Freitag, 26. Mai 2017

Simon Mason: Mondpicknick

ein Jugendroman zum Thema Alkoholismus.

Lesen mit Mira

Gebundene Ausgabe, 302 Seiten
Carlsen, 2013


Inhalt
Martha ist 11 Jahre alt, gemeinsam mit ihrem 5-jährigen Bruder Christopher, "Tug" genannt, und ihrem Vater lebt sie in einem kleinen Haus. Vor zwei Jahren ist plötzlich ihre Mutter, eine bekannte Schauspielerin, gestorben.
Ihr Papa kann nicht über den Verlust reden, statt dessen kündigt er seine Arbeit als Kameramann, da er Abstand zu der Welt braucht, in der er seine Frau kennen gelernt hat. Auch mit den Eltern seiner Frau bricht er fast den Kontakt ab.

Das durchschaut Martha, aus deren personaler kindlicher Sicht die Ereignisse erzählt werden, jedoch nicht. Statt dessen bemerkt sie, dass ihr Vater komisch ist. Mitten in der Nacht weckt er sie und ihren Bruder, um im Park ein "Mondpicknick" zu veranstalten. Martha ist es, die sich um alles kümmert, ständig denkt sie daran, was noch zu tun ist.

" Wie üblich machte Martha im Kopf eine Liste:

  • putzen
  • Mittagessen kochen
  • nähen
  • zu Marcus gehen [Das ist ihr Freund, der eine Vorliebe für klassische Filme und schöne Kostüme hat.]
  • Papa mit dem Abendessen helfen
  • Tug baden
  • Tug vorlesen
  • ins Bett gehen" (S.20)

Da das Verhältnis zu ihren Großeltern, die sehr vernünftig und streng sind, unterkühlt ist, sucht sie dort keine Hilfe. Eine zu große Verantwortung für ein elfjähriges Mädchen, sei sie noch so vernünftig. Ihr Vater verlangt unbewusst von ihr, für Tug, der immer Hunger hat, Ersatzmutter zu sein, und für ihn selbst gleichberechtigte Gesprächspartnerin. Diese hohen Erwartungen zehren an Martha, die unter Schwindel und Kopfschmerzen leidet.

"Ich bin elf, dachte sie. Ich darf keine Angst vor der Stille oder vor der Dunkelheit haben. Ich muss einen klaren Kopf behalten und darf nicht albern sein." (S.37)

Einzige Konstante in diesem chaotischen Leben ist der Mond, den sie immer wieder betrachtet und mit verschiedenen Vergleichen versucht zu beschreiben.

Erst ein gemeinsames Abendessen mit ihrer Freundin Laura und deren Mutter offenbart das Problem, das Marthas Vater offenkundig hat - er ist Alkoholiker.
Schonungslos beschreibt Simon Mason seinen allmählichen Niedergang und die verzweifelten Versuche, dem Trinken zu widersagen.
Wird er aus Liebe zu seinen Kindern den Entzug schaffen?

Beurteilung
Ein heikles Thema, das aus der kindlichen Sicht heraus, umso schlimmer erscheint. Wenn man Marthas Vater aus ihren Augen betrachtet, wie er betrunken am Boden liegt oder unberechenbar reagiert, ahnt man, was Kinder von Alkoholikern aushalten müssen. Dabei wird er nicht handgreiflich, bringt seine Kinder jedoch aufgrund der Vernachlässigung und Unvorsichtigkeit in Gefahr.
Was Martha leistet, ist unfassbar - und unrealistisch. Mira und ich haben darüber diskutiert, ob ein 11-jähriges Mädchen tatsächlich in der Lage wäre, diese Leistung über einen solchen Zeitraum zu erbringen. Sie wirkt zu perfekt, macht eigentlich keine Fehler. Glaubwürdiger wäre gewesen, wenn sie 13 oder 14 Jahre alt wäre. Vielleicht hat der Autor auch unterschätzt, welche Leistung Martha jeden Tag erbringt, das war zumindest eine Erklärung Miras.
Ich kann mir vorstellen, dass ein Kind unter bestimmten Umständen in der Lage ist, eine solche Verantwortung zu übernehmen - aber nicht so perfekt und so lange.
Man bewundert Martha und empfindet Mitleid mit ihr, denn eine 11-Jährige sollte unbeschwert und ohne Pflichten, wie Essen kochen, für die Familie sorgen, aufwachsen dürfen.
Trotzdem gelingt es Simon Mason auch Verständnis für Marthas Vater zu erzeugen -zumindest kann man nachvollziehen, dass er sich nach dem Tod seiner Frau in tiefer Trauer befindet und das Trinken als Ausweg angesehen hat. Nichtsdestotrotz werden sein Verhalten und die Konsequenzen für die Kinder verurteilt - aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern indem man Anteil an Marthas Gefühlen nimmt, die sich bemüht, nachdem die beiden Geschwister zu ihren Großeltern kommen, ihren Vater zu vergessen.
Das Verhalten aller Beteiligten nach der Wende - ein Verkehrsunfall - wird im Vergleich zum ersten Teil glaubwürdig geschildert, da waren Mira und ich uns einig.

Der Jugendroman zeigt die Gefahren und die Auswirkungen des Alkoholismus gut auf, aber auch Möglichkeiten, wie Marthas Vater seine Sucht bekämpfen kann. Gleichzeitig verschließt er nicht die Augen vor den Schwierigkeiten, wieder in die Normalität zurückkehren zu können.
Noch glaubwürdiger wäre er, wenn die Protagonistin ein wenig älter gewesen wäre. Oft ist es jedoch so, dass sich Jugendliche daran - im Gegensatz zu erwachsenen Leser*innen - nicht stören.

Am Ende wird alles, sehr gut sogar. Führt man sich die Zielgruppe vor Augen, ist das jedoch legitim, wenn es auch in der Realität selten so positiv für alle ausgeht.

Hier geht es zu Miras Rezension.



Montag, 22. Mai 2017

Heike Trojnar: Rescue Center Nord

- Stuttgart 2040.

Taschenbuchausgabe,191 Seiten
EINBUCH, 2017

Der Roman wurde mir von der Autorin freundlicherweise als Leseexemplar zur Verfügung gestellt.

Inhalt
Der 19-jährige Rano arbeitet im Rescue Center Nord, einem großen Secondhand-Kaufhaus in Stuttgart. Er jobbt, um später sein Studium finanzieren zu können. Sein größtes Problem ist seine Schwester Alani, die gesundheitlich angeschlagen und psychisch labil ist. Von ihren Eltern haben beide keine Hilfe zu erwarten. In einer Gesellschaft, in der der Krankenversicherungsstatus darüber entscheidet, welche ärztliche Hilfe man in Anspruch nehmen kann, scheint sie keine Chance zu haben. Wer kein Geld hat, sich teuren Versicherungsschutz zu leisten, muss lange auf einen Termin warten und auf die neueste Technologie verzichten - oder selbst zahlen.
Da ist es nicht erstaunlich, dass Krankenversicherungskarten gestohlen werden. Xeta, eine Studentin, die auch im Rescue Center arbeitet, vermittelt Rano an jemanden weiter, der ihm helfen kann, einen entsprechenden Versicherungsstatus für seine Schwester zu "stehlen", die sich inzwischen in der Psychiatrie befindet. Rano sieht keine andere Möglichkeit als zu betrügen, da der wohlhabende Vater seiner Freundin Karla, sich nicht bereit erklärt, ihn finanziell zu unterstützen. Ob der Betrug gelingt? Kann Alani gerettet werden?

Bewertung
Die Autorin malt ein düsteres Zukunftsbild, in der die Schere zwischen Arm und Reich sich am Krankenversicherungsstatus manifestiert. Schaut man in die USA, wo Obamacare wieder rückgängig gemacht werden soll, scheint diese Vision recht realistisch. Der Grundidee des Romans hat mir sehr gut gefallen, die sprachliche Umsetzung und die präsentierte "Lösung" jedoch weniger.

[SPOILER]
Rano findet Hilfe in einer christlichen Vereinigung, die "Gottesdienste" in einer alten Kneipe abhalten. Erstaunlicherweise wird auch Karlas Vater von der Mitmenschlichkeit "angesteckt", kann aus der Trauer darüber, dass seine Frau ihn verlassen hat, gerettet werden und entpuppt sich am Ende als großer Wohltäter. Plötzlich ist Rano sein Freund, er hilft Alani, diese Veränderung war für mich beim Lesen nicht glaubwürdig.
Dass gegenseitige Hilfe und Menschlichkeit aus einem Dilemma herausführen können und die Religion dabei eine wichtige Rolle spielen kann, ist eine "gute" Botschaft. Die Umkehrung der Figuren und ihre Handlungsweisen sind meines Erachtens aber psychologisch nicht nachvollziehbar. Zu schnell wechseln sie ihr Verhalten, ohne dass dies plausibel dargelegt wird. So verändert sich Alani von einer depressiven, passiven jungen Frau zu einer lebensbejahenden, nur weil sie die Veranstaltung eines medizinischen Gurus und Betrügers besucht und diesen erstaunlicherweise "durchschaut" hat. Sehr unwahrscheinlich, wenn man ihre grundlegende psychische Verfassung betrachtet. Am Ende ist alles gut, aber die Problematik der Zwei-Klassengesellschaft bleibt bestehen. Was tun diejenigen, die keine Hilfe in der religiösen Gemeinschaft oder keinen reichen Wohltäter finden?

