Donnerstag, 27. Dezember 2018

Frank Goldammer: Roter Rabe

- ein Fall für Max Heller.

Leserunde auf whatchaReadin

Der Krimi ist bereits der vierte Fall des Oberkommissars Max Heller und spielt 1951 in Dresden. Obwohl ich die vorangegangenen Romane nicht gelesen habe, bin ich gut in die Handlung hinein gekommen.

Worum geht es?
Max Heller kehrt zu Beginn der Handlung von einem gemeinsamen Urlaub mit seiner Frau Karin und der Pflegetochter Anni von der Ostsee zurück. Während seine Frau die Erlaubnis hat, ihren erwachsenen Sohn Erwin in Köln zu besuchen, und sich auf die Reise in den Westen macht, wird Max mit zwei Selbstmorden in der Untersuchungshaft konfrontiert.

"Bei den Verhafteten handelt es sich um Mitglieder der Wachturmgesellschaft. Die Anklage lautet Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Spionage. Ihnen werden Kontakte zum amerikanischen Geheimdienst nachgesagt. Es gibt konkrete Hinweise, vor allem aus sowjetischen Geheimdienstkreisen und vom MGB." (17/18)

Der zuständige Wachmann - Walter Rehm - wird verhaftet, Heller nimmt Ermittlungen auf. Allerdings wird er von seinem Vorgesetzten Niesbach gewarnt:

"Max, die Sowejts sind aufgebracht. Ein Mitarbeiter des MGB unterstellte mir wortwörtlich, wir hätten die beiden Verdächtigen umgebracht. Ich habe diesen Vorwurf mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen (...), doch gerade jetzt schlägt uns wieder großes Misstrauen entgegen. (...)
Max, gehen Sie mit aller Vorsicht an den Fall heran. Handeln Sie vollkommen transparent, geben Sie Informationen weiter, suchen Sie den Kontakt zum MfS." (26)

Der Fall entwickelt sich zu einem scheinbar undurchdringlichen Knäuel von Handlungsfäden, weitere Tote säumen Hellers Weg. Es scheint so, als ob alle, von denen er Informationen erhalten möchte und oder die er befragt, ermordet würden.
Zudem taucht ein Bekannter aus der Vergangenheit auf, Alexej Saizev, der für den russischen Geheimdienst arbeitet, aber ständig alkoholisiert wirkt. Welche Rolle spielt er in diesem Fall?
Und wer ist der ominöse Amerikaner, dessen Existenz in verschiedenen Kreisen ins Spiel gebracht wird? Ein Spion, oder ein Agent, der in den Westen überlaufen will? Wem kann Heller noch trauen? Während sein Mitarbeiter, Kommissar Werner Oldenbusch verlässlich zu sein sein, hat jener den jungen Unterkommissar Peter Salbach in Verdacht, Informationen weiterzugeben.
Am Ende lösen sich alle Fäden, allerdings hatte ich Mühe, sie immer beim Lesen präsent zu haben, obwohl ich den Roman ohne große Unterbrechungen gelesen habe.

Bewertung
Die Story ist insgesamt solide, wenn auch vielleicht etwas zu verworren, doch die Leistung des Romans besteht darin, die zeitgenössische Atmosphäre der Aufbaujahre in Dresden erlebbar zu machen.
In der Leserunde wurde einhellig die Meinung geäußert, der Roman spiegele die Beklommenheit und Ängste der damaligen Zeit sehr gut wider: Die Angst vor dem kalten Krieg, sogar vor einem Atomkrieg, die Angst davor, seine Meinung frei zu äußern und das Gefühl, niemandem vertrauen zu können.
Das Beispiel Werner Oldenbuschs, der zwei Tage befragt wird, weil seine Verlobte in den Westen "rübergemacht" hat, zeigt die Willkür des neuen Staates, denn Oldenbusch hat offenkundig nichts von den Plänen seiner Zukünftigen gewusst. Während sich die Anzeichen häufen, dass sich eine neue Diktatur anbahnt, ist der Glaube an den Kommunismus bei vielen Parteigenossen noch vorhanden, so glaubt Max Vorgesetzter fest daran, dass die Utopie verwirklicht werden könne - ein Trugschluss, wie wir heute wissen.

Lesenswertes Zeitdokument, das einen guten Einblick in die Anfänge der DDR gewährt.

Sonntag, 23. Dezember 2018

Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen

- 10 Kurzgeschichten aus 10 Jahren.

