Samstag, 3. März 2018

Rebecca Hunt: Everland

- zwei Expeditionen in die Antarktis.

Lesen mit Mira

In diesem Monat scheinen Bücher und Aufenthaltsort bzw. Bücher und Wetter zusammen zu passen.
Hatte ich "Acht Berge", "Das Päckchen", die beide in den Bergen spielen, im Skiurlaub gelesen und "Unter der Drachenwand" gehört, fiel die Lektüre von "Everland" in eine Kälteperiode im Saarland - echtes Antarktis-Feeling.
Der Roman ist ein Geschenk Miras, mit der ich ihn auch gemeinsam lesen wollte. Allerdings hat sie nach über 100 Seiten die Segel gestrichen - es hat einfach nicht gepasst.
Der Wettlauf zwischen Scott und Amundsen zum Südpol hat mich immer schon fasziniert. In einem Interview äußert die Autorin, dass ihr Roman von Scotts Tagebüchern und denen von Sir Ernest Shackelton inspiriert wurde, die beide in der Antarktis gescheitert sind.

Die erste Expedition auf die fiktive Insel Everland findet im Jahr 1913 im März statt. Vom britischen Schiff Kismet aus starten drei Männer auf die unbekannte Insel. Im April 1913 wird nur einer von ihnen gefunden - unter dem Boot Joseph Evelyn, mit dem sie auf der Insel angekommen sind.

"Die Dankbarkeit war überwältigend. Dinners weinte, weil es ein Wunder war, dass man ihn gefunden hatte. Er weinte, weil sein halbtoter Körper ihn nicht im Stich gelassen hatte und er nicht allein in der Kälte hatte sterben müssen. Und er weinte um Napps und Millet-Bass, aus Trauer und Schmerz über das, was geschehen war. (S.8)"

Damit beginnt der Roman und wirft spannende Fragen auf: Was ist mit den beiden anderen geschehen? Warum ist die Expedition gescheitert? Warum liegt Dinners allein unter dem Boot?

Fast hundert Jahre später, im November 2012 startet erneut eine Expedition nach Everland - dieses Mal, um die Robben- und Pinguin-Population genauer zu untersuchen. Wieder sind es drei Menschen, die sich der Kälte aussetzen, im Gedenken an die historische erste Erforschung der Insel.

Am Tag vor dem Aufbruch steht der Film-Klassiker Everland auf dem Programm. Der Film basiert auf dem Logbuch von Kapitän Lawrence über die Expedition der Kismet, das den ersten Offizier Napps in äußert schlechtem Licht zeigt.

Das Interessante ist, dass alle Untaten Napps in der Erzähllinie, die vom März 1913 bis zum Zeitpunkt, als Dinners unter dem Boot Schutz sucht, reicht, aufgegriffen und aus seiner Sicht dargestellt werden.

Die drei Zeitebenen
- die erste Expedition (März 1913-April 1913)
- das Auffinden Dinners und die Ereignisse bis zur Rückkehr der Kismet nach Neuseeland (April 1913-September 1913)
- die Jubiläums-Expedition (November 2012-Dezember 2012)

werden parallel erzählt - etwas gewöhnungsbedürftig, aber auch spannungssteigernd.

Die Figuren in der historischen Expedition:
Napps ist der Erste Offizier auf der Kismet und steht in Konkurrenz zum Kapitän Lawrence, denn er

"verfügte über eine natürliche Autorität, die Lawrence abging und die er auch nicht nachahmen konnte. Mitansehen zu müssen, wie sich die Männer instinktiv am Ersten Offizier orientierten, raubte Lawrence den Schlaf. Dann lief er nachts in seiner Kajüte auf und ab und hatte Magenbrennen vor lauter Missgunst." (S.22)

Für ihn soll es die letzte Expedition sein, er hat seiner Frau Rosie versprochen, nach Hause zu kommen: "Es gibt nicht, was ich nicht tun würde, um zu dir zurückzukommen." (S.356)

Millet-Bass wird von Napps vorgeschlagen.

"Er war kräftig, leistungsfähig, und seine Talente als Matrose standen außer Zweifel" (S.66)

Dinners ist der Wissenschaftler der Crew. Beim äußerst ungünstigen Start der Expedition - 6 Tage irrt das Beiboot auf offener See, bevor sie die Insel erreichen, wird deutlich, dass er der Kälte und der Situation nicht gewachsen ist. Dementsprechend schwächt er die beiden anderen.