Der Roman beschreibt zu Beginn durchaus ein realistisches Bild, wie sich die Gesellschaft entwickeln wird oder kann, bietet aber keine politischen Lösungen an. Statt dessen sollen wir auf Gott und die Freundschaft vertrauen und darauf, dass uns jemand hilft. Eine schöne Botschaft, aber reicht das aus? Hätte mir von einer Dystopie mehr erwartet.

Sonntag, 21. Mai 2017

Jeff Cohen: Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen

- ein ungewöhnliches Ermittlerduo in einem skurrilen Fall.


Taschenbuchausgabe, 384 Seiten
blanvalet, 17.Oktober 2016

Danke schön an den blanvalet-Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Samuel Hoenig betreibt ein Dienstleistungsunternehmen in Kalifornien, Fragen beantworten, und er hat das Ziel jede erdenkliche Frage, die ihm gestellt wird, gegen Entgelt zu beantworten.
Samuel ist ein ungewöhnlicher junger Mann, Small talk fällt ihm ebenso schwer wie in den Gesichtern seiner Mitmenschen deren Gefühle zu lesen. Jede 23 Minuten steht er auf und bewegt sich eine Drittelmeile, egal, wo er sich befindet, um seine Herzfrequenz zu erhöhen und den Kreislauf auf Touren zu bringen. Er trinkt regelmäßig einen halben Liter Wasser und nimmt immer zur gleichen Zeit seine Mahlzeiten mit seiner Mutter ein. Samuel ist Asperger-Autist.

"Ich schäme mich nicht für mein Asperger-Syndrom. Warum sollte ich? Es hat meiner Persönlichkeit Aspekte verliehen, die ich sehr nützlich finde. (...) Leute, die es nicht haben - und manche, die es haben-, glauben es wäre ein Defekt, der zu Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen Menschen führt und das Verhältnis zu ihnen beeinträchtigt. Um genau zu sein, denken sie, dass wir seltsam sind. Ich für meinen Teil halte die meisten "gewöhnlichen" Menschen für seltsam, mein eigenes Handeln hingegen für ziemlich vernünftig." (S.17)

Der Kriminalfall wird aus der Ich-Perspektive Samuels im Präsens erzählt, dadurch erhalten die Leser*innen direkten Einblick in seine Art zu denken. Sein analytisches Vermögen, seine Fähigkeit nur die relevanten Informationen wahrzunehmen, seine Kombinationsgabe sind bewundernswert - nur in der Interaktion mit den anderen Figuren offenbart sich seine Unzulänglichkeit und Unsicherheit. Glücklicherweise befindet sich gerade Ms. Janet Washburn - eine vertrauenswürdige und hilfsbereite Figur in seinem Büro, als ihm die wohl ungewöhnlichste Frage angetragen wird, die er bisher zu beantworten hatte.

Sie wird ihm gestellt von Mr. Marshall, Direktor des Garden State Cryonics Institute, einer Einrichtung, die mit

"Leichen von kürzlich Verstorbenen zu tun [hat], die sich in der Hoffnung einfrieren lassen, dass es eines Tages einen Weg geben wird sie wieder aufzuwecken und ihre Krankheiten zu heilen" (S.26).

Einrichtungen solcher Art existieren tatsächlich in den USA. Es besteht die Möglichkeit nur den Kopf oder den gesamten Körper in flüssigem Stickstoff gegen entsprechende monatliche Gebühr aufbewahren zu lassen.

"Wer hat einen unserer Köpfe gestohlen, Mr. Hoenig?" (S.28)

Eine sehr interessante Frage, die sofort Samuels Neugier weckt, er nimmt den Auftrag an und bittet Ms. Washburn, die gerade ihren Job bei der Zeitung verloren hat, für diesen Tag mit ihm zusammenzuarbeiten.

Nachdem sie am Institut angekommen sind, begeben sie sich an den Ort, an dem der Kopf von Rita Masters-Powell unter strengen Sicherheitsvorkehrungen - dazu gehört eine permanente Video- und Audioüberwachung-  aufbewahrt wurde. Dabei begegnen Samuel und Ms. Washburn Commander Johnson, dem Sicherheitschef, dessen Frau ihn gerade heute zufällig besucht und ihren Mann später bei der Befragung vehement verteidigen wird.

Als Samuel, Mr. Ackermann und Ms. Washburn den Lagerraum im Schutzanzug betreten wollen, lässt sich die Tür nicht öffnen. Es stellt sich heraus, dass die Leiche von Doktor Rebecca Springer, die für das Institut gearbeitet hat, diese blockiert.
Während Doktor Ackermann widerwillig die Polizei informiert - der Ruf seines Institutes steht schließlich auf dem Spiel - analysiert Samuel den Tatort. Anscheinend ist die Ärztin erstickt, denn der Behälter, in dem sich Rita Masters-Powells Kopf befand, liegt am Boden und ist durch einen Schuss beschädigt worden, so dass der flüssige Stickstoff entweichen konnte.

Viele Fragen bleiben jedoch ungelöst:
Warum trug Doktor Springer keinen Schutzanzug?
Wie konnte sie den gekühlten Behälter überhaupt anfassen?
Warum liegt dieser hinter der Leiche?
Und natürlich die wichtigste: Wo ist Ms. Masters-Powells Kopf?

Detective Lapides trifft ein und übernimmt den Fall, allerdings scheinen seine Fähigkeiten eine Ermittlung zu leiten, begrenzt zu sein, so dass er auf Samuels Hilfe angewiesen ist.

Mit der Bloggerin Charlotte Selby, die sich selbst "Bürgerjournalistin" (S.109) nennt, erweitert sich der Personenkreis derjenigen, die zur Tatzeit am Tatort gewesen. Sie bloggt zu technologischen und spirituellen Themen und hat aus diesem Grund ein Interesse am Garden State Cryonics Institute. Zudem weiß sie sowohl von dem verschwundenen Kopf als auch von der toten Ärztin.
Schließlich tauchen auch noch Ritas wohlhabende Verwandte, ihr Bruder Arthur und ihre Mutter Laverne auf, die nicht bereit sind, die hohen Lösegeldforderungen der Diebe, die sich schließlich melden, zu zahlen.

Immer neue Tatverdächtige kommen für die Verbrechen in Frage und am Ende behält nur Samuel einen kühlen Kopf und löst den Fall und die Frage, die Ms. Janet Washburn in sein Büro geführt hat.


Bewertung
Jeff Cohen hat bereits zwei Sachbücher über das Asperger Syndrom verfasst. Indem er den Protagonisten seines Kriminalromans aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, ermöglicht der Autor den Leser*innen einen interessanten Einblick in die Denkweise eines Asperger-Autisten. Selbstbewusst erkennt Samuel seine Stärken, seine analytischen Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen emotionslos jede Situation zu untersuchen - ein unschlagbarer Vorteil für einen Detektiv.
Gleichzeitig ist er sich der Tatsache bewusst, dass er Hilfe dabei braucht, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und in Vernehmungen ihre Motive herauszufinden - in Ms. Washburn hat er jemanden gefunden, der ihn neben seiner Mutter unterstützt.
Sein Unvermögen in bestimmten Situation die richtigen Worte zu finden oder sein Gegenüber zu verstehen und seine Handlungsweise, die oftmals mit gesellschaftliche Konventionen bricht, bescheren den Leser*innen zahlreiche witzige Szenen. Mehr als einmal musste ich beim Lesen laut lachen. Samuels Tendenz, Redewendungen wörtlich zu verstehen oder die Sekunden einer Gesprächspause zu zählen, sorgen oft für Erheiterung.
Dabei wird die sympathisch erscheinende Figur niemals bloßgestellt. Dadurch, dass wir das Geschehen aus Samuels Perspektive wahrnehmen, wird plausibel, warum er etwas sagt oder nicht versteht und warum er wie handelt.

So befragt er die Familie Masters, während er selbst auf dem Laufband sein Fitnessprogramm absolviert - ein Vorschlag seiner Assistentin. Zuvor ist er in den Befragungen einfach aufgesprungen und durch den Raum gerannt - für ihn ein völlig normales Verhalten, für sein Gegenüber jedoch höchst seltsam und beängstigend.

"Es war zwar seltsam, dass ein Mann, der einfach nur versuchte, seine Herzfrequenz auf Touren zu bringen ausgewachsene Menschen so sehr verstören konnte, doch dass es so war, war nicht zu leugnen." (S. 152)

Der Roman weckt Verständnis für Samuels "Anderssein" und erklärt viele "typische" Eigenheiten von Asperger-Autisten, wie Unbehagen bei körperlichen Berührungen oder ihr Essverhalten.

"Für uns Menschen mit Asperger-Syndrom können Mahlzeiten sehr stressreich sein. Allgemein kann man sagen, dass unsere kulinarischen Vorlieben im Gegensatz zu denen anderer Menschen eher eingeschränkt sind." (S.197)

Ein Krimi mit einem ungewöhnlichen, interessanten Ermittler und einer klugen und sensiblen Assistentin, die einen skurrilen Fall gemeinsam lösen, wobei das Ende unerwartete Wendungen bereit hält.

