Dienstag, 6. März 2018

Anne Reinecke: Leinsee

- farbenfroh, poetisch, komisch.                                                               

Leserunde auf whatchaReadin


Bei der Einteilung der Abschnitte in der Leserunde ist mir sofort ins Auge gefallen, dass jedes Kapitel als Überschrift eine oder mehrere Farben benennt, manche sind sehr ungewöhnlich wie "teichgrün", "regentageblau" oder sind eigentlich keine Farben wie "Gottweiß", das eigentlich ein Zusammenziehen von "Gott weiß" ist. Ein Ausspruch, den der Vater des Protagonist, immer verwendet hat.

Die Farben tauchen in dem jeweiligen Kapitel auf und haben eine besondere Bedeutung. Ob das daran liegt, dass die Hauptfiguren Künstler sind?

Worum geht es?

Karl ist Ende 20 und lebt mit seiner Freundin Mara in Berlin. Er ist ein aufstrebender Künstler, sie inszeniert Theaterstücke.

Ein unerwarteter Anruf verändert sein Leben: Sein Vater hat sich erhängt, seine Mutter liegt mit einem Hirntumor im Krankenhaus und wird operiert. Ausgang ungewiss. Sofort macht er sich auf den Weg nach "Leinsee", dem Haus seiner Eltern. Er fährt mit dem Zug, weil er noch vom Abend zuvor betrunken ist.

"Seit zwanzig Minuten kotzte er sich - ja, was eigentlich - aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für  -ach, auch egal." (S.7)

Die Gedanken Karl, die in Ellipsen daherkommen, verleihen dem Roman etwas Unmittelbares - trotz der Vergangenheitsform.

"Karl überlegte seitdem, wie das aussehen musste. sein Vater, erhängt. Am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee." (S.8)

Doch während er sich das Gesicht seiner Mutter vergegenwärtigen kann, fehlt ihm das des Vaters. Warum kann -will er sich nicht erinnern?
Seine Eltern - Ada und August Stiegenhauer - gelten als das Künstlerpaar.
Am gleichen Tag geboren, haben sie sich in München an der Akademie der Künste kennen gelernt und bilden seitdem eine feste Einheit, die sich in ihren Kunstwerken ausdrückt. Aus flüssigem Harz gießen sie Formen, in die alle möglichen Gegenstände, Autobiographisches und Zufälliges, zu Staub zermahlen eingeschlossen ist.
Zwei Menschen, die nur sich sehen und wollen, eine Symbiose, die sich in ihrer Kunst widerspiegelt. Sie schließen sich symbolisch im Harz ein - abgeschottet von allen anderen.

Da stört ein Kind, so dass Karl mit 10 Jahren bereits ins Internat abgeschoben wird - dort lebt er unter dem Namen Karl Sund. Um die Anonymität zu wahren, besuchen seine Eltern ihn nie. Nach seinem Schulabschluss kehrt er nicht nach Hause zurück, so dass der Kontakt seit sieben Jahren abgebrochen ist.
Und jetzt ist er wieder in Leinsee und trifft auf den Assistenten seiner Eltern, den er wegen seines Aussehen kurzerhand Buddy Holly tauft und der genauso alt wie er selbst ist. Ein Ersatzsohn, der seine Stelle eingenommen hat? Zumindest hat er Karls ehemaliges Kinderzimmer in Besitz genommen,

"er hatte die Stiegenhauers irrsinnig bewundert und war wahnsinnig glücklich gewesen, so eng mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen Jetzt war er total außer sich, wegen der total tragischen Situation, so was Schreckliches, so ein tolles Paar und dann so was. Er fühlte sich selbst auch total verwaist und wusst gar nicht, wohin mit seiner Trauer. Echt jetzt." (S.35)

In der Wiedergabe der Worte Buddy Hollys blitzt der satirische Charakter des Romans auf, die übertriebene Wortwahl, die Wiederholung "total", das Überschwängliche "wahnsinnig" "irrsinnig", da muss man einfach lachen.

Nach der Beerdigung seines Vaters beschließt Karl zunächst in Leinsee zu bleiben, gegen den Willen Maras, die ihn beschwört, nach Berlin zurückzukehren. Doch er weigert sich.