Lesen mit Mira

Benedict Wells Roman "Vom Ende der Einsamkeit" war eines der Lese-Highligths aus dem Jahr 2016. Danach habe ich seinen Erstling "Spinner" gelesen, während die anderen Romane noch auf mich warten. Deshalb war ich glücklich, als Mira vorschlug, gemeinsam die Neuerscheinung von Wells zu lesen, auch wenn es "nur" Kurzgeschichten sind. Uns beiden gefällt seine Art und Weise zu schreiben und unsere übereinstimmende Meinung ist, er möge wieder einen Roman schreiben, damit wir länger daran lesen können - die Geschichten sind viel zu schnell vorbei.
Wir haben uns darauf geeinigt, dass jede von uns zwei der 10 Geschichten intensiver rezensiert, hier geht es zu Miras Geschichten, die sich "Richard" und "Die Nacht der Bücher" ausgesucht hat. Letzteres stammt aus dem Kosmos "Vom Ende der Einsamkeit", genau wie die Geschichte "Die Entstehung der Angst", die die Kindheit von Jules Vater Stéphane Moreau näher beleuchtet.

Einige der Geschichten haben eine fantastische Komponente, in zwei Geschichten reisen die Protagonisten in der Zeit. In der ersten Geschichte "Die Wanderung" steht der erfolgreiche Geschäftsmann Henry im Mittelpunkt, der seine Freiheit liebt und darüber seine verständnislose Frau und seine beiden Kinder Mia und David vernachlässigt. Selbst im Urlaub wickelt er Geschäfte ab und kann sich nicht entschließen mit seiner Familie zu entspannen.

"Wir wollen gleich grillen." Sie hielt seine Hand. "Bist du dabei?" Henry gefiel die Vorstellung, den Tag mit seiner Familie zu verbringen, doch im selben Moment blickte er wieder zum Berg. Trotz seiner Wanderleidenschaft war er noch nicht dort oben gewesen, dabei konnte der Aufstieg kaum länger dauern als...was, zwei, drei Stunden?" (15)

Bevor Henry zur Wanderung aufbricht, schaut er noch kurz nach seinem kränklichen Sohn David, der von Migräneanfällen heimgesucht wird. Unbeholfen bemüht er sich um ein Gespräch, verspricht ihm eine Überraschung zur Geburtstagsfeier, die am Abend stattfinden soll.

"Der Gedanke an das Geschenk schien den Jungen tatsächlich aufzumuntern. Seine Augen leuchteten auf, er wollte gerade etwas erzählen, als das Handy läutete. Henry zögerte, dann streichelte er seinem Sohn durchs Haar und ging zum Telefonieren auf den Flur; auf der Geburtstagsfeier am Abend würde er es wiedergutmachen." (17)

Als seine Tochter Mia ihn begleiten will, weist er sie ab. Sie darf ihn ein Stück Weg begleiten, doch er will allein sein, um noch Geschäfte zu erledigen. Am frühen Nachmittag erreicht er eine Almwirtschaft, während ihn die freudige Nachricht erreicht, dass die geplante Fusion unterzeichnet worden war - es ist der Höhepunkt seiner Karriere.

"Dies waren die goldenen Jahre, als Vater, als Mann und im Beruf, und er genoss seine Freiheit als Wanderer zwischen diesen Welten, die er für seine größte Leistung hielt." (21)

Statt umzukehren, damit er pünktlich auf der Feier erscheinen kann, will er noch zum Gipfel. An der Bergspitze angekommen, schlägt das Wetter um, Wolken ziehen auf und ein Unwetter kündigt sich an. An der fast verlassenen Almwirtschaft trifft er einen alten Kommilitonen, der ihn mit dem Aussage verwirrt, das mit seinem Sohn tue ihm leid, so früh, das sei tragisch.

An dieser Stelle deutet sich der Zeitsprung offensichtlich an.

Henry versucht zuhause anzurufen, doch ohne Erfolg, später lautet die Ansage, die Nummer sei nicht vergeben. Der Heimweg ist beschwerlich, da Henry vor einem großen Schäferhund flüchtet, verliert er die Orientierung, gerät in einen heftigen Regenschauer und er verstaucht sich den Knöchel. In dieser Ausnahmesituation stellt er sein Leben in Frage.

"Es schien ein anderer Tag gewesen zu sein, als er am Pool gestanden und den Sprüngen seiner Tochter zugesehen hatte. Wieso hatte er sie nicht mitgenommen? Wieso zog es ihn in harmonischen Momenten so oft fort, von seiner Familie, von Abenden bei Freunden?( (26/26)

"Die Urlaube, die er verpasst hatte, weil er beruflich wegmusste oder geglaubt hatte, wegzumüssen; die vielen Erlebnisse seiner Kinder, die er bloß vom Hörensagen kannte und kaum wahrnahm." (27)

Und er nimmt sich vor, all dies zu ändern. Mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen, alles nachzuholen.

