Samstag, 13. Mai 2017

Jeff Talarigo: Die Perlentaucherin

- die bewegende Lebensgeschichte einer Leprakranken, die auf historischen Fakten beruht.


Taschenbuchausgabe, 240 Seiten
btb, August 2007



Inhalt
Im August 1948 erkrankt eine junge, japanische Perlentaucherin an Lepra. Damit ist ihr Traum, ihr Leben dem Tauchen und dem Meer zu widmen, in Gefahr. Bis jetzt hat sie sich jeden Morgen auf den Weg zum Seto-Inlandsee gemacht, ist gemeinsam mit den anderen Taucherinnen in einem Boot nach draußen gefahren, hat ihren Holzbottich ins Wasser gelassen und ist bis 15 Meter in die Tiefe getaucht, um essbare Meerestiere vom Boden heraufzuholen  - und das ohne Sauerstoffzufuhr. Eine anstrengende, harte Arbeit, aber genau das, was sie will und manchmal findet sie eine Perle.

Als sie sich an einem Felsen schneidet und keine Schmerzen an der Stelle spürt, sucht sie einen Arzt auf, der ihr soziales Todesurteil fällt: Sie hat Lepra.

pixabay
In ihrer Verzweiflung versteckt sie sich, wird jedoch von Polizisten gefunden und zur Insel Nagashima gebracht, auf der sich ein Leprosorium, ein "Sanatorium" für Leprakranke befindet.

In Japan wurden bis 1996 (!) Menschen mit Lepra isoliert, basierend auf einem Gesetz aus dem Jahr 1931. Dieses wurde 1953 angepasst, obwohl es bereits neue medizinische Erkenntnisse über Ansteckungsgefahr, Ursachen und Heilung der Krankheit gab. Die Ausgrenzung geht zurück auf eine tief sitzende Furcht vor Ansteckung und dem Glauben, die Krankheit sei ein Fluch. Die Perlentaucherin ist mit der Einlieferung in das Leprosorium für ihre Familie gestorben und wird aus dem Register gestrichen. Ein neues Leben, abseits von der Gesellschaft beginnt. Sie muss sich einen neuen Namen geben und benennt sich nach jenem Berg, den sie gemeinsam mit ihrem Onkel im Alter von 9 Jahren bestiegen hat - Fuji.

Der Roman, größtenteils aus der personalen Perspektive von Frau Fuji erzählt, Nummer 2645, schildert das Leben der Perlentaucherin in der Isolation anhand verschiedener Artefakte, die auf der Insel gefunden wurden.

"Jedes Artefakt hat ein Dutzend Geschichten - tausend." (S.43)

Es sind die hinterlassenen Habseligkeiten Frau Fujis und anderer Kranker, ergänzt um ihre mündlich erzählten Geschichten und die, die Fotos erzählen, wie das, vom 25.6.1949, auf dem der Gesundheitsminister und die dreizehn Leiter der Leprosorien des Landes zu sehen sind, die sich weigern, die Isolation der Leprakranken aufzuheben.

Eine rostige Sichel erzählt  die Geschichte eines Lepra-Kranken, der sich die infizierte Hand damit abgetrennt hat und gestorben ist. Alle Toten müssen verbrannt werden, Frau Fuji sorgt dafür, dass die Hand mit ihm gemeinsam verbrannt werden kann.
Eine handgemalte Landkarte einer kleinen Insel verzeichnet den Lieblingsort Frau Fujis, die man erreicht, wenn Ebbe herrscht. Die "Flaschenkürbisinsel" enthält einen kleinen Schrein, der im Verlauf der Geschichte die Asche der toten Kinder beheimatet. Kinder, die abgetrieben werden musste, da die Leprakranken keinen Nachwuchs haben durften. Ein besonderes dunkles Kapitel des Umgangs mit den Leprakranken, die teilweise auch zwangssterilisiert wurden.

Frau Fujis Aufgabe besteht darin, die Kranken zu massieren, bei ihr ist die Krankheit nur an wenigen Stellen der Haut sichtbar, ansonsten geht es ihr recht gut. Das liegt auch am Medikament Promin, das den Insassen ab 1949 verabreicht wird und die Krankheit teilweise eindämmen kann, wenn sie noch nicht so weit fortgeschritten ist. Weitere Medikamente führen zur Heilung, doch die Situation verändert sich nicht.

Als sehr gute Schwimmerin gelingt es Frau Fuji, die gegenüberliegende Bucht zu erreichen und nachts durch die Straßen der kleinen Stadt zu wandern - ungesehen.
Nur zwei Kindern winkt sie gelegentlich zu und hinterlässt ihnen kleine Geschenke. Ihre heimlichen Fluchten bleiben jedoch nicht unbemerkt und sie wird in die Isolationshaft gesteckt, was zu einem Aufruhr der Insassen führt, der blutig niedergeschlagen wird, jedoch auch kleinere Verbesserungen mit sich bringt.
Es gäbe unzählige weitere, kleine Geschichten zu erzählen, von der Grausamkeit dieses Ortes, aber auch von der Menschlichkeit und Güte der Insassen, die sich gegenseitig stützen und Wege finden, in der Isolation leben zu können.

Nach vielen Jahrzehnten auf der Insel kann Frau Fuji sich nicht mehr vorstellen, diesen Ort zu verlassen, obwohl sie gesund ist und sich eine allmähliche Öffnung der Leprosorien anbahnt.
Ein Ausflug nach Kyoto mit einem Musikensemble des Leprosoriums und ein Rückkehr zu ihrem Heimatort, an dem die Perlentaucherin nur noch eine Touristenattraktion sind, führt sie zurück nach Nagashima, das ihr letztlich zur Heimat geworden ist und sich zu seinen Gunsten verändert hat.

Bewertung
Die Geschichte Frau Fujis hat mich sehr bewegt. Wie konnte man Menschen trotz besseren medizinischen Wissens jahrzehntelang isolieren und solchen inhumanen Gegebenheiten aussetzen?
Die Schilderung der Eingangsuntersuchung von Frau Fuji offenbart das Menschen verachtende Verhalten des Personals, wobei es auch Ausnahmen gegeben hat.
Berührend ist das Verhalten der Isolierten untereinander - es gibt so viele Zeugnisse von Menschlichkeit, von Güte, Mitleid und Mut. So entschließt sich Frau Fuji, die als Strafe für ihren angeblichen Fluchtversuch bei den erzwungenen Abtreibungen assistieren muss, die toten Kinder aus der Mülltonne zu nehmen, sie zu verbrennen und in einer Urne im Schrein zu verstecken, damit sie eine letzte Ruhestätte haben und von ihren Eltern besucht werden können.
Sie transkribiert einem blinden Leprakranken die Kassetten, die er mit Worten bespricht, aus denen Tankas entstehen; begleitet und betreut die Kranken und bleibt bis zu ihrem Ende als Krankenschwester auf der Insel.

Eine tragische Lebensgeschichte! Frau Fuji musste ihren Traum, eine Perlentaucherin zu sein, aufgegeben, weil die Verantwortlichen für die Leprakranken sich gegen medizinische Erkenntnisse für ihre weitere Isolation ausgesprochen haben.

Ein dunkles Kapitel der japanischen Geschichte, feinfühlig erzählt.