In der Hoffnung, dass am Donnerstag etwas weniger los sein würde als freitags, traf ich mich mit meiner Lesefreundin Mira, um gemeinsam die Buchmesse zu erkunden - im Schlepptau vier Mädchen, meine eigenen und zwei Freundinnen. Langweile sollte also nicht aufkommen.
Nachdem wir durch Halle 3.1 geschlendert waren, der Hobbit Press des Klett-Cotta Verlages unseren Besuch abgestattet hatten, stand um 11.00 Uhr das Interview mit der diesjährigen Buchpreis-Gewinnerin Inga-Maria Mahlke, die von Takis Würger vom Spiegel befragt wurde, auf dem Plan.
Gefragt danach, wie es ihr ginge, gab sie zu, das alles sei wie ein unglaublicher Film, erst nächste Woche werde sie wahrscheinlich realisieren, was es bedeute, den Deutschen Buchpreis gewonnen zu haben.
Für ein Porträt hatte Würger sie bereits in Teneriffa besucht, gerade zu der Zeit, als bekannt wurde, dass ihr Roman es auf die Longlist geschafft hat, deshalb duze er sie, erklärte Würger den Zuschauer*innen, um immer wieder ins "Sie" zu verfallen - der offizielle Anlass ;)
Der Roman erzählt anhand dreier Familien die Geschichte Teneriffas - rückwärts.
Mahlke erklärte, sie misstraue Kausalitäten und dem Bestreben im Rückblick Erinnerungen glätten zu wollen, um Kohärenz herzustellen. Sie interessiere sich aber gerade für die Brüche, diese wolle sie sichtbar machen, daher das Erzählen in die Vergangenheit hinein. Dieser erzähltechnische Ansatz macht mich neugierig, die Entscheidung den Roman zu lesen, fiel genau in diesem Moment und spätestens nach der Lesung einiger Seiten - denn Mahlke beschreibt gekonnt minutiös eine einzelne Szene, so dass sie sofort vor dem inneren Auge entsteht.
Ihre Figuren ergeben sich aus dem Schreibprozess, ein Satz steht zunächst allein, dann folgen weitere...sie stellt sich vor, wie ihre Figuren in Alltagsszenen agieren. Die Art und Weise, wie jemand sein Bett mache, sage viel über die Person aus, erklärt sie.
Warum Teneriffa? Ihre Mutter stamme von dort und nein, ihr Vater habe keine Eingeborene geheiratet, wie sie oft gefragt werde, sondern ihre Mutter kam nach Deutschland und lernte hier ihren Mann kennen. Obwohl sie in ihrer Kindheit jede Ferien auf der Insel verbracht habe, habe sie erst in den Recherchen zu dem Roman diese neu kennen gelernt - sei sich ihrer Historie bewusst geworden. Sie habe viele Fotos von den gleichen Orten betrachtet und kleine Details, die sich im Lauf der Zeit verändert hätten, bemerkt.
Sie liebe diese Insel, das anarchische Element. Oft gebe es eine Reihung absurder Ereignisse, wie ein flatterndes Huhn im Wohnzimmer, das von einem Hund gerissen werde. Wie bekommt man Hühnerblut aus dem Perser?
Ihre Figuren seien fiktiv, sie empfinde es als übergriffig, wenn man reale als Vorbilder nehme und nach Abschluss der Geschichte müsse man sie loslassen. So brutal es klinge, sie müssten sterben. Trotz dieser Aussage wirkte die Buchpreisgewinnerin sehr sympathisch und hat mich mit dem, was sie erzählte, überzeugt, ihren Roman zu lesen.
Währenddessen hörten sich die Mädels einen Vortrag vom kleinen Verlag "Traumfänger" über die Darstellung von Indianern in der Literatur. Da sie die einzigen Kinder waren, wurden sie anschließend von einem Redakteur der FAZ interviewt, ich bin gespannt, ob ein Artikel daraus wird.
Im Anschluss daran nutzte ich die Zeit den kleinen, aber sehr feinen unabhängigen Louisoder-Verlag aus München zu besuchen, dessen Neuerscheinungen sich im Frühjahr und Herbst auf jeweils zwei beschränken. Schwerpunkt sind einerseits Romane aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, die in Deutschland weitestgehend unbekannt geblieben sind, wie zum Beispiel die amüsanten Romane von Wilson Collison, "Die Nacht mit Nancy" und "Tod in Connecticut", die ich mit großem Vergnügen gelesen habe.
Ein Roman gegen das Vergessen |
In den Buchhandlungen erfährt der Verlag, 2012 von Gerdt Fehrle gegründet, selbst Autor, kontinuierlich mehr Beachtung, obwohl oder gerade weil er außergewöhnliche Bücher jenseits des Mainstreams verlegt.
Auf der ARD-Bühne bekam ich noch den Rest von Volker Kutschers Interview über "Der nasse Fisch" und die Serie "Babylon Berlin" mit, die Suchtfaktor hat - wie ich bestätigen kann. Viel Recherche stecke in seinen Romanen, ein neuer sei in Arbeit. Das freut mich natürlich, denn ich habe die ganze Reihe um Gereon Rath verschlungen.