Ein traumhaftes Duo, von dem es demnächst  einen weiteren Fall zu lesen geben wird.


Donnerstag, 18. Mai 2017

John Grisham: Das Komplott

- ein ausgeklügelter Racheplan.

Hörbuch von audible
gesprochen von Charles Brauer
14 Stunden 29 Minuten

Inhalt

"Ich bin Anwalt und sitze im Gefängnis", erzählt uns Malcolm Bannister. Er ist 43 Jahre alt und seit 5 Jahren im Gefängnis, 5 Jahre hat er noch vor sich. 8 Monate nach seiner Verhaftung lässt sich seine Frau von ihm scheiden und der Kontakt zu seinem inzwischen 11jährigen Sohn Bo bricht ab. Der Einzige, der ihn regelmäßig im Gefängnis besucht, ist sein Vater Henry, seine Schwester schreibt ihm einmal im Monat einen Brief.
Seine Strafe sitzt er in Frostburg, Maryland, ab, ein "Camp" mit geringen Sicherheitsvorkehrungen. Er arbeitet in der Bibliothek und hält dort seine Sprechstunden ab - als Knastanwalt. Malcom ist schwarz, hat jedoch auch, wie er selbst betont, Freunde unter den Weißen. Er sitzt wegen eines Wirtschaftsverbrechens, sein Fehler hat darin bestanden unwissentlich Gelder für Barry, den Schmiergeldzahler, rein zu waschen. Seine Naivität hat dazu geführt, dass er als kleiner Fisch in einem großen Netz gelandet ist und ohne bewusst ein Verbrechen begangen zu haben, nun im Gefängnis sitzt. Der Freund, der das Geschäft für ihn eingefädelt hat, hat nichts zu seiner Entlastung beigetragen.
Seine Situation verändert sich schlagartig, als er in der Zeitung liest, dass der Bundesrichter Raymond Fawcett tot in seiner Jagdhütte aufgefunden wurde, gemeinsam mit seiner Geliebten und einem geöffneten, leeren Safe. Das FBI tappt völlig im Dunkeln und kann keinerlei Spuren oder Verdächtige finden.
Damit schlägt Malcoms Stunde, er bietet dem FBI einen Deal an. Er präsentiert ihnen den Namen des Mörders, im Gegenzug kommt er aus dem Gefängnis frei und erhält eine neue Identität sowie den Schutz des FBI, sollte Anklage gegen den Mörder erhoben werden.

Quinn Rucker soll den Bundesrichter ermordet haben. In ihrer gemeinsamen Zeit im Gefängnis hat Rucker gegenüber Malcolm mehrfach damit gedroht, Fawcett umzubringen, da er eine Absprache in Bezug auf seinen Neffen nicht eingehalten habe - trotz entsprechender Bestechungsgelder.
Rucker ist vor einiger Zeit aus dem Camp geflüchtet und wird vom FBI mithilfe eines Tipps von Malcolm aufgegriffen. In einem 10-stündigen Verhör gesteht er schließlich die Tat und Malcolm kommt frei. Mittels einiger Schönheitsoperationen verändert er sein Äußeres, seinen Name lautet nun Max Reed Baldwin und er erhält die vom FBI versprochene Belohnung.

Er bezieht eine Wohnung in Florida und genießt den Schutz der Bundespolizei. Schnell wird deutlich, dass er dieser nicht traut - der Ich-Erzähler Max/Malcom - stellt die Hörer/innen vor Rätsel, da er geheime Bankkonten eröffnet, Schließfächer erwirbt und eine fiktive Filmfirma eröffnet.
Was hat er vor?
Währenddessen widerruft Rucker sein Geständnis und es kommt auf die Zeugenaussage Max an, da ansonsten keine objektiven Beweise gegen Quinn vorliegen. In dieser Situation belauscht das FBI ein Telefongespräch von Quinns Bruder Dee Ray mit einem Unbekannten, das darauf schließen lässt, dass die Familie Ruckers die neue Identität Malcolms sowie seinen neuen Aufenthaltsort kennen.

Max beschließt daraufhin, sich in Zukunft selbst zu schützen möchte und taucht unter. Er nimmt Kontakt zu Nathan Cooley auf, unter dem Vorwand einen Film über seinen Bruder drehen zu wollen, der von Polizisten erschossen wurde. Gleichzeitig trifft er sich mit Vanessa, einer Frau, die er aus dem Gefängnis kennt und in die er sich während ihrer Besuche, die einem anderen Insassen galten, verliebt hat.
Der Rachefeldzug beginnt und erst gegen Ende offenbart sich die Genialität seines wohl durchdachten Plans...

Bewertung
Der Roman ist überwiegend aus der Perspektive Malcolm Bannisters verfasst, der uns als Ich-Erzähler Einblick in seine Gedanken gibt, den Plan aber erst am Ende offenbart. Die Spannung bleibt so bis ganz zum Schluss erhalten, schon mit seinem Untertauchen ahnt man, dass die Geschichte komplizierter als zunächst gedacht verläuft und dass der Verrat vielleicht keiner ist.
Obwohl es immer wieder einige Hinweise auf den Plan gibt, tappt man lange im Dunkeln. Das Ende hätte durchaus gekürzt werden können, da nichts Unvorhergesehenes mehr geschieht und die Rache an der Justiz, die Malcolm "unschuldig" ins Gefängnis gebracht hat, gelingt.
Die Tatsache, dass der Protagonist schwarz ist, wird oftmals erwähnt, ein Zeichen dafür, dass die Hautfarbe immer noch eine entscheidende Rolle spielt. Sei es, dass er vor Gericht strenger beurteilt worden ist, dass er als Anwalt wenig Erfolg hatte, er sich einen Wohnort suchen muss, an dem er nicht auffällt. Insofern hält der Thriller der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor - vor der Justiz sind eben nicht alle gleich. Gleichwohl steht diese Thematik für mich nicht im Vordergrund, sie schwingt mit - die Rache und deren perfekte Ausführung, der Wunsch nach Gerechtigkeit, sind jedoch die Hauptthemen.

Ein spannender Thriller, der hervorragend von Charles Brauer gelesen, ein echter Hörgenuss ist.

Dienstag, 16. Mai 2017

Kristina Bilkau: Die Glücklichen

"Doch es gibt keinen Anspruch auf Sicherheit." (S.292)


Gebundene Ausgabe, 300 Seiten
Luchterhand, 16. März 2015

Inhalt
Die Cellistin Isabell und der Journalist Georg leben gemeinsam mit ihrem halbjährigen Sohn Matti in einer Altbauwohnung in Hamburg. Das Haus wird kurz vor dem Winter saniert und verschwindet unter einem Plastikvorhang. Isabell spielt abends in einem Musical im Orchestergraben, während Georg tagsüber bei der Zeitung arbeitet. Alles scheint perfekt, die Brötchen kommen von einer "Manufaktor", der Blumenladen um die Ecke nennt sich "Floristenwerk", sie kaufen im Feinkostladen - wohl situierte Mittelschicht, ein glückliches Paar, eine gesicherte Existenz.

Isabells Rückkehr in den Beruf erweist sich jedoch als große psychische Belastung, während ihres Solis zittern ihre Hände.

"Jeder konnte ihr dabei zusehen: Sie hatte den Klang verloren, und die Leichtigkeit." (S.18)

Keiner spricht sie offen darauf an und sie weigert sich, darüber mit Georg zu sprechen oder sich Hilfe zu suchen, aus Angst, dann werde ihr Leiden real.
Der Roman thematisiert auch ihre Wut auf Matti, wenn er ihr keine Zeit, keine Ruhe zum Üben lässt. Ungefiltert lesen wir Isabells Gedanken.

"Beide sind sie erschöpft und zornig, "sei still", spricht sie leise in sein Ohr, "sei doch still, bitte", der letzte Funken Fürsorglichkeit verglimmt, sein Geschrei verschlingt jedes ihrer Worte." (S.32)

Bilkau schreibt nieder, was junge Eltern denken, aber niemals zugeben würden. Die Momente, in denen man sich wünscht, das Kind wäre einfach still, man müsste sich nicht mehr kümmern, man dürfe schlafen und sich ausruhen, die sofort von Reue, Fürsorge und Liebe gegenüber dem Kind abgelöst werden - ungeschminkte Wahrheit.

Dazu gehören die Besuche bei Georgs Mutter, die in einem ehemaligen Elektrogeschäft lebt, das irgendwann von den großen Discountern verdrängt wurde. Ein lästiger Pflichtbesuch für Isabell.

Während ihr eigenes Haus saniert wird, in dem Isabell schon mit ihrer Mutter gelebt hat, verliert sich Georg in Tagträumen vom Aussteigen, während er sich Häuser im Internet ansieht, am Meer, auf dem Land, Bauernhäuser und Villen. Das inspiriert ihn zu einer Reportage über Menschen, die es versuchen und er trifft auf ein Paar, das sich bemüht alles selbst herzustellen.

