Sonntag, 21. Mai 2017

Jeff Cohen: Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen

- ein ungewöhnliches Ermittlerduo in einem skurrilen Fall.


Taschenbuchausgabe, 384 Seiten
blanvalet, 17.Oktober 2016

Danke schön an den blanvalet-Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Samuel Hoenig betreibt ein Dienstleistungsunternehmen in Kalifornien, Fragen beantworten, und er hat das Ziel jede erdenkliche Frage, die ihm gestellt wird, gegen Entgelt zu beantworten.
Samuel ist ein ungewöhnlicher junger Mann, Small talk fällt ihm ebenso schwer wie in den Gesichtern seiner Mitmenschen deren Gefühle zu lesen. Jede 23 Minuten steht er auf und bewegt sich eine Drittelmeile, egal, wo er sich befindet, um seine Herzfrequenz zu erhöhen und den Kreislauf auf Touren zu bringen. Er trinkt regelmäßig einen halben Liter Wasser und nimmt immer zur gleichen Zeit seine Mahlzeiten mit seiner Mutter ein. Samuel ist Asperger-Autist.

"Ich schäme mich nicht für mein Asperger-Syndrom. Warum sollte ich? Es hat meiner Persönlichkeit Aspekte verliehen, die ich sehr nützlich finde. (...) Leute, die es nicht haben - und manche, die es haben-, glauben es wäre ein Defekt, der zu Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen Menschen führt und das Verhältnis zu ihnen beeinträchtigt. Um genau zu sein, denken sie, dass wir seltsam sind. Ich für meinen Teil halte die meisten "gewöhnlichen" Menschen für seltsam, mein eigenes Handeln hingegen für ziemlich vernünftig." (S.17)

Der Kriminalfall wird aus der Ich-Perspektive Samuels im Präsens erzählt, dadurch erhalten die Leser*innen direkten Einblick in seine Art zu denken. Sein analytisches Vermögen, seine Fähigkeit nur die relevanten Informationen wahrzunehmen, seine Kombinationsgabe sind bewundernswert - nur in der Interaktion mit den anderen Figuren offenbart sich seine Unzulänglichkeit und Unsicherheit. Glücklicherweise befindet sich gerade Ms. Janet Washburn - eine vertrauenswürdige und hilfsbereite Figur in seinem Büro, als ihm die wohl ungewöhnlichste Frage angetragen wird, die er bisher zu beantworten hatte.

Sie wird ihm gestellt von Mr. Marshall, Direktor des Garden State Cryonics Institute, einer Einrichtung, die mit

"Leichen von kürzlich Verstorbenen zu tun [hat], die sich in der Hoffnung einfrieren lassen, dass es eines Tages einen Weg geben wird sie wieder aufzuwecken und ihre Krankheiten zu heilen" (S.26).

Einrichtungen solcher Art existieren tatsächlich in den USA. Es besteht die Möglichkeit nur den Kopf oder den gesamten Körper in flüssigem Stickstoff gegen entsprechende monatliche Gebühr aufbewahren zu lassen.

"Wer hat einen unserer Köpfe gestohlen, Mr. Hoenig?" (S.28)

Eine sehr interessante Frage, die sofort Samuels Neugier weckt, er nimmt den Auftrag an und bittet Ms. Washburn, die gerade ihren Job bei der Zeitung verloren hat, für diesen Tag mit ihm zusammenzuarbeiten.

Nachdem sie am Institut angekommen sind, begeben sie sich an den Ort, an dem der Kopf von Rita Masters-Powell unter strengen Sicherheitsvorkehrungen - dazu gehört eine permanente Video- und Audioüberwachung-  aufbewahrt wurde. Dabei begegnen Samuel und Ms. Washburn Commander Johnson, dem Sicherheitschef, dessen Frau ihn gerade heute zufällig besucht und ihren Mann später bei der Befragung vehement verteidigen wird.

Als Samuel, Mr. Ackermann und Ms. Washburn den Lagerraum im Schutzanzug betreten wollen, lässt sich die Tür nicht öffnen. Es stellt sich heraus, dass die Leiche von Doktor Rebecca Springer, die für das Institut gearbeitet hat, diese blockiert.
Während Doktor Ackermann widerwillig die Polizei informiert - der Ruf seines Institutes steht schließlich auf dem Spiel - analysiert Samuel den Tatort. Anscheinend ist die Ärztin erstickt, denn der Behälter, in dem sich Rita Masters-Powells Kopf befand, liegt am Boden und ist durch einen Schuss beschädigt worden, so dass der flüssige Stickstoff entweichen konnte.

