"Doch es gibt keinen Anspruch auf Sicherheit." (S.292)
Gebundene Ausgabe, 300 Seiten
Luchterhand, 16. März 2015
Inhalt
Die Cellistin Isabell und der Journalist Georg leben gemeinsam mit ihrem halbjährigen Sohn Matti in einer Altbauwohnung in Hamburg. Das Haus wird kurz vor dem Winter saniert und verschwindet unter einem Plastikvorhang. Isabell spielt abends in einem Musical im Orchestergraben, während Georg tagsüber bei der Zeitung arbeitet. Alles scheint perfekt, die Brötchen kommen von einer "Manufaktor", der Blumenladen um die Ecke nennt sich "Floristenwerk", sie kaufen im Feinkostladen - wohl situierte Mittelschicht, ein glückliches Paar, eine gesicherte Existenz.
Isabells Rückkehr in den Beruf erweist sich jedoch als große psychische Belastung, während ihres Solis zittern ihre Hände.
"Jeder konnte ihr dabei zusehen: Sie hatte den Klang verloren, und die Leichtigkeit." (S.18)
Keiner spricht sie offen darauf an und sie weigert sich, darüber mit Georg zu sprechen oder sich Hilfe zu suchen, aus Angst, dann werde ihr Leiden real.
Der Roman thematisiert auch ihre Wut auf Matti, wenn er ihr keine Zeit, keine Ruhe zum Üben lässt. Ungefiltert lesen wir Isabells Gedanken.
"Beide sind sie erschöpft und zornig, "sei still", spricht sie leise in sein Ohr, "sei doch still, bitte", der letzte Funken Fürsorglichkeit verglimmt, sein Geschrei verschlingt jedes ihrer Worte." (S.32)
Bilkau schreibt nieder, was junge Eltern denken, aber niemals zugeben würden. Die Momente, in denen man sich wünscht, das Kind wäre einfach still, man müsste sich nicht mehr kümmern, man dürfe schlafen und sich ausruhen, die sofort von Reue, Fürsorge und Liebe gegenüber dem Kind abgelöst werden - ungeschminkte Wahrheit.
Dazu gehören die Besuche bei Georgs Mutter, die in einem ehemaligen Elektrogeschäft lebt, das irgendwann von den großen Discountern verdrängt wurde. Ein lästiger Pflichtbesuch für Isabell.
Während ihr eigenes Haus saniert wird, in dem Isabell schon mit ihrer Mutter gelebt hat, verliert sich Georg in Tagträumen vom Aussteigen, während er sich Häuser im Internet ansieht, am Meer, auf dem Land, Bauernhäuser und Villen. Das inspiriert ihn zu einer Reportage über Menschen, die es versuchen und er trifft auf ein Paar, das sich bemüht alles selbst herzustellen.
"Gibt es etwas, das du vermisst, seitdem du hier lebst?" Björn schaut ihn geradewegs an, "Freunde nicht. Die Arbeit nicht. Das Nachtleben auch nicht." Er überlegt weiter. "Du merkst, ich kann dir nur sagen, was ich nicht vermisse. Im Prinzip vor allem - dieses allgegenwärtige Vergleichen. Mich mit den anderen, und umgekehrt. Das bin ich los. Und daraus ergibt sich der Rest." "Was meinst du mit Rest?" Daraus ergibt sich, dass ich mir nichts mehr kaufen muss. Um dem Vergleich standzuhalten." (S.94)
Isabell stellt diese Vergleiche an, sie schaut sich das Glück einer Amsterdamer Familie an, die freizügig Fotos in den sozialen Medien postet, während sie selbst sich krank schreiben lässt. Auch in der Physiotherapie schweigt sie ihr eigentliches Problem - das Zittern der Hände beim Auftritt - tot.
Zeitgleich mit der abgeschlossenen Sanierung des Hauses verliert Georg seinen Job, während das Haus in neuem Glanz erstrahlt, gerät die gesicherte Existenz der Familie ins Wanken.
