen musste und welche Schwierigkeiten eine Patchworkfamilie mit sich bringt – die Hilfe seiner Kinder erweist sich nicht als selbstverständlich.

Ein Roman, der berührt und vor Augen führt, was uns alle erwarten kann. Hoffentlich gibt es in unserem Leben auch einen liebevollen Menschen wie Helga Schubert, der uns ein würdiges Ende ermöglicht und der "wie ein alter treuer Hund" (S.265) an unserem Bett wacht.

Trotz einiger Längen im letzten Drittel des Romans eine klare Leseempfehlung.