Viele Fragen bleiben jedoch ungelöst:
Warum trug Doktor Springer keinen Schutzanzug?
Wie konnte sie den gekühlten Behälter überhaupt anfassen?
Warum liegt dieser hinter der Leiche?
Und natürlich die wichtigste: Wo ist Ms. Masters-Powells Kopf?

Detective Lapides trifft ein und übernimmt den Fall, allerdings scheinen seine Fähigkeiten eine Ermittlung zu leiten, begrenzt zu sein, so dass er auf Samuels Hilfe angewiesen ist.

Mit der Bloggerin Charlotte Selby, die sich selbst "Bürgerjournalistin" (S.109) nennt, erweitert sich der Personenkreis derjenigen, die zur Tatzeit am Tatort gewesen. Sie bloggt zu technologischen und spirituellen Themen und hat aus diesem Grund ein Interesse am Garden State Cryonics Institute. Zudem weiß sie sowohl von dem verschwundenen Kopf als auch von der toten Ärztin.
Schließlich tauchen auch noch Ritas wohlhabende Verwandte, ihr Bruder Arthur und ihre Mutter Laverne auf, die nicht bereit sind, die hohen Lösegeldforderungen der Diebe, die sich schließlich melden, zu zahlen.

Immer neue Tatverdächtige kommen für die Verbrechen in Frage und am Ende behält nur Samuel einen kühlen Kopf und löst den Fall und die Frage, die Ms. Janet Washburn in sein Büro geführt hat.


Bewertung
Jeff Cohen hat bereits zwei Sachbücher über das Asperger Syndrom verfasst. Indem er den Protagonisten seines Kriminalromans aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, ermöglicht der Autor den Leser*innen einen interessanten Einblick in die Denkweise eines Asperger-Autisten. Selbstbewusst erkennt Samuel seine Stärken, seine analytischen Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen emotionslos jede Situation zu untersuchen - ein unschlagbarer Vorteil für einen Detektiv.
Gleichzeitig ist er sich der Tatsache bewusst, dass er Hilfe dabei braucht, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und in Vernehmungen ihre Motive herauszufinden - in Ms. Washburn hat er jemanden gefunden, der ihn neben seiner Mutter unterstützt.
Sein Unvermögen in bestimmten Situation die richtigen Worte zu finden oder sein Gegenüber zu verstehen und seine Handlungsweise, die oftmals mit gesellschaftliche Konventionen bricht, bescheren den Leser*innen zahlreiche witzige Szenen. Mehr als einmal musste ich beim Lesen laut lachen. Samuels Tendenz, Redewendungen wörtlich zu verstehen oder die Sekunden einer Gesprächspause zu zählen, sorgen oft für Erheiterung.
Dabei wird die sympathisch erscheinende Figur niemals bloßgestellt. Dadurch, dass wir das Geschehen aus Samuels Perspektive wahrnehmen, wird plausibel, warum er etwas sagt oder nicht versteht und warum er wie handelt.

So befragt er die Familie Masters, während er selbst auf dem Laufband sein Fitnessprogramm absolviert - ein Vorschlag seiner Assistentin. Zuvor ist er in den Befragungen einfach aufgesprungen und durch den Raum gerannt - für ihn ein völlig normales Verhalten, für sein Gegenüber jedoch höchst seltsam und beängstigend.

"Es war zwar seltsam, dass ein Mann, der einfach nur versuchte, seine Herzfrequenz auf Touren zu bringen ausgewachsene Menschen so sehr verstören konnte, doch dass es so war, war nicht zu leugnen." (S. 152)

Der Roman weckt Verständnis für Samuels "Anderssein" und erklärt viele "typische" Eigenheiten von Asperger-Autisten, wie Unbehagen bei körperlichen Berührungen oder ihr Essverhalten.

"Für uns Menschen mit Asperger-Syndrom können Mahlzeiten sehr stressreich sein. Allgemein kann man sagen, dass unsere kulinarischen Vorlieben im Gegensatz zu denen anderer Menschen eher eingeschränkt sind." (S.197)

Ein Krimi mit einem ungewöhnlichen, interessanten Ermittler und einer klugen und sensiblen Assistentin, die einen skurrilen Fall gemeinsam lösen, wobei das Ende unerwartete Wendungen bereit hält.

Ein traumhaftes Duo, von dem es demnächst  einen weiteren Fall zu lesen geben wird.