"Vielleicht hatte er erst eine Wanderung wie diese gebraucht, um seine Lektion zu lernen, aber er würde sein Fehler korrigieren und alles ändern, wenn er nur endlich wieder zu Hause war." (29)

Doch als er nach einer gefühlten Ewigkeit ankommt, hat sich sein Leben verändert - seine Tochter ist erwachsen, sein Sohn gestorben.

Die Geschichte zeigt eindrücklich die Wahrheit über das Lügen, denn Henry belügt sich, wenn er sich vornimmt, ab jetzt alles zu ändern. Wie oft fassen wir gute Vorsätze, mehr Zeit mit den Menschen zu verbringen, die uns am Herzen liegen. Und als erfolgreicher Geschäftsmann ist er der Prototyp all derjenigen, für die der Beruf an erster Stelle steht. Die Wahrheit ist, er wird sich nicht ändern, wie das Ende deutlich zeigt.

In allen Geschichten geht es darum, dass Menschen mit einer Lüge leben oder die Wahrheit nicht wahrhaben wollen.

In der Erzählung "Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen" schildert der fiktive erfolgreiche Drehbuchautor und Filmproduzent Adrian Brooks einem Journalisten von der Lüge, auf der er sein Imperium aufgebaut hat. In seiner offiziellen Vita ist er 1946 geboren und hat als Waise auf der Straße gelebt, bis ihm mit Star Wars (!) der große Durchbruch gelungen ist.
Doch Winkler gegenüber will er jetzt endlich die Wahrheit erzählen. Eigentlich sei er
1986 in San Francisco geboren, ein erfolgloser Drehbuchschreiber gewesen und sei in seiner Funktion als Filmkritiker von Georg Lucas, dem Vater von Star Wars, beauftragt worden, eine Biographie über ihn zu schreiben. Dabei habe er herausgefunden, auf wie vielen Zufällen die Entstehung des erfolgreichsten Weltraumabenteuers basiere.
Aus ihm unbekannten Gründen wurde er jedoch gefeuert und er entwickelt einen Hass auf Lucas, steigt beruflich ab, so dass er Pizzabote werden muss.
Während einer Lieferung in einem verfallenen Haus landet er in einem Aufzug und reist zurück ins Jahr 1973 - vier Jahre bevor Star Wars in die Kino kommt.
Brooks fasst den irrwitzigen Plan, selbst das Weltraumabenteuer zu verfassen, schließlich kennt er den Entstehungsprozess aus seinen Recherchen.

Eine skurrile Geschichte, die durch 40 Jahre Filmgeschichte führt und zeigt, dass Zufälle nicht planbar sind und auch dass winzigen Veränderungen der Geschichte - Butterfly-Effekt genannt - trotzdem große Auswirkungen haben können. Obwohl ich kein Star Wars -Fan bin, hat mich die Erzählung in ihren Bann gezogen.

Brooks fantastisches Beispiel verdeutlicht jedoch auch, dass ein Leben basierend auf einer Lüge kein  glückliches werden kann - sofern man ein Gewissen hat.

Auch wenn ich persönlich die Geschichte "Die Fliege" metaphorisch zu offensichtlich empfunden habe, hat uns beiden der Erzählband insgesamt gut gefallen und viele Geschichten laden zum intensiven Austausch ein. Die Hoffnung bleibt, Wells möge bald wieder einen Roman veröffentlichen ;)

Samstag, 22. Dezember 2018

Leserückblick - 2018

Wenn ich das letzte Lesejahr Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass ich viele eingeschlagene Lesepfade weitergegangen bin,
- indem ich der Gegenwartsliteratur, amerikanischen Autoren, Klassikern, der Literatur gegen das Vergessen, den Krimis und der Kinder- und Jugendliteratur treu geblieben bin,
- indem ich an Leserunden auf whatchaReadin, für die ich gern mehr Zeit hätte, teilgenommen habe,
- indem ich einmal im Monat mit Mira gemeinsam ein Buch gelesen und mit ihr die Frankfurter Buchmesse besucht habe,
- indem ich ab und zu mit Sabine gemeinsam gelesen oder einen Roman habe,

aber auch einige neue Wege eingeschlagen habe,
- da sich mein Lese-Schwerpunkt tendenziell in Richtung zeitgenössische,
anspruchsvolle, sogar experimentelle Literatur verschoben hat,
- da ich seit Juni Mitglied eines Lesekreises bin, der in der "Bücherhütte" Wadern stattfindet,
- da ich inzwischen auch auf dem E-Reader lese, ein Medium, dem ich mich lange verweigert habe, es inzwischen aber schätze.