"Gibt es etwas, das du vermisst, seitdem du hier lebst?" Björn schaut ihn geradewegs an, "Freunde nicht. Die Arbeit nicht. Das Nachtleben auch nicht." Er überlegt weiter. "Du merkst, ich kann dir nur sagen, was ich nicht vermisse. Im Prinzip vor allem - dieses allgegenwärtige Vergleichen. Mich mit den anderen, und umgekehrt. Das bin ich los. Und daraus ergibt sich der Rest." "Was meinst du mit Rest?" Daraus ergibt sich, dass ich mir nichts mehr kaufen muss. Um dem Vergleich standzuhalten." (S.94)

Isabell stellt diese Vergleiche an, sie schaut sich das Glück einer Amsterdamer Familie an, die freizügig Fotos in den sozialen Medien postet, während sie selbst sich krank schreiben lässt. Auch in der Physiotherapie schweigt sie ihr eigentliches Problem - das Zittern der Hände beim Auftritt - tot.

Zeitgleich mit der abgeschlossenen Sanierung des Hauses verliert Georg seinen Job, während das Haus in neuem Glanz erstrahlt, gerät die gesicherte Existenz der Familie ins Wanken.

Der 2.Teil, der ein halbes Jahr später spielt, schildert die sich verändernde Situation. Georgs vergebliche Arbeitssuche. Er will sich weder unter Wert verkaufen noch außerhalb der Stadt arbeiten. Isabells bestehenden psychischen Probleme, die sie daran hindern, erneut irgendwo vorzuspielen. Die Lage spitzt sich zu und belastet zunehmend ihre Ehe. Während Georg sich den neuen Gegebenheiten anpassen möchte, sparen, günstigen Urlaub, ein Haus auf dem Land ansehen, hält Isabell krampfhaft am alten Leben fest, möchte nicht wahrhaben, dass sie sich nicht mehr alles leisten können, vergleicht jetzt, mit dem, was war.

"Urlaub ist ein Gradmesser dafür, wie gut oder schlecht es läuft. Alles wird zum Indiz. Ob es die enge Ferienwohnung mit Kunstledersofa ist oder das Strandhotel mit Meerblick und Kinderbetreuung, ob das Ziel mit dem Auto zu erreichen ist oder eine halbe Weltreise entfernt liegt, ob nur im Sommer verreist wird oder es im Winter noch in den Schnee oder irgendwohin, wo Palmen wachsen, geht, alles ist verräterisch." (S.157)

Die Angst, es nicht zu schaffen, dominiert ihr Leben, aus der schönen Wohnung ziehen zu müssen, unter Wert arbeiten, aber sie haben keine Idee, aus der Situation herauszukommen. Isabell wirkt apathisch, Georg zunehmend verbittert und verzweifelt. Jeder glaubt, der andere gebe ihm bzw. ihr die Schuld - Schweigen dominiert die Gespräche.

In einem Gespräch mit ihrer ehemaligen Mitbewohnerin aus dem Studium und Freundin offenbart sich Isabell, dass sie nie ein Risiko gewagt hat, immer nur vorsichtig gewesen ist.
Findest sie deshalb keinen Ausweg? Werden die beiden gemeinsam noch einen finden?

Bewertung
Ein Roman, der direkt aus dem Leben gegriffen scheint und ein realitätsgetreues Bild eines Paares mit Kind zeichnet, das plötzlich erkennen muss, dass sein wohl situiertes Leben in Gefahr ist. Eine Möglichkeit, die beide nicht einkalkuliert haben, die in ihrem Lebensentwurf nicht vorkommt. Ein Paar, das zunächst nicht bereit ist, seine Ansprüche zu reduzieren, Veränderungen zuzulassen, das geglaubt hat, alles würde immer so weiter gehen.

Die Ängste und Sorgen der beiden sind nachvollziehbar, ihre Handlungsweisen verständlich. Jeder, der selbst Familie, Beruf, ein Haus oder eine Wohnung hat bzw. zur Miete wohnt, kennt diese Existenzängste und die Gedanken daran, was wäre, wenn ich meinen Job verliere. Werde ich meinen Lebensstandard halten können? Was werden die anderen sagen? Gehöre ich noch dazu?

In diesem Roman werden diese Gedanken greifbare Realität und fordern uns dazu auf, über unser eigenes Leben nachzudenken. Ein großartiger Gesellschaftsroman, der das Ansprüche einer Generation (meiner Generation) genau unter die Lupe nimmt. Einer Generation, in der Niederlagen nicht vorkommen dürfen, sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe am Kaufverhalten und den Konsumgewohnheiten widerspiegelt.
Am Ende des Romans, der aufgrund eines Erlebnisses die Einstellung der Figuren zu verändern scheint, erkennt Isabell im Zusammensein mit ihrem Mann und ihrem Sohn, wie vollkommen dieser Moment jetzt ist,

"denn wie vollkommen etwas war, lässt sich oft erst viel später verstehen. Mit der Zeit reifen Momente zu etwas heran, erst dann kristallisiert sich heraus, das war es, das Glück."

In der Intimität der Familie - fernab von materiellen Zwängen und Zukunftsängsten - sind sie "Die Glücklichen."

Danke an Renie´s Lesetagebuch, die mir diesen ehrlichen und wunderbaren Roman ans Herz gelegt hat.

Samstag, 13. Mai 2017

Jeff Talarigo: Die Perlentaucherin

- die bewegende Lebensgeschichte einer Leprakranken, die auf historischen Fakten beruht.


Taschenbuchausgabe, 240 Seiten
btb, August 2007



Inhalt
Im August 1948 erkrankt eine junge, japanische Perlentaucherin an Lepra. Damit ist ihr Traum, ihr Leben dem Tauchen und dem Meer zu widmen, in Gefahr. Bis jetzt hat sie sich jeden Morgen auf den Weg zum Seto-Inlandsee gemacht, ist gemeinsam mit den anderen Taucherinnen in einem Boot nach draußen gefahren, hat ihren Holzbottich ins Wasser gelassen und ist bis 15 Meter in die Tiefe getaucht, um essbare Meerestiere vom Boden heraufzuholen  - und das ohne Sauerstoffzufuhr. Eine anstrengende, harte Arbeit, aber genau das, was sie will und manchmal findet sie eine Perle.

Als sie sich an einem Felsen schneidet und keine Schmerzen an der Stelle spürt, sucht sie einen Arzt auf, der ihr soziales Todesurteil fällt: Sie hat Lepra.

pixabay
In ihrer Verzweiflung versteckt sie sich, wird jedoch von Polizisten gefunden und zur Insel Nagashima gebracht, auf der sich ein Leprosorium, ein "Sanatorium" für Leprakranke befindet.

In Japan wurden bis 1996 (!) Menschen mit Lepra isoliert, basierend auf einem Gesetz aus dem Jahr 1931. Dieses wurde 1953 angepasst, obwohl es bereits neue medizinische Erkenntnisse über Ansteckungsgefahr, Ursachen und Heilung der Krankheit gab. Die Ausgrenzung geht zurück auf eine tief sitzende Furcht vor Ansteckung und dem Glauben, die Krankheit sei ein Fluch. Die Perlentaucherin ist mit der Einlieferung in das Leprosorium für ihre Familie gestorben und wird aus dem Register gestrichen. Ein neues Leben, abseits von der Gesellschaft beginnt. Sie muss sich einen neuen Namen geben und benennt sich nach jenem Berg, den sie gemeinsam mit ihrem Onkel im Alter von 9 Jahren bestiegen hat - Fuji.

Der Roman, größtenteils aus der personalen Perspektive von Frau Fuji erzählt, Nummer 2645, schildert das Leben der Perlentaucherin in der Isolation anhand verschiedener Artefakte, die auf der Insel gefunden wurden.

"Jedes Artefakt hat ein Dutzend Geschichten - tausend." (S.43)

Es sind die hinterlassenen Habseligkeiten Frau Fujis und anderer Kranker, ergänzt um ihre mündlich erzählten Geschichten und die, die Fotos erzählen, wie das, vom 25.6.1949, auf dem der Gesundheitsminister und die dreizehn Leiter der Leprosorien des Landes zu sehen sind, die sich weigern, die Isolation der Leprakranken aufzuheben.

Eine rostige Sichel erzählt  die Geschichte eines Lepra-Kranken, der sich die infizierte Hand damit abgetrennt hat und gestorben ist. Alle Toten müssen verbrannt werden, Frau Fuji sorgt dafür, dass die Hand mit ihm gemeinsam verbrannt werden kann.
Eine handgemalte Landkarte einer kleinen Insel verzeichnet den Lieblingsort Frau Fujis, die man erreicht, wenn Ebbe herrscht. Die "Flaschenkürbisinsel" enthält einen kleinen Schrein, der im Verlauf der Geschichte die Asche der toten Kinder beheimatet. Kinder, die abgetrieben werden musste, da die Leprakranken keinen Nachwuchs haben durften. Ein besonderes dunkles Kapitel des Umgangs mit den Leprakranken, die teilweise auch zwangssterilisiert wurden.