Der 2.Teil, der ein halbes Jahr später spielt, schildert die sich verändernde Situation. Georgs vergebliche Arbeitssuche. Er will sich weder unter Wert verkaufen noch außerhalb der Stadt arbeiten. Isabells bestehenden psychischen Probleme, die sie daran hindern, erneut irgendwo vorzuspielen. Die Lage spitzt sich zu und belastet zunehmend ihre Ehe. Während Georg sich den neuen Gegebenheiten anpassen möchte, sparen, günstigen Urlaub, ein Haus auf dem Land ansehen, hält Isabell krampfhaft am alten Leben fest, möchte nicht wahrhaben, dass sie sich nicht mehr alles leisten können, vergleicht jetzt, mit dem, was war.
"Urlaub ist ein Gradmesser dafür, wie gut oder schlecht es läuft. Alles wird zum Indiz. Ob es die enge Ferienwohnung mit Kunstledersofa ist oder das Strandhotel mit Meerblick und Kinderbetreuung, ob das Ziel mit dem Auto zu erreichen ist oder eine halbe Weltreise entfernt liegt, ob nur im Sommer verreist wird oder es im Winter noch in den Schnee oder irgendwohin, wo Palmen wachsen, geht, alles ist verräterisch." (S.157)
Die Angst, es nicht zu schaffen, dominiert ihr Leben, aus der schönen Wohnung ziehen zu müssen, unter Wert arbeiten, aber sie haben keine Idee, aus der Situation herauszukommen. Isabell wirkt apathisch, Georg zunehmend verbittert und verzweifelt. Jeder glaubt, der andere gebe ihm bzw. ihr die Schuld - Schweigen dominiert die Gespräche.
In einem Gespräch mit ihrer ehemaligen Mitbewohnerin aus dem Studium und Freundin offenbart sich Isabell, dass sie nie ein Risiko gewagt hat, immer nur vorsichtig gewesen ist.
Findest sie deshalb keinen Ausweg? Werden die beiden gemeinsam noch einen finden?
Bewertung
Ein Roman, der direkt aus dem Leben gegriffen scheint und ein realitätsgetreues Bild eines Paares mit Kind zeichnet, das plötzlich erkennen muss, dass sein wohl situiertes Leben in Gefahr ist. Eine Möglichkeit, die beide nicht einkalkuliert haben, die in ihrem Lebensentwurf nicht vorkommt. Ein Paar, das zunächst nicht bereit ist, seine Ansprüche zu reduzieren, Veränderungen zuzulassen, das geglaubt hat, alles würde immer so weiter gehen.
Die Ängste und Sorgen der beiden sind nachvollziehbar, ihre Handlungsweisen verständlich. Jeder, der selbst Familie, Beruf, ein Haus oder eine Wohnung hat bzw. zur Miete wohnt, kennt diese Existenzängste und die Gedanken daran, was wäre, wenn ich meinen Job verliere. Werde ich meinen Lebensstandard halten können? Was werden die anderen sagen? Gehöre ich noch dazu?
In diesem Roman werden diese Gedanken greifbare Realität und fordern uns dazu auf, über unser eigenes Leben nachzudenken. Ein großartiger Gesellschaftsroman, der das Ansprüche einer Generation (meiner Generation) genau unter die Lupe nimmt. Einer Generation, in der Niederlagen nicht vorkommen dürfen, sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe am Kaufverhalten und den Konsumgewohnheiten widerspiegelt.
Am Ende des Romans, der aufgrund eines Erlebnisses die Einstellung der Figuren zu verändern scheint, erkennt Isabell im Zusammensein mit ihrem Mann und ihrem Sohn, wie vollkommen dieser Moment jetzt ist,
"denn wie vollkommen etwas war, lässt sich oft erst viel später verstehen. Mit der Zeit reifen Momente zu etwas heran, erst dann kristallisiert sich heraus, das war es, das Glück."
In der Intimität der Familie - fernab von materiellen Zwängen und Zukunftsängsten - sind sie "Die Glücklichen."
Danke an Renie´s Lesetagebuch, die mir diesen ehrlichen und wunderbaren Roman ans Herz gelegt hat.