Meine Highlights

Gegenwartsliteratur

"Leinsee" von Anne Reinecke habe ich im Rahmen einer Leserunde auf whatchaReadin gelesen, in der man auch Fragen an die sympathische Autorin stellen konnte. Ein Künstlerroman, in dem Farben eine besondere Rolle spielen, ebenso wie die Beziehung eines jungen Mädchens zu einem Mann, der auf der Suche nach seiner Identität ist und sich von der Dominanz seiner Künstler-Eltern befreien muss.

Auch in "Dunkelgrün fast schwarz" von Mareike Fallwickl, eine psychologische Dreiecks-Geschichte, spielen Farben eine besondere Rolle, da einer der Protagonisten Synästhetiker ist. Der Roman hat in unserem Lesekreis für intensive Diskussionen gesorgt und uns so einen guten Einstieg beschert. Er durchleuchtet die einzelnen Figuren ebenso wie "Kleine Feuer überall", eine Familiengeschichte, in der ein Unglück geschieht, das sukzessive aufgedeckt wird. Meisterhaft erzählt wie der erste Roman der Autorin: "Was ich euch nicht erzählte".

Klassische Amerikanische Autoren
- leider muss ich in diesem Fall die weibliche Form weglassen, da es tatsächlich nur Romane von Männern sind, die inzwischen schon als moderne Klassiker gelten, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Das muss sich im nächsten Jahr ändern!

Zu einem meiner Lieblingsautoren ist John Irving avanciert, von dem ich in diesem Jahr gleich zwei dicke Wälzer gestemmt habe: "Zirkuskind" und "Bis ich dich finde".
"Das wilde Kind" von T.C. Boyle hat den negativen Eindruck, den "Wassermusik" hinterlassen hat, weggefegt, so dass auch im Jahr 2019 ein Roman dieses Autors dabei sein wird: "America" liegt schon bereit.
In dieser Reihe darf Paul Auster nicht fehlen, in dessen erster, noch sehr experimenteller Erzählung, "Stadt aus Glas" ich versucht habe, einen Sinn zu finden.



Deutsche Autorinnen

wie Juli Zeh, Monika Maron, Judith Hermann sowie die Deutsche Buchpreisgewinnerin Inger-Maria Mahlke und die deutsch schreibende Nino Haratischwili standen als Gegengewicht zu den amerikanischen Autoren in diesem Jahr auch auf meiner Leseliste.
Am meisten beeindruckt hat mich die Novelle "Neujahr" von Juli Zeh, die ich gemeinsam mit Mira gelesen habe und die von einem jungen Vater erzählt, der in Lanzarote mit einem Kindheitstrauma konfrontiert wird. Demnächst nehmen wir uns "Unter Leuten" vor, darauf freue ich mich schon.

Man Booker Prize
In unregelmäßigen Abständen widmen wir uns auf whatchaReadin einem Preisträger des wichtigsten britischen Literaturpreises. Der experimentelle Roman "Lincoln im Bardo" stand dieses Jahr auf dem Programm. 

Im amerikanischen Bürgerkrieg, in der Nacht vom 20. Februar 1862, stirbt Abraham Lincolns 11-jähriger Sohn Willie, den er über alles geliebt hat. Lincoln soll nach der Beerdigung zum Friedhof zurückgekehrt sein, um seinen Sohn ein letztes Mal in den Armen zu halten. Während der Vater trauert, wird seine Kriegsführung kritisiert und man unterstellt ihm mangelnde Führung. Auf beiden Seiten sind hohe Verluste zu verzeichnen, daher lässt Saunders Lincoln auf dem Friedhof über den Sinn dieses Krieges reflektieren.
Die historischen Gegebenheiten sind aus zeitgenössischen Quellen, fiktiven und realen, montiert, die sich wie ein Fließtext lesen lassen - trotz der Quellenangaben.

Ein Roman, der wirklich außergewöhnlich ist und mich absolut fasziniert hat.


Eine Hommage an das Lesen ist der wunderbare Roman "Deine Juliet" von Mary Ann Shaffer und Annie Barrows, eine Empfehlung meiner Buchhändlerin. Im Brief - und Liebesroman, der kurz nach dem 2.Weltkrieg auf der Insel Guernsey spielt, steht neben der Protagonistin Juliet die Mitglieder des "Clubs der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf im Mittelpunkt. 

Eine "Verbeugung vor der Literatur", dem Lesen und den Buchhändler*innen, was würden wir nur ohne euch machen!





Freitag, 21. Dezember 2018

John Irving: Zirkuskind

- (k)ein Roman über Indien.