Im Anschluss stand Bodo Kirchhoff auf der Bühne und wurde zu seinem neuen Roman "Dämmer und Aufruhr" befragt, in dem er seine frühe Kindheit und Jugend thematisiert. Erst nach dem Tod seiner Mutter habe er über diese Zeit schreiben können. Um eine Distanz zum Geschehen herzustellen, gebe es drei Erzählebenen. Das erlebende Ich - die kindliche Perspektive -, den erinnernden Autor und ein Gespräch zwischen der 90-jährigen Mutter und dem Erzähler. Die Erinnerungen folgen alten Fotos, wie das mit Max Schmeling, mit dem Kirchhoff gemeinsam einen Film gedreht hat, wobei er selbst nur eine kleine Rolle innehatte. Da die Erinnerungen lückenhaft sind, werden fiktive Elemente hinzugefügt - die eigene Geschichte wird funktionalisiert - genau das, was Mahlke in ihrem Roman durch das Rückwärts-Erzählen vermeiden will. Allerdings erzählt sie nicht ihre eigene Geschichte, wie Bodo Kirchhoff, der als 10-Jähriger in ein Internat abgeschoben wurde, wo er von einem Lehrer "erwählt" wurde. Im Nachhinein müsse man von Missbrauch sprechen, allerdings möchte er die Geschichte dahinter berücksichtigt sehen. Kirchhoff erklärt, wenn eine Frau im Krieg von Soldaten vergewaltigt werde, sei dies ein eindeutiger Fall, in anderen müsse man die Geschichte dahinter berücksichtigen. Leider hat die Moderatorin an diesem Punkt nicht nachgehakt, wo zieht er die Grenze? Ein sensibles Thema, für das Kirchhoff meiner Meinung nach nicht die richtigen Worte gefunden hat. Mira und ich überlegen noch, ob wir seinen Roman lesen sollen.
Gemeinsam mit den beiden älteren Mädchen (14 und 13) besuchte ich das Interview mit Reiner Engelmann zu seinem Roman "Der Buchhalter von Ausschwitz". In seinem Jugendbuch erzählt er die Geschichte Oskar Grönings, der sich mit Anfang 20 freiwillig zur SS gemeldet hat. Seine Aufgabe in Ausschwitz, für die er eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben musste, bestand darin, das Geld der "Häftlinge" zu verwalten und Dienst an der Rampe zu tun, wo das Gepäck abgegeben werden musste. Gröning hat nach dem Krieg über seine Tätigkeit geschwiegen, Anfang der 80er Jahre stellte er sich jedoch gegen die Holocaust-Leugner, ohne jedoch eine persönliche Schuld einzugestehen. Anfang 2015 wurde er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, betonte jedoch in der Verhandlung, er habe nur seine Pflicht getan. Engelmann sagte, dass er Jugendliche weniger die Frage stellen möchte, wie sie sich in dieser Situation verhalten hätten, sondern wichtiger sei, wie verhalte ich mich in der aktuellen politischen Lage, in der ein Rechtsruck durch die Gesellschaft geht. Im besten Fall könne man aus der Geschichte lernen - sein Roman leistet einen wichtigen Beitrag dazu.
Zum Abschluss besuchte ich gemeinsam mit Mira den Diogenes-Talk im neuen Pavillon. Befragt wurden neben Verleger Philipp Keel die Krimiautor*innen Katrine Engberg und Mike Herron. Ihre Romane "Krokodilwächter" und "Slow Horses" habe ich beide gelesen und so war es besonders interessant zu erfahren, wie sie auf die Idee zu diesen Geschichten gekommen sind.
Engberg unternahm vor 5-6 Jahren einen Spaziergang mit ihrer Familie, zu der Zeit, als der Meteoritensturm Laurenzi gerade am Himmel zu sehen war. Gleichzeitig entdeckte sie ein Klingelschild: Familie Laurenti und plötzlich war die Protagonistin ihres Romans, Esther de Laurenti, da. Sie wusste, sie mag dicke, kleine Hunde und Rotwein und zog bei Katrine Engberg ein. Entstanden ist ein sehr spannender Krimi, der mit der Meta-Ebene spielt. Laurenti schreibt nämlich einen Krimi, der dann Wirklichkeit wird. Was war zuerst da? Der Mordfall oder das Manuskript? Inzwischen sind zwei weitere Fälle des sympathischen Ermittler-Duos Jeppe Körner und Anette Werner im Dänischen erschienen, hoffentlich werden sie ins Deutsche übersetzt.
Beim Agententhriller "Slow Horses" entschied sich der Verleger gegen den deutschen Titel, "Langsame Pferde" verkauften sich nicht. Angesprochen darauf, warum das Cover von den üblichen bei Diogenes abweiche, verriet Philipp Keel, die Buchhändler hätten gefordert, ein Thriller müsse anders verpackt sein. Inzwischen beschwerten sie sich, er sähe ganz anders als die anderen Diogenes-Bücher aus ;)
Mike Herron gab zu, dass er Recherche-Arbeit hasse, trotzdem sei ihm von einem ehemaligen Spion bescheinigt worden, seine Romane seien sehr realistisch - das habe ihn zutiefst beunruhigt. In all seinen Antworten scheint der trockene britische Humor durch, der auch seinen Roman durchzieht. Insgesamt scheint die Stimmung beim Verlag locker und gelöst zu sein, schenkt man den dreien Glauben, in ihren Gesprächen werde viel Wein getrunken. Leider konnte ich die zweite Runde mit Anne Reinecke, Benedict Wells und Chris Kraus aus Zeitgründen nicht mehr hören. Schade, denn Reineckes Roman "Leinsee" gehört bisher zu meinen Lieblings-Büchern in diesem Jahr. Und auf Benedict Wells, den ich vielleicht in einer Leserunde auf whatchaReadin lesen kann, freue ich mich besonders - genauso wie auf meinem Besuch im nächsten Jahr.