Frau Fujis Aufgabe besteht darin, die Kranken zu massieren, bei ihr ist die Krankheit nur an wenigen Stellen der Haut sichtbar, ansonsten geht es ihr recht gut. Das liegt auch am Medikament Promin, das den Insassen ab 1949 verabreicht wird und die Krankheit teilweise eindämmen kann, wenn sie noch nicht so weit fortgeschritten ist. Weitere Medikamente führen zur Heilung, doch die Situation verändert sich nicht.

Als sehr gute Schwimmerin gelingt es Frau Fuji, die gegenüberliegende Bucht zu erreichen und nachts durch die Straßen der kleinen Stadt zu wandern - ungesehen.
Nur zwei Kindern winkt sie gelegentlich zu und hinterlässt ihnen kleine Geschenke. Ihre heimlichen Fluchten bleiben jedoch nicht unbemerkt und sie wird in die Isolationshaft gesteckt, was zu einem Aufruhr der Insassen führt, der blutig niedergeschlagen wird, jedoch auch kleinere Verbesserungen mit sich bringt.
Es gäbe unzählige weitere, kleine Geschichten zu erzählen, von der Grausamkeit dieses Ortes, aber auch von der Menschlichkeit und Güte der Insassen, die sich gegenseitig stützen und Wege finden, in der Isolation leben zu können.

Nach vielen Jahrzehnten auf der Insel kann Frau Fuji sich nicht mehr vorstellen, diesen Ort zu verlassen, obwohl sie gesund ist und sich eine allmähliche Öffnung der Leprosorien anbahnt.
Ein Ausflug nach Kyoto mit einem Musikensemble des Leprosoriums und ein Rückkehr zu ihrem Heimatort, an dem die Perlentaucherin nur noch eine Touristenattraktion sind, führt sie zurück nach Nagashima, das ihr letztlich zur Heimat geworden ist und sich zu seinen Gunsten verändert hat.

Bewertung
Die Geschichte Frau Fujis hat mich sehr bewegt. Wie konnte man Menschen trotz besseren medizinischen Wissens jahrzehntelang isolieren und solchen inhumanen Gegebenheiten aussetzen?
Die Schilderung der Eingangsuntersuchung von Frau Fuji offenbart das Menschen verachtende Verhalten des Personals, wobei es auch Ausnahmen gegeben hat.
Berührend ist das Verhalten der Isolierten untereinander - es gibt so viele Zeugnisse von Menschlichkeit, von Güte, Mitleid und Mut. So entschließt sich Frau Fuji, die als Strafe für ihren angeblichen Fluchtversuch bei den erzwungenen Abtreibungen assistieren muss, die toten Kinder aus der Mülltonne zu nehmen, sie zu verbrennen und in einer Urne im Schrein zu verstecken, damit sie eine letzte Ruhestätte haben und von ihren Eltern besucht werden können.
Sie transkribiert einem blinden Leprakranken die Kassetten, die er mit Worten bespricht, aus denen Tankas entstehen; begleitet und betreut die Kranken und bleibt bis zu ihrem Ende als Krankenschwester auf der Insel.

Eine tragische Lebensgeschichte! Frau Fuji musste ihren Traum, eine Perlentaucherin zu sein, aufgegeben, weil die Verantwortlichen für die Leprakranken sich gegen medizinische Erkenntnisse für ihre weitere Isolation ausgesprochen haben.

Ein dunkles Kapitel der japanischen Geschichte, feinfühlig erzählt.

Freitag, 12. Mai 2017

Haruki Murakami: Südlich der Grenze, westlich der Sonne

- "Gefährliche Geliebte" - neu übersetzt.


Taschenbuchausgabe, 224 Seiten
btb, August 2015

Inhalt
Hajime, am 4.1.1951 geboren, ist Einzelkind und lebt im Vorort einer japanischen Stadt.
Dass er keine Geschwister hat, empfindet er als Makel, denn es herrscht der Glaube, dass Einzelkinder

"von ihren Eltern verwöhnt, schwächlich und egoistisch [sind]" (S.8) und eine "echte Rarität" (S.9).

Während der Grundschulzeit lernt er Shimamoto kennen, ein Mädchen, ebenfalls Einzelkind, die zusätzlich unter psychischem Druck steht, da sie ihr linkes Bein etwas nachzieht - Folgen einer Kinderlähmung.
Die beiden freunden sich an, hören gemeinsam Musik, Schallplatten ihres Vaters - klassische, aber auch Jazz.
"Ptretend" von Nat King Cole wird ihr gemeinsames Lieblingslied. Sie haben einen besonderen Verbindung, ein Verlangen nacheinander, das sie mit ihren 11 Jahren noch nicht benennen und stillen können.

"Auch ich fühlte mich auf diese Weise zu ihr hingezogen, wusste aber nicht, wie ich damit umgehen sollte. Shimamoto ging es vermutlich ebenso. Ein einziges Mal nur nahm sie meine Hand, um mich irgendwohin zu ziehen [...]. Sie hielt sie nur etwas zehn Sekunden fest, die mir jedoch wie eine halbe Stunde vorkamen. [...] Noch heute erinnere ich mich genau, wie ihre Hand sich angefühlt hatte." (S.19/20)

Als Shimamoto umzieht, verliert Hajime sie aus den Augen - ein Fehler, wie er im Rückblick feststellt - die Sehnsucht nach ihr begleitet ihn.

In der Oberschule beginnt er mit dem Schwimmtraining, was ihm neues Selbstbewusstsein schenkt, und hat seine erste Freundin - Izumi, die er mit seiner ersten Liebe vergleicht:

"Sie war natürlich ganz anders als Shimamoto. Sie konnte mir nicht geben, was Shimamoto mir gegeben hatte." (S.32)

Sehr einfühlsam schildert der Ich-Erzähler die Begierden des Heranwachsenden und das Zögern seiner Freundin, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Schließlich endet diese Beziehung - wie will ich hier nicht verraten.

Nach einem Studium der Literaturwissenschaften arbeitet Hajiumi in einem Schulbuchverlag - eine Tätigkeit, mit der sich überhaupt nicht anfreunden kann und die ihn nicht ausfüllt.
Einmal in dieser Zeit glaubt er Shimamoto im Gewühl zu entdecken, da die Frau auf die gleiche Art und Weise ihr Bein nachzieht, wie sie es getan hat. Er folgt ihr, traut sich jedoch nicht sie anzusprechen, unsicher, ob sie es wirklich ist. Als er ihr ins Taxi folgen will, hält ihn ein Mann fest und bietet ihm viel Geld, damit er die Frau in Ruhe lässt - eine mysteriöse Begegnung, die bis zum Ende des Romans nicht aufgeklärt wird.

Hajimi heiratet mit 30, Yukiko, deren Vater ein reicher Geschäftsmann ist und es ihm ermöglicht, eine elegante Jazz-Bar zu eröffnen. Eine Aufgabe, die ihn erfüllt und ihn glücklich macht, ebenso wie seine beiden Töchter.

Dann sitzt eines Tages Shimamoto in der Bar...

Bewertung

Wie bei "Lebensgeister" hatte ich zunächst Probleme, in den Schreibstil hineinzukommen. Es ist der erste Roman, den ich von Haruki Murakami lese und ich bin unschlüssig, wie ich den Roman bewerten soll.
Die Geschichte trägt auf jeden Fall, man möchte weiterlesen, wissen, wie die Liebesgeschichte zwischen Shimamoto und Hajimi ausgeht. Die sexuellen Erlebnisse sind mit sensiblen Worten geschildert, die nie peinlich berühren oder abstoßend wirken. Die Reflexionen und Erkenntnisse des Ich-Erzählers und auch seine Handlungen sind plausibel und nachvollziehbar.
Problem für mich ist, dass unglaublich viele Fragen offen bleiben. Vage erhält man einen Eindruck von Shimamotos Leben, eine Ahnung, warum sie so unglücklich ist. Vieles wird angedeutet und das Ende ist offen für die Interpretationen der Leser/innen - für meinen Geschmack zu offen.
Es ist eine schöne Liebesgeschichte, die auch die Zeit nach einer "Affäre" thematisiert. Die nicht ausspart, wie verletzend ein solcher Verrat für die andere ist. Wie geht ein Paar damit um? Dieser Teil der Geschichte wird gut erzählt - nur Shimamoto bleibt ein nicht zu fangender schöner Schmetterling.

Ich werde bestimmt noch einen Roman dieses bekannten japanischen Autors lesen und dann entscheiden, ob weitere folgen werden.


Mittwoch, 10. Mai 2017

Philippe Grimbert: Ein Geheimnis

- eine wahre Geschichte.

Taschenbuchausgabe, 180 Seiten
Suhrkamp Verlag, 10.April 2017
Französische Originalausgabe, "Un secret", 2004


Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
"Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. Meine Ferienbekanntschaften, meine Spielgefährten mußten mir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen dieses Märchen auftischte. Ich hatte einen Bruder. Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar. " (S.9)

Philippe, 1948 in Paris geboren, ist ein schwächliches Kind, zur Enttäuschung seiner athletischen Eltern Maxime und Tania, beide Leistungssportler.

"Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ihnen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängen des Louvre betörten." (S.18)

Gemeinsam betreiben sie einen Großhandel mit Trikotagen und Strickwaren.
Nebenan lebt die 60-jährige Louise, die eine Gesundheitspraxis betreibt, den Jungen behandelt und ihm eine Freundin wird.
Nachdem er seine Mutter auf den Dachboden ihres Apartments begleitet hat, findet er dort einen kleinen Stoffhund, was Tania offensichtlich Unbehagen bereitet.

"In der darauffolgenden Nacht preßte ich zum ersten Mal meine nasse Wange an die Brust eines Bruders. So war er in mein Leben getreten, und ich würde ihn nie mehr allein lasen." (S.11)

Der fiktive Bruder ist im Gegensatz zu Philippe stark, selbstbewusst und mutig und der Stolz seiner Eltern, die eine mustergültige Ehe zu führen scheinen. Doch ihre Geschichte basiert auf einer Lüge, die mit dem Nachnamen beginnt.

"Ihren Erzählungen nach hatte ich schon immer diesen in unserem Land sehr gebräuchlichen Namen. Meine Abstammung verurteilte mich nicht mehr zum sicheren Tod, ich war nicht mehr jener dürre Zweig an der Spitze eines Stammbaums, den es zu kappen galt." (S.13)

Aus dem Namen Grinberg wird "Grimbert", Philippe, offensichtlich jüdischer Abstammung, ist auch getauft.

"So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meiner Geburt betrieben hatten: Es begrub alles unter sich, was geheimgehalten und verschwiegen wurde, verstümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, die Scham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch immer." (S.14)

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive Philipps verfasst, ein erzählendes Ich, das eine Distanz zum Erlebten aufgebaut hat. Mit Hilfe von Louise erstellt er diesen Lebensbericht, der die Lüge seiner Familie aufdeckt.

Erzählt wurde ihm, dass sich Maxime, Sohn rumänischer Einwanderer unsterblich in die Turmspringerin Tania verliebte, die allein von ihrer Mutter, eine Schneiderin groß gezogen worden war. Während der Besetzung Frankreichs flüchteten sie in die freie Zone, erlebten den Krieg

"auf einem Landsitz am Ufer der Creuse bei einem pensionierten Oberst der dort mit seiner Tochter lebte, einer ledigen älteren Dame, die Lehrerin war. Fern des Kriegslärm ist der Marktflecken eine Insel der Ruhe." (S.44)

Dort warten sie den Krieg ab und leben scheinbar ohne Entbehrungen in Frieden, während Louise sich um ihr Geschäft in Paris kümmert. Zwar erzählt ihm Louise von der Verfolgung der Juden, jedoch ohne zu erwähnen, dass sie selbst verfolgt wurde.

Als Philippe 15 Jahre alt ist, wird er im Geschichtsunterricht mit den Gräueln der Nationalsozialisten und den Konzentrationslagern konfrontiert. Er verprügelt einen stärkeren Mitschüler, der sich über die gezeigten Bilder lustig macht. Nachdem er Louise davon erzählt hat, verändert sich ihr Verhalten und die Geschichte seiner Eltern, die ebenfalls Juden sind, erhält Risse.

Lange hat Louise das Geheimnis von Philipps Eltern gewahrt, doch jetzt entrollt sie Schritt für Schritt die Wahrheit. Darüber, dass es tatsächlich einen Bruder gegeben hat, Simon, der Sohn von Maxime und Hannah - der ersten Frau seines Vaters. Tania ist demnach zunächst Maximes Schwägerin, da sie mit Hannahs Bruder Robert verheiratet ist. Doch schon während seiner eigenen Hochzeit verfällt Maxime Tanias Schönheit, so dass er sich während seiner Hochzeitsnacht zwingen muss, nicht an sie zu denken.
Simon wird geboren, während die braune Gefahr näher rückt. Mit der Besetzung Paris und der Deportation der ersten Juden steht außer Frage, dass die Familie in die freie Zone muss, während Robert im Krieg kämpft. Fast allen gelingt die Flucht zu jenem Landsitz an der Creuse und Philippe erfährt, zu welcher Tat sich Hannah hat hinreißen lassen und mit welcher Schuld seine Eltern seit jener Zeit leben müssen.
Sehr berührend sind das Ende Tanias und Maxime, das zeigt, wie sehr sich die beiden trotz der Schuld geliebt haben, und die Erleichterung Maximes, als Philippe ihn nach vielen Jahren von der Lüge befreit..

Bewertung
Philippe Grimbert deckt schonungslos die Lügen seiner Familiengeschichte auf, erzählt mit wenigen, aber bewegenden Worten von der Verzweiflungstat einer jungen Mutter, die sich betrogen fühlt und sich und ihr Kind der Gewalt eines unmenschlichen Regimes überlässt.
Diese Szene ist die seltsamste des Romans.
Warum entscheidet sich Hannah auf der Flucht, sich und den Jungen zu opfern, damit Tania und Maxime ein Paar werden können? Ein Liebesakt? Eine Verzweiflungstat? Wie kann sie das gegenüber ihrem Kind rechtfertigen? Und wie können die anderen Flüchtenden - Louise und Esther - mit dieser Schuld weiterleben. Wie können Maxime und Tania mit dieser Schuld weiterleben, auch wenn sie glaubten, Hannas Verhaftung sei ein Versehen gewesen?

Viele Fragen, die menschlich bewegen, aber nicht vergessen lassen, dass die Situation erst aufgrund der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten entstanden ist.
Philippe Grimbert rechnet gnadenlos mit den Nazi-Regimes ab, auch mit der Kollaboration. Er verurteilt den damaligen Ministerpräsidenten Pierre Étienne Laval, der sich

"-um die Familien nicht zu trennen, wie er später zu seiner Verteidigung vorgab - dafür stark gemacht [hat], daß jüdische Kinder unter sechszehn Jahren zusammen mit ihren Eltern deportiert wurden." (S.170)

Welch ein Zynismus, muss er doch gewusst haben, dass die Kinder ihrem sicheren Tod entgegen gehen. Laval wurde zwar verurteilt und hingerichtet, sein Schwiegersohn hat jedoch versucht, ihn zu rehabilitieren, ebenso wie die Werke des antisemitischen Publizisten Brasillach in Frankreich "wiederentdeckt" werden.
Der Blick auf die Wahlen vergangenen Sonntag in Frankreich zeigt, dass Biographien, Lebensberichte und Romane aus der Zeit des Nationalsozialismus keineswegs von gestern sind, sondern es wichtig bleibt, gegen das Vergessen anzuschreiben und die Lügen, die rechte Populisten verbreiten, zu widerlegen.

Der Autor Philippe Grimbert, der Psychoanalyse studiert hat, da
"Louise, die so gut zuhören konnte, die mir die Türen geöffnet hatte, [es] mir ermöglichte, die Schatten zu vertreiben, sie verschaffte mir Zugang zu meiner Geschichte" (S.160) -

trägt mit seiner lesenswerten Familiengeschichte und damit, dass er die Spuren seines Bruders verfolgt und ihn in einem Buch verewigt, dazu bei, dass nichts vergessen wird.





Donnerstag, 4. Mai 2017

Nathan Hill: Geister

der Vergangenheit, die in die Gegenwart spuken.

Hörbuch von audible
gelesen von Uve Teschner
23 Stunden 49 Minuten

Inhalt
Prolog
Ganz leise schleicht sich Faye Anderson aus dem Leben ihres Sohnes Samuel Anderson und ihres Mannes Henry. Der Weggang seiner Mutter ist ein Ereignis, das das Leben des Jungen entscheidend prägen wird.

Jene Faye Anderson verübt im Sommer 2011 einen Anschlag auf Gouverneur Packer, der erstaunliche Ähnlichkeiten mit Donald Trump aufweist - was sein Auftreten und seine politische Meinung betreffen. Sie bewirft ihn in einem Park mit Kieselsteinen, wobei sie unglücklicherweise sein Auge verletzt. Die Tat wird von den Medien als terroristischer Angriff einer Linksradikalen aufgebauscht. Es wird bekannt, dass Faye an den Chicagoer Aufstände 1968 beteiligt gewesen ist, wie ein Foto eindeutig beweist, und sie als Prostituierte verhaftet wurde.
Um sie zu entlasten, kontaktiert die Anwaltskanzlei Rogers&Rogers den Literaturprofessor Samuel Anderson, damit er dem Richter einen Brief schreibt, indem er seine Muttter mit liebevollen Tönen schildert. Dabei hat Samuel seine Mutter seit Sommer 1988 nicht mehr gesehen und keinen Kontakt mehr zu ihr, er wusste nicht einmal, dass sie in Chicago studiert hat und dort verhaftet wurde.

Samuel Leben hat sich nicht zum Positiven entwickelt: Er ist geschieden, hat Schulden, verbringt sehr viel Zeit in der virtuellen Welt von "Elfscape", einem Internet-Computerspiel. Zudem hat er Ärger mit einer Studentin, die er durchfallen lässt, weil ihre Hausarbeit nicht von ihr selbst verfasst worden ist.
Zu Beginn seiner Collegezeit hat er eine Kurzgeschichte verfasst, die als vielversprechend galt. Daraufhin hat ihn der Verleger Periwinkle kontaktiert, um ihm einen Buchvertrag anzubieten. Das Geld hat Samuel längst ausgegeben, 10 Jahre danach existiert aber immer noch kein Buch, jetzt soll er liefern oder er wird verklagt, das Geld zurückzuzahlen. Samuel ist so verzweifelt, dass er seinem Verleger anbietet, die Geschichte seiner Mutter, der Packer-Attacker, zu schreiben. Dieser ist begeistert, der Verriss einer Frau, die einen Gouverneur angreift und ihren Sohn verlassen hat - das wird die Leser/innen begeistern.