Quelle: Diogenes
In einer Vorbemerkung weist Irving die Leser*innen darauf hin:

"Dieser Roman handelt nicht von Indien. Ich kenne Indien nicht. Ich war nur einmal dort, knapp einen Monat." (13)

Die Fremdartigkeit des Landes habe ihn verblüfft und es bliebe ihm fremd, so wie sein Protagonist Farrokh Daruwalla ebenfalls ein Fremder bleibt - in Indien und Kanada.
Mit 17 Jahren wurde er von seinen Eltern zur Ausbildung nach Wien geschickt. Das ist im Jahr 1947, als sein älterer Bruder bereits Psychologie in der besetzten Stadt studiert, in der die beiden auch ihre zukünftigen Frauen - die Schwestern Josefine und Julia Zilk kennen lernen. Beruflich tritt Farrokh in die Fußstapfen seines Vaters, Lowji Daruwalla, da er ebenfalls Medizin studiert und Orthopäde wird.
Er "verpasst" die indische Unabhängigkeit und kehrt erst im Jahr 1949 für einen Sommer nach Bombay zurück, bevor er sich endgültig in Toronto niederlässt, jedoch regelmäßig in seine alte "Heimat" reist.

"Inzwischen kannte der Doktor das Gefühl, Bombay immer wieder >endgültig< zu verlassen; fast jedes Mal, wenn er abreiste, schwor er sich, nie mehr nach Indien zurückzukehren." (17)

Obwohl er die kanadische Staatsbürgerschaft inne hat, fühlt er sich auch in Kanada nicht wirklich zuhause. Auf die Frage eines kleinen Jungen, woher er komme, denkt er:

"Nun, das ist die Frage, nicht wahr? (...) Das war schon immer die Frage. Sein ganzen Erwachsenenleben lang war das die Frage gewesen, die er normalerweise mit der buchstabengetreuen Wahrheit beantwortete, die er in seinem Herzen als Lüge empfand." (967)

Daruwalla verkörpert den nach außen hin assimilierten Einwanderer, der seine Heimat verlassen hat, scheinbar eine neue gefunden, in Wahrheit jedoch keine mehr hat.

"Wohin Farrokh auch ging, überall begegnete ihm eine immerwährende Fremdheit - ein Widerschein jener Fremdheit, die er in sich trug, in seinem tiefsten, eigentümlichen Innern." (963)

Der Inder, der sich nicht als solcher fühlt, ist in Kanada auch rassistischen Angriffen ausgesetzt, obwohl sie nicht im Mittelpunkt des Romans stehen, weist Irving in vielen Episoden nach, welchen Vorurteilen der renommierte Orthopäde ausgesetzt ist.

Die eigentlich Handlung des Roman setzt Ende der 80er Jahre ein. Daruwalla ist wieder einmal in Bombay zu Besuch, seit 15 Jahren verfolgt er ein ehrgeiziges genetisches Projekt. Er will in den Chromosomen von chondrodystrophen Zwergen den Marker isolieren, der diesen Minderwuchs auslöst.
So hat er die Bekanntschaft mit dem Zirkusclown Vinod gemacht, dessen Frau Deepa er nach einem Sturz medizinisch versorgt und der ihm sozusagen Zwergenblut organisiert. Nachdem auch Vinod einen schweren Unfall im Zirkus hat, gründet er ein Taxiunternehmen und wird Daruwallas Fahrer und Freund. Wenn sich Farrokh in Indien aufhält, arbeitet er unentgeltlich als chirurgischer Konsiliar in der Klinik für Verkrüppelte Kinder, die sein Vater aufgebaut hat. Schonungslos schildert Irving das Leben der bettelnden Kinder, analog zu "Straße der Wunder" und zeigt auf, wie gering ihre Chancen sind, aus dieser Situation auszubrechen. Die Idee Vinods und Deepa Mädchen vor den Bordellen zu bewahren, indem sie versuchen, sie im Zirkus unterzubringen, wird an einem Fall ausführlich erzählt und entlarvt den Zauber des Zirkus als Illusion.

Der eigentliche Auslöser der vielen Handlungsfäden ist der Mord an Mr Lal im Duckworth Sports Club, einem privaten exklusiven Club, in dem schon der alte Daruwalla Mitglied gewesen ist. Der alte Mr Lal wurde von seinem eigenen Putter in den Bougainvilleenblüten erschlagen. In seinem Mund steckt ein Geldschein mit der Aufforderung, Inspector Dhar als Mitglied aus dem Club zu entfernen, sonst folgten weitere Tote.

Inspector Dhar ist eine Filmfigur, hinter der sich der Schauspieler John D. verbirgt, der in enger Beziehung zu Daruwalla steht, da dieser der heimliche Drehbuchautor der Inspektor-Dhar-Filme ist.