"Vielleicht blieb er einfach, weil ihn jetzt niemand mehr daran hindern konnte, in seinem Elternhaus zu wohnen. Keine Ahnung. Vielleicht war es auch dieses Kind. Wenn das Kind da war, ging es ihm am besten." (S.129)

Das Kind heißt Tanja und ist acht Jahre alt. Entdeckt hat Karl es oben im Kirschbaum, während es ihn beobachtet hat.
Gemeinsam vakuumieren sie eine tote Taube, die Tanja für ihn aus der Dachrinne genommen hat - seine Form der Kunst, Gegenstände im Vakuum zu verpacken - um sich unangreifbar zu machen?

Karl hinterlässt daraufhin Geschenke für Tanja im Kirschbaum, während sie die Steinplatten vor dem See zu Kontinenten formt. Begegnen sie sich im Dorf, folgen sie sich - immer auf Abstand und hüpfen im Gleichtakt oder stehen gemeinsam vor einem Schaufenster. Es scheint, als habe er eine Seelenverwandte getroffen, die ihn erdet. Wie wird sich diese Freundschaft entwickeln?

Während dessen erwacht seine Mutter aus dem Koma, ihr Gedächtnis ist jedoch nur unzureichend wieder funktionsfähig. Wird sie ihn erkennen?


Bewertung
Quelle: pixabay
Wenn ich dem Roman eine Farbe zuordnen müsste, dann wäre es für mich - buchenblättergrün.

Im Frühjahr, wenn die Buchen im Wald ihre ersten Triebe entfalten, riecht alles nach Neuanfang.

So wie Karl in seinem Zuhause, das es nie für ihn gewesen ist, da für ein Kind kein Platz an diesem Ort sein durfte, einen neuen Anfang wagt. In seinem alten Kinderzimmer baut er sich ein "Nest", rollt sich ein, wie ein Neugeborenes.

"Er wollte hierhergehören. Das hatte er schon immer gewollt." (S.205)

Seine Sehnsucht nach der Kindheit manifestiert sich in der Freundschaft mit Tanja, in ihren Spielen und in der neuen Beziehung zu seiner Mutter - auch wenn die auf einem Missverständnis basiert, das hier nicht verraten wird.

Tanja ist die Erste, die ihn sieht - als denjenigen wahrnimmt, der er ist und nicht der, der er zu sein scheint. Die Bedeutung der Wahrnehmung spiegelt sich auch in der genauen Beschreibung der Farben wider.

Tanja führt ihn ins Leben zurück und ihr Blick in seinem Rücken verändert seine Kunst, verändert ihn.

"Vor allem, wenn es darauf ankam, wenn er etwas besonders gut machen wollte, hatte er sich vorgestellt, sie sähe ihm zu." (S.234)

Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Freundschaft, die den Roman so faszinierend macht. Auch die Figuren überzeugen, ebenso wie viele komische Szenen.
Herrlich, wenn Karl zwei Polizisten weis macht, er habe das Gewehr abgefeuert, weil er Kunst schaffen wollte. Ein Seitenhieb auf die Kunstszene? Die Autorin hat selbst Kunstgeschichte studiert, weiß, wovon sie schreibt.
Faszinierend finde ich ihren Stil - die erlebte Rede Karls - Richtung Bewusstseinsstrom -, die satirischen Elemente und die farbenfrohe, bilderreiche und lyrische Sprache.

"Er trank langsam seinen Kaffe aus und drehte sich nicht um. Er schob sich den winzigen Löffel in den Mund und drehte sich nicht um. Der Geschmack des Metalls war nicht von dem von Blut zu unterscheiden. Er rauchte eine Zigarette und drehte sich nicht um. Er bat um die Rechnung und drehte sich nicht um. Er zahlte und blieb noch drei Sekunden sitzen." (S.132)

Ein großartiges Debüt, auf das hoffentlich noch viele weitere Romane folgen werden.

Vielen Dank an Diogenes für das Leseexemplar.

Buchdaten
Taschenbuch, 366 Seiten
Diogenes, 28. Februar 2018