In dieser Lebenssituation erreicht ihn nun der Anruf und wirft ihn völlig aus der Bahn. Ausgerechnet er soll einen Brief für die Mutter schreiben, die sein Leben seiner Meinung nach in die falsche Richtung gelenkt hat.

Der Roman besteht aus10 Teilen, die in verschiedenen Zeiten spielen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, und in denen sich Schritt für Schritt die Geschichte Fayes zusammensetzt. Die Gründe, warum sie Samuel und ihren Mann verlassen hat, werden aufgedeckt und die Rolle der  "Geister" wird offenbar.

Im 2.Teil lernen wir den 11-jährigen Samuel kennen, dessen Weinerlichkeit seine Mutter kaum ertragen kann. Ein tristes Familienbild. Faye erzählt ihrem Sohn Geschichten von norwegischen Geistern, die ihr Vater, der aus Hammerfest stammt, ihr schon als Kind erzählt hat. Düstere, böse Geister bevölkern die Träume des sensiblen Samuels, der keine echten Freunde hat und spürt, dass er seiner Mutter nicht genügt.

Er lernt die Zwillinge Bishop und Bethany kennen. Während ersterer ein Enfant terrible zu sein scheint, ist seine Schwester ein musikalisches Wunderkind, eine Virtuosin an der Geige. Samuel verliebt sich in sie und freundet sich mit beiden an, wobei Bishop einen für Samuel unbegreiflichen Zorn in sich trägt und ständig Ärger verursacht. Besonders hat er es auf den Rektor seiner ehemaligen Schule abgesehen, aus der er rausgeworfen wurde.
Die Zwillinge verlassen die Stadt, fast zur gleichen Zeit, an dem auch Samuels Mutter ihn verlässt - ein traumatischer Verlust.
Er solle keine Angst haben, sagt Faye ihm zum Abschied, und fragt ihn, was er werden wolle. Schriftsteller - eine Antwort, die den Werdegang seines Lebens bestimmt, da sie ihm verspricht, alles von ihm zu lesen.

Zurück im Jahr 2011 schweigt sich seine Mutter allerdings über die Gründe ihrer Flucht aus, während die Studentin Laura einen betrügerischen Weg sucht, Samuel von der Universität zu entfernen.
Dieser beschließt sich nach dem wenig erfolgreichen Besuch bei seiner Mutter auf Spurensuche zu machen. Er besucht seinen dementen Großvater in Iowa, dort, wo seine Mutter aufgewachsen ist und erhält erste Hinweise auf ihre Studienzeit in Chicago.

Im vierten Teil, der im Jahre 1968, wird die Schlüsselszene des Romans erzählt. Fayes "Bekanntschaft" mit dem Nisse, einem norwegischen Hausgeist, den sie laut Aussage ihres Vaters verärgert hat, was ihre erste von vielen weiteren Panikattacken auslöst. Faye will fortan keine Fehler mehr machen, wird zur Musterschülerin und Perfektionistin, geht aber auch kein Risiko mehr ein. Sie erhält ein Stipendium für die Universität in Chicago. Sowohl ihre Eltern als auch ihr Freund Henry sind dagegen. Der Betrug einer Freundin führt dazu, dass sie aus der Kleinstadt flüchten muss - es wird nicht ihre letzte Flucht sein.

Der 5.Teil ist besonders gut komponiert. Samuel erzählt eine "Erfinde dein eigenes Abenteuer-Geschichte" und blickt zurück auf seine Entscheidungen. Schriftsteller ist er geworden, um seine Mutter, aber auch Bethany zu beeindrucken. In der Kurzgeschichte, die ihn "berühmt" gemacht hat, erzählt er die Geschichte Bishops, da Samuel inzwischen begriffen hat, woher dessen Zorn kommt. Ein Verrat an ihrer Freundschaft.
Eine Entscheidung muss er auch in Bezug auf Bethany treffen. In New York begegnen sie sich 2002 anlässlich einer Protestaktion gegen den Irak-Krieg.
Ein Brief von Bishop, geschrieben aus dem Krieg, beeinflusst diese Entscheidung. Erzählt wird in diesem Teil auch, unter welchen Umständen dieser Brief entstanden ist. Der Roman schlägt damit einen Bogen von den Chicagoer Aufständen (Fayes Geschichte) über Occupy Wall Street, da jedes Telefonat mit seinem Verleger vom Trommeln der Demonstranten begleitet ist, bis hin zum 11.September und dem darauffolgenden Irak-Krieg.

Im 6.Teil (2011) erscheint eine weitere Figur - ein neuer Handlungsstrang, der die Geschichte vorantreibt. Samuel macht mithilfe eines Elfscape-Kumpels die Freundin seiner Mutter ausfindig - Alice, die Frau, die auf dem Foto hinter seiner Mutter gesessen hat. Sie erzählt ihm, warum der Richter, der den Fall seiner Mutter verhandelt - Charles Brown - für Faye so gefährlich ist.

Teil 7 beleuchtet die Ereignisse 1968 in Chicago aus der Sicht Fayes, wie sie den attraktiven Sebastian kennen lernt, in welcher Beziehung Alice zu Charles Brown, damals Polizist, gestanden hat und unter welchen Umständen Faye der Prostitution bezichtigt wurde.
Gleichzeitig entsteht ein ungeschminktes Bild der 68er Bewegung in Chicago, ihres Idealismus und der Brutalität der Chicagoer Polizei.

Im Sommer 2011 (Teil 8) kommt auch der Richter Charles Brown, der inzwischen im Rollstuhl sitzt, zu Wort, bevor der nächste Teil die Ereignisse um Faye, Alice, Sebastian und Charles beleuchtet, an dem Tag der Studentenunruhen anlässlich des demokratischen Parteitages in Chicago (1968).

Viele Fäden entwirren sich in diesem vorletzten Teil, doch erst der letzte lässt alle Ereignisse und einige Figuren in neuem Licht erscheinen und hält überraschende Wendungen bereit.

Bewertung
Ein großartiger Roman, der die Geschichte einer Familie und der sie beherrschenden Geister erzählt. Von einer Frau, die Zeit ihres Lebens auf der Flucht vor dem Hausgeist ihres Vaters ist, der selbst ein Geheimnis birgt, auf der Suche nach ihrem wahren Ich und der eigenen Identität. Führt Fayes Verhalten zu Beginn des Romans dazu, dass man ihr Unverständnis entgegenbringt, wie kann ich mein Kind verlassen, wird diese Handlung im Verlauf des Romans plausibel und nachvollziehbar.
Am Beispiel Samuels zeigt er, dass man im Kreisen um die Frage, ob man die falschen Entscheidungen getroffen hat, in der Gegenwart nicht leben kann.

Ein Roman über Verlust, Verrat, aber auch über das Verzeihen können - sich und anderen.
Gleichzeitig ein großartiges Gesellschaftsbild. Da werden Computerspiele und ihre langfristigen Wirkungen auf die Spieler genauso unter die Lupe genommen, wie die Hohlheit von Apps wie "I feel...", die eine Empfindung wie Zweifel nicht gespeichert hat.
Die Glaubwürdigkeit politischer Vertreter und deren Wahlkampfmanager wird beleuchtet und in Frage gestellt. Der Verleger Periwinkle ist ein besonders gutes Beispiel für einen skrupellosen Opportunisten, der die Medien jederzeit für seine Interessen instrumentalisiert.
Und nebenbei bietet der Roman Einblicke in die studentischen Aufstände in Chicago 1968 und schlägt einen Bogen zur Occupy Wall Street Bewegung.

Zeit- und Entwicklungsroman, Familien- und Liebesgeschichte - wunderbar gelesen von Uve Teschner, der jeder Figur mit eigener Intonation und Akzent Leben schenkt.

Klare Leseempfehlung!


Mittwoch, 3. Mai 2017

Cristina De Stefano: Oriana Fallaci

- eine interessante Biographie über eine starke Frau.

Lesen mit Mira

Taschenbuch, 352 Seiten
btb, 12. September 2016


Vielen Dank an das Bloggerportal, das mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Wie es auf der Buchrückseite heißt, ist es dies die erste autorisierte Biografie der bekannten italienischen Journalistin Oriana Fallaci, oder wie sie genannt wurde, die Fallaci, die 1929 in Florenz geboren wurde und am 15. September 2006 gestorben ist.