Diese rufen Kritiker aus allen Bereichen der indischen Gesellschaft auf den Plan, da sie verschiedene Bevölkerungsgruppen verärgern. Im aktuellen Film "Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer"  sind es die "hijras", kastrierte Eunuchen-Transvestiten-Prostituierte, von denen einer im Film besonders schreckliche Morde an "Käfigmädchen", also ebenfalls Prostituierten, verübt und ihnen anschließend "einen unpassend fröhlichen Elefanten auf den nackten Bauch malt" (99). Seltsamerweise taucht genau jenes Bild in realen Mordfällen auf. Hat sich der Mörder vom Film inspirieren lassen?

Der Mordfall an Mr Lal und die Begegnung mit dem echten Inspector Patel sind Auslöser für die Rückblicke Farrokhs, in denen er sich vor allem an einen Urlaub mit seiner Familie, den er vor 20 Jahren in Goa verbracht hat, erinnert.

In jenem Urlaub kommt es auch zu einem religiösen Wunder, worauf der Parse Farrokh zum christlichen Glauben übertritt, während sein Vater ein strenger Atheist gewesen ist. Lowji Daruwalla, der sich gegenüber sämtlichen Glaubensrichtungen intolerant zeigt, dient Farrokh als Negativbeispiel. Auch politisch äußert sich der alte Daruwalla abfällig gegenüber Gandhi und stößt mit seiner kompromisslosen Art viele vor den Kopf, so dass sich sein Sohn für ihn schämt. Eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung!

Die Aufklärung des Mordfalls ist komplex und führt immer wieder in die Vergangenheit hinein, in der unter anderem auch die Beziehung zwischen Daruwalla und Dhar aufdeckt wird. Gleichzeitig erfahren wir, warum zur Zeit des Mordes Dhars Zwillingsbruder, ein jesuitischer Missionar, in Bombay auftaucht und für zusätzliche Verwirrung sorgt. Doch am Ende sind alle Handlungsfäden zu einem sorgfältigen Knäuel aufgerollt.

Bewertung
"Zirkuskind", 1995 erschienen, ist der 5.Roman, den ich von Irving lese. Thematisch passt er zu "Straße der Wunder", da das Motiv des Zirkus und die Faszination, die dieser ausübt, in beiden eine Rolle spielt. Die Suche nach der eigenen Identität und sexuellen Orientierung erinnern an "In einer Person" und "Bis ich dich finde", ebenso wie die Vater-Sohn-Beziehung, die auch in vorliegenden Roman in mehrfacher Hinsicht thematisiert wird, so dass mich an diesem Roman vor allem die Wiederkehr der Motive, die ich aus den anderen bereits kenne, fasziniert hat - ob Zirkus, Vater-Sohn-Beziehung, Auseinandersetzung mit der Religion und mit sexueller "Andersartigkeit", mit Kinderarmut und Rassismus.

Bei Irving spielen meines Erachtens die Suche nach der eigenen Identität, die Auseinandersetzung mit und die Abgrenzung von den Eltern eine große Rolle. Seine vordergründige Fixierung auf die Sexualität seiner Protagonisten ist für mich verbunden mit dem Aufruf zur Toleranz gegenüber dem vermeintlich "Unnormalen" wie Homosexualität oder Transsexualität.

Im Vordergrund steht jedoch immer die wunderbar erzählte Geschichte, mit ihren skurrilen, sympathischen Figuren und Bösewichten, mit Szenen, die zum Lachen einladen und ebenfalls skurril anmuten. Sie schöpft aus dem vollen Leben mit all seinen Facetten, so dass trotz des Umfangs der Lektüre das Lesen (fast) nie langweilig wird. Definitiv nicht mein letzter Irving ;)

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.


Montag, 10. Dezember 2018

Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

"The Good Soldier"

- heißt der Roman im Original, 1913 hat Ford begonnen ihn zu schreiben. In der Zueignung, ein Brief an seine Frau, erklärt er, es sei aus seiner Sicht sein bester Roman aus der Vorkriegszeit. Mit 40 Jahren habe er zeigen wollen, was er könne. Ein Freund Fords urteilt darüber, es sei der "schönste französische Roman in englischer Sprache" (11).
Hält er dieses Versprechen?

In der Leserunde auf whatchaReadin waren wir zunächst geteilter Meinung, da der "unzuverlässige" Ich-Erzähler zu Beginn um den heißen Brei herum redet. Es scheint, als könne man seinen Ausführungen nicht vertrauen, da er sich in Widersprüche verstrickt und zunächst nicht zur Sache kommen will.


Worum geht es?
Der Ich-Erzähler - John Dowell aus Philadelphia, Grundbesitzer und so reich, dass er nicht arbeiten muss - verbringt über neun Jahre hinweg gemeinsam mit seiner herzkranken Frau Florence einige Wochen im Jahr in Bad Nauheim - gemeinsam mit den Ashburnhams aus England.

"Als wir uns zum ersten Mal begegneten, war Hauptmann Ashburnham, der auf Erholungsurlaub aus Indien gekommen war, wohin er nie wieder zurückkehren sollte, dreiunddreißig Jahre; Mrs. Ashburnham - Leonora - war einunddreißig. Ich war sechsunddreißig und die arme Florence dreißig. Heute wäre Florence also neununddreißig Jahre alt und Hauptmann Ashburnham zweiundvierzig" (14).

Gleich zu Beginn lässt der Ich-Erzähler keinen Zweifel daran, dass Florence und Edward inzwischen verstorben sind und dass "es kein Menuett [war], das wir tanzten; es war ein Gefängnis" (17).

Was ist zwischen diesen vier Menschen geschehen? Es kristallisiert sich heraus, dass der Ich-Erzähler nach dem Tod seiner Frau sukzessive von Edward, aber vor allem von Leonora die Wahrheit über die Ehe der Ashburnhams erfährt, die nicht das ist, was sie zu sein scheint.

"Ich weiß nicht, wie ich die Sache am besten niederschreibe - ob es besser ist zu versuchen, die Geschichte von Anfang an zu erzählen, als wäre sie eine Geschichte; oder ob ich sie aus diesem zeitlichen Abstand erzählen soll, so wie ich sie von den Lippen Leonoras oder Edwards vernahm." (23)

Zunächst erzählt er vom Zusammentreffen mit den Ashburnhams - in Rückblicken erfahren wir etwas über seine eigene Ehe, über Florence Motive ihn zu heiraten und über das Entstehen ihrer Verbindung, die an sich schon sehr traurig ist. Denn Liebe ist nicht im Spiel. Keine der Beziehungen verläuft glücklich, so dass der Titel durchaus zutreffend ist.

Leonora, die ihren Mann verehrt und aufgrund ihres katholischen Glaubens an der Ehe festhält, bemüht sich verzweifelt ihn zurückzuerobern, obwohl Edward - wie der Ich-Erzähler ausführlich schildert - sie mehrfach betrügt und sich ernsthaft seinen Leidenschaften hingibt.

Tragisch ist die Beziehung zu dem Mündel, dass er und Leonora aufgenommen haben, so dass am Ende nicht "einer von uns (...) bekommen (hat), was er eigentlich wollte." (270)

Hinzu kommt Edwards Verschwendungssucht, die Leonora einzudämmen versucht, so dass dies zu weiteren Konflikten in der Ehe führt, die keine mehr ist. Der Ich-Erzähler schwankt in seiner Beschreibung und Einschätzung Leonoras, deren Handlungsweise am Ende, wenn man denn Dowell glauben kann, überrascht - nicht im positiven Sinne.

Bewertung
Feinfühlig legt der Ich-Erzähler die Sicht auf das Geschehen aus mehreren Perspektiven dar und verleiht allen seine Stimme - auch der jungen Nancy, die er selbst nach Florence Tod heiraten will. 

Seine eigenen Gefühle schwanken beim Erzählen ebenso wie seine Bewertungen. Einerseits liebt er Florence, will sie beschützen, dann hasst er sie. In Edward sieht er einen empfindsamen Menschen, gleichzeitig wirft er ihm vor, Florence getötet zu haben. Leonoras Verhalten bezeichnet er als grausam, aber er zeigt auch Verständnis für sie. Während er die Geschichte niederschreibt - im Verlauf des Erzählens - werden die Zusammenhänge für die Leser*innen klarer, als hätte der Ich-Erzähler über das Schreiben zu seiner Sicht auf die Dinge gefunden.

Julian Barnes bringt es im Nachwort auf den Punkt:
"[Der Roman] spielt mit dem Leser, während er die Wahrheit offenbart und verbirgt. Und Ford hat auch darin Großes geleistet, dass er die perfekte Stimme für paradoxes Erzählen fand." (301)

Diese Erzählweise ist einerseits sehr anstrengend, da Dowell unzuverlässig und mit vielen Sprüngen, Rückblenden und Wiederholungen erzählt, andererseits macht sie auch den Reiz dieser Geschichte aus, die von unglücklichen und tragischen Liebesbeziehungen erzählt, in denen die Protagonisten gefangen sind. Unter ihnen der Ich-Erzähler, der sich als neutraler Beobachter gefällt und seltsamerweise die größte Sympathie für den Ehebrecher Edward hegt - ob sich dahinter eine homoerotische Neigung versteckt?