Inhalt
Eigentlich wollte ihre Mutter Tosca sie gar nicht haben, da sie die Welt sehen und mit Künstlern verkehren will, statt dessen heiratet sie Edoardo und wird zum Aschenputtel seiner Familie. Die Trauer darüber, dass ihre kluge Mutter zur Dienstmagd degradiert wurde, hat Oriana zeitlebens angestachelt, hat ihren Ehrgeiz geweckt zu studieren, ein anderes Leben zu führen.
Auch ihr Vater hat sie von Anfang an geprägt:

"Edoardo Fallaci ist ein wortkarger Mann, er fordert sich selbst und andere. Seine Erstgeborene lässt er aufwachsen wie einen Soldaten." (S.11)

Er erzieht sie mit Härte und lebt Oriana den Mut vor, der sie besonders als Journalistin später auszeichnen wird.

"Edoardo und Tosca sind Orianas erste Helden, und sie wird ihr Leben lang der Eigenschaft des Mutes höchste Bedeutung beimessen." (S.16)

Die dritte wichtige Figur ihrer Kindheit ist ihr Onkel Bruno Fallaci, der Intellektuelle der Familie und erfolgreicher Journalist, der ihr die Tür zur Welt der Schreibenden öffnet.

Ihre Kindheit ist geprägt von Armut und vom Krieg. Ihr Vater, ein begnadeter Schreiner mit geringem Geschäftssinn, weigert sich trotz der schwierigen Zeiten in die faschistische Partei einzutreten, statt dessen schließt er sich dem Widerstand an.

"Bei den Fallacis ist es Familientradition, gegen die Obrigkeit aufzubegehren." (S.15)

Oriana selbst, geprägt von den Bombenangriffen auf Florenz, wird zur "Kurierin der Resistenza. Mit ihrem Fahrrad bringt sie den Widerstandskämpfern Flugblätter und Waffen" (Bild, S.160).

Neben den politischen Umständen, die sie prägen, ist es auch der soziale Hintergrund, der ihren Lebensweg bestimmt:

"Oriana wächst in einem Haus auf, indem viel gelesen wird und man die Bücher auf Raten kauft. Ihre Eltern sind leidenschaftliche Leser, was bei ihrer gesellschaftlichen Herkunft eher ungewöhnlich ist." (S.33)

Schon früh äußert sie den Wunsch Schriftsteller zu werden und liest alles, was sie in die Finger bekommen kann. Es gelingt ihr Abitur zu machen und zu aller Überraschung schreibt sie sich für Medizin ein. Da sie ihr Studium selbst finanzieren muss, sucht sie einen Job, sie wird Reporterin beim "Mattino" - dank ihres Auftretens, aber auch wegen ihres berühmten Onkels.
Anfangs schreibt sie nachts und geht tagsüber zu den Vorlesungen, doch das Arbeitspensum fordert seinen Tribut, so dass sie sich für die Zeitung entscheidet.
Bereits zu Beginn ihrer Karriere zeigt sich ihr einzigartiger Stil. Es gelingt ihr die Menschen zu entlarven, ihnen etwas zu entlocken, was sie nicht sagen wollten. Sie erzählt ihre Interviews, erwähnt aussagekräftige Details, macht sich selbst zur Protagonistin und stellt ihre persönliche Interpretation in den Mittelpunkt, wobei sie keinen Respekt vor Autoritäten hat und mutige Fragen stellt.

Berichtet sie zunächst vom Kino, von der High Society, stellt der Aufstand in Ungarn 1956 einen wichtigen Wendepunkt in ihrer Karriere dar. Fortan will sie sich nicht mehr mit Klatsch und Tratsch beschäftigen, doch zunächst erhält sie keine Chance, Kriegsberichterstatterin zu werden.
Ihr Weg führt sie nach Amerika, nach Hollywood, wo sie sich in der Welt des schönen Scheins einen Namen macht und darüber ihr erstes Buch veröffentlicht.

Zudem verliebt sie sich zum ersten Mal - in einen Kollegen, Alfredo Pieroni. Die verliebte Oriana ist besessen und ordnet alles ihrer Liebe unter. Das wirkt im Kontrast zur mutigen Journalistin etwas unverständlich, genauso wie ihre Erniedrigung gegenüber Alfredo, der sie offensichtlich nicht liebt. Die Zurückweisung und eine Fehlgeburt führen dazu, dass sie ernsthaft krank wird, unter Depressionen leidet und Selbstmordgedanken hegt. Sie realisiert, dass nur das Schreiben sie retten kann, und so kehrt sie zurück. "Mit einem Pokerface" (S.93) lebt sie fortan als freie Frau und bezeichnet die Liebe als Falle. Trotzdem wird sie sich wieder ernsthaft verlieben und ihre Erfahrungen jeweils literarisch verarbeiten.

Die zweite große Liebe lernt sie in Vietnam kennen, nachdem sie eine Zeit lang amerikanische Astronauten interviewt hat und ein Buch über die Eroberung des Mondes geschrieben hat.

"Das Kostbarste, was Vietnam ihr schenkt, ist nicht etwa der Ruhm - der mittlerweile international ist-, oder der Ran einer Kriegsberichterstatterin - der ihr den Weg zu Interviews mit den Mächtigsten der Welt ebnet -,sondern dieser Mann der wenigen Worte, fast ein Griesgram, der sie versteht und respektiert und der ihr Gefährte fürs ganze Leben sein könnte, wenn er nur wollte. " (S.179)

Fünf Jahre, bis 1973, dauert ihre Liebe an, Francois ist verheiratet und nicht bereit, sich von seiner Frau zu trennen. Genau wie bei ihrer ersten Liebe, bricht sie nach der Trennung jeglichen Kontakt ab. Sie könne nicht verzeihen, sagt sie über sich selbst.
Ihre nächste Liebe und ihr Held ist der griechische Widerstandskämpfer Alexandros Panagoulis, über den sie einen weiteren Roman "Un uomo" schreibt.
Ihr größter Erfolg wird der im September veröffentlichte Roman, "Brief an ein nie geborenes Kind", ein Dialog einer Mutter mit ihrem ungeborenen Kind, in dem Oriana ihre Fehlgeburten literarisch verarbeitet.

"Politisch gesehen ist Oriana in den Siebzigerjahren eine engagierte Journalistin. Sie glaubt an die Befreiung der Frau, an einen Kampf gegen jegliche Form der Unterdrückung, verurteilt die USA für ihre Unterstützung der Diktaturen in Südamerika und die Sowjetunion für ihren Umgang mit den Dissidenten. Die Tatsache, dass sie während des italienischen Faschismus und des Krieges aufgewachsen ist, lässt sie aus reinem Instinkt so reagieren." (S.190)

Sie wird eine politische Korrespondentin, ihr Interview-Stil Studieninhalt in Journalismus-Schulen in Amerika. Sie interviewt Golda Meir, Gaddafi, Khomeinie, Willy Brandt und viele andere politische Größen und stellt unbequeme und mutige Fragen. Sie setzt sich intensiv mit dem Islam auseinander und vertritt schon früh die These, dass der radikal-islamistische Terror die Bedrohung unserer westlichen Welt und Werte sei. Eine Befürchtung, die sie am 11.September 2001 bestätigt sieht. In ihren Artikeln kritisiert sie den Islam, mit dem sie sich schon seit Jahren auseinander setzt. Aufgrund dessen wird sie von rechten Ideologen zur Ikone erhoben, auch weil sie sich gegen Immigranten in Florenz ausspricht. Eine Einstellung, die befremdet, und der die Biografin auch nur wenige Seiten widmet. Offenkundig will sie der Problematik aus dem Weg gehen.

In letzten Jahre, die Oriana in den USA verbringt, widmet sie sich einem Familienroman, den sie aber nicht mehr abschließen kann.

Bewertung
In unserem Telefongespräch haben Mira und ich spontan die gleichen Empfindungen geäußert. Beide bewundern wir diese starke Persönlichkeit, die sich als Journalistin ab den 50er Jahren in einer Männerdomäne durchgesetzt hat, aber wir wollten beide nicht mit einer solch anstrengenden Person, denn als solche erscheint sie in der sorgfältig recherchierten Biografie, befreundet sein.
Wir hatten den Eindruck, dass die Biografin selbst genauso akribisch jedes Detail im Leben Oriana Fallacis recherchiert hat, wie sich die Journalistin Fallaci auf ihre Interviews vorbereitet hat.
Die Biografie zeigt auch die Lebensumstände in Italien während des 2.Weltkrieges und danach. Dass es nicht selbstverständlich war, wenn man aus ärmlichen Verhältnissen stammt, dass man Abitur machen darf und studiert. Das hat sich glücklicherweise inzwischen verändert.
Darüber hinaus verdeutlicht die Biografie, wie schwer es Oriana Fallaci als Frau hatte, ihren Weg zu gehen und in Italien selbst als Journalistin anerkannt zu werden.

Insgesamt zeichnet diese sehr interessante Biografie ein ausführliches Bild dieser mutigen, emanzipierten, aber auch leidenschaftlichen und schwierigen Frau, der es aufgrund ihrer Sozialisation gelungen ist, sich in einer von Männern besetzten Domäne einen Namen zu machen.

Am Ende bleibt der Eindruck einer bewundernswerten, mutigen Journalistin, einer streitbaren Persönlichkeit, die ich bewundere, die aber eine anstrengender Mensch gewesen sein muss - auf ihrem Recht beharrend, perfektionistisch und nachtragend.

Hier geht es zu Miras Rezension.