"Gibt es ein Paradies auf Erden, wo die Menschen unter flüsternden Olivenbäumen mit denen zusammen sein können, die sie  liebhaben, und bekommen, was sie möchten und sich´s in Schatten und Kühle wohl sein lassen dürfen?" (271)

Aus dieser Bemerkung spricht der Wunsch den Konventionen zu entgehen, obwohl der Ich-Erzähler betont, es bedürfe der Normalen, wie Leonora, damit die Gesellschaft bestehen bleibe, gleichzeitig gibt er zu, dass er die Gesellschaft nicht sehr mag und der freien Liebe nicht das Wort rede (vgl. 288). Er überlässt es den Leser*innen sich ihr Urteil zu bilden.

Keine leichte Kost, trotzdem und gerade deswegen lesenswert.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für die wunderschöne bibliophile Ausgabe des Romans!

Montag, 3. Dezember 2018

Inger-Maria Mahlke: Archipel

Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2018

Lesen mit Mira und Sabine
In den letzten Jahren habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, den Roman, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, zu lesen. Seit ich die Frankfurter Buchmesse besuche, bemühe ich mich, auch mir ein Interview mit dem/der Preisträger*in anzuhören, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Das Interview auf der Frankfurter Buchmesse mit Inger-Maria Mahlke hat mich sehr beeindruckt, so dass ich mich auf den Roman gefreut habe, umso mehr, da meine beiden Lesefreundinnen diesen gemeinsam mit mir lesen wollten. Mira hat kurz vor dem Ende abgebrochen, ihre Kritik kann ich gut nachvollziehen. Sabines Meinung ist in ihrem Lesetagebuch auf whatchaReadin festgehalten.

Während die beiden den Roman aus verschiedenen Gründen kritisch sehen und sich damit in guter Gesellschaft befinden, wenn man sich die vielen negativen Rezensionen anschaut, möchte ich in dieser Rezension, eine Lanze für den Roman brechen, der zwar eine Herausforderung darstellt, aber aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht gut komponiert ist.

Statt einer Inhaltszusammenfassung daher ein grober Überblick der Protagonisten und deren Verflechtungen:



Auf dem Schaubild nicht berücksichtigt sind die politischen Ereignisse, die das Leben der Figuren verändern, berühren und in eine andere Richtung lenken. Oftmals werden sie nur angedeutet, darin liegt die Herausforderung für die Leser*innen, die, wollen sie alles verstehen, recherchieren müssen. Wünschenswert wäre daher, neben der Figurenübersicht zu Beginn des Romans und einem Glossar spanischer Begriffe am Ende, auch ein kurzer geschichtlicher Abriss der Geschichte Teneriffas im 20.Jahrhundert gewesen.

Dadurch, dass der Roman chronologisch in der Zeit zurückgeht, erfahren wir von den Figuren, die zu Beginn sehr viel Raum einnehmen, nichts mehr. Wir erleben Felipe und Ana als junge Erwachsene, als Jugendliche und als Kinder und entfernen uns von ihrem gegenwärtigen Leben, von dem man nichts mehr erfährt, was sehr bedauerlich ist, da man gerne wissen möchte, wie sich die Geschichte weiter entwickelt.
Während die Ereignisse um die Familie Bernadotte im Jahr 2015 - um Ana, Felipe, Rosa sowie ihre Angestellte Eulalia und den Großvater Julio noch recht intensiv erzählt wird, werden die Zeitabschnitte immer kürzer. Es sind Blitzlichter, einzelne Ereignisse und Tage, die geschildert werden und die Aufschluss und Antworten zum Geschehen geben, dass sich in der Zukunft abspielen wird. Das ist einerseits verwirrend und anstrengend beim Lesen - andererseits aber auch reizvoll, gerade weil die übliche Chronologie unterbrochen ist.
Besonders hervorheben möchte ich noch die außergewöhnliche Sprache Mahlkes, die neutral, fast nüchtern die Geschehnisse so detailliert schildert, dass man das Gefühl hat, den Geruch der Insel wahrzunehmen, die Farben zu sehen und die Geräusche zu hören. Sie gewährt nur selten einen tiefen Einblick in das Innenleben der Figuren, beschränkt sich vorwiegend auf die Außensicht, auch in dieser Hinsicht sind die Leser*innen gefordert.

Mein Fazit
Ein intellektueller Roman mit einem hohen Anspruch an seine Leser*innen, der mich aufgrund seiner ungewöhnlichen Erzählchronologie und seiner Figuren - auch wenn man sich notgedrungen von ihnen verabschieden muss - sowie der Verknüpfung von Familien- und politischer Geschichte überzeugt hat.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 430 Seiten
Rowohlt-Verlag, Oktober 2018