"Die Schwachen werden nicht von den Starken getragen, sondern reißen sie mit in die Tiefe" (S.68).

Wie gehen die anderen damit um? Und warum wurde ein Mann ausgewählt, der über keine Erfahrungen aufweisen kann?

Die Parallelen zwischen den Expeditionen wird  auf der Figurenebene offensichtlich.

"Sie waren auf derselben Insel, in einer ähnlichen Dreierkonstellation." (S.103)

Decker ist der Chef der Expedition, ein Mann, der zahllose Expeditionen hinter sich hat und dies soll seine letzte sein. Sein Wunsch ist es, in Zukunft mit seiner Frau Viv die Zeit, die ihm noch bleibt, zu verleben. Dafür würde er alles (?) geben.

Jess (29) ist ist Feldassistentin, "[i]hre Rolle bestand darin, die Mannschaft zu unterstützen. Sie kochten die Mahlzeiten, hielten die Ausrüstung in Schuss, sorgten, dafür, dass alles glattlief, und sprangen überall ein, wo es nötig war." (S.33)

Sie hat bei der Bergwacht gearbeitet, war Bergführerin und hat schon an einigen Expeditionen teilgenommen. Ihre großmäulige Art, ihr jungenhaftes Auftreten wirkt wie eine Schutzwall, sie gibt sich unnahbar, um nicht verletzt zu werden.

Brix (Mitte 30) ist die Wissenschaftlerin und hat keinerlei Erfahrungen in der Antarktis. Die berechtigte Frage: Warum ist sie mit im Team?

Ihre Unerfahrenheit kompensiert Decker, der sie in Schutz nimmt, während Jess ihr offen zeigt, dass sie Brix für unfähig hält und ihre Nominierung für einen Fehler.

"Decker war in Brix´Augen das Beste an Everland. Außerdem beschützte er sie vor dem, was das Schlimmste an Everland war: Jess." (S.76)

Die Parallelen sind aber auch auf der Handlungsebene zu finden. So betrachtet Dinners eine seltene Flechte, die nur einen Millimeter im Jahrhundert wächst, die gleiche Pflanze erstaunt auch Brix.
Jess entdeckt eine alte Ananasdose, ein Beweis für die erste Expedition, deren Mitglieder Gegenstand unzähliger Biographien sind - "Symbole einer Tragödie" (S.81).
Interessant ist auch die Szene, in der Napps und Millet-Bass die letzten überlebenden Seebären auf Everland entdecken und der Erste Offizier die Hoffnung hegt, die Spezies werde überleben. Im folgenden Kapitel (November 2012) treffen Brix, Jess und Decker auf 200 von ihnen.

Auch die Probleme ähneln sich, nicht nur die Kälte und die Wetterbedingungen machen beiden Teams zu schaffen, auch die Beziehungen untereinander sind explosiv. Diese psychologische Komponente, wie Menschen in Extremsituationen reagieren, welche Allianzen entstehen und wozu sie im Angesicht einer Katastrophe fähig sind, hat mich in Bann den geschlagen und macht neben der detaillierten Beschreibung der Kälte und der Natur mit ihren wenigen Bewohnern, den besonderen Reiz dieses Romans aus.
Wer übernimmt Verantwortung, wer lässt wen im Stich, wer ist in der Lage dazu einen Menschen zu opfern, um nach Hause zurück kehren zu können?

"Wie uns die Zeit dazu verleitet, zu sehen, wer wir wirklich sind und welche Entscheidungen wir treffen." (357)

Interessant ist auch zu lesen, dass trotz der verbesserten Ausrüstung, des technologische Fortschritts, die Expedition ein Wagnis, ein Abenteuer bleibt.

"Grässlich, wie abhängig wir voneinander sind", sagte Jess, als sie die Augen wieder aufschlug. "Fast wie Napps und seine Männer." (S.226)

In der 3. Erzähllinie rückt der Streit um die Ereignisse, die sich in Everland abgespielt haben könnten und die Rolle, die Napps dabei gespielt hat, in den Mittelpunkt. Trotz mehrerer Suchaktionen ist keine Spur von Napps und Millet-Bass zu finden, Dinners ist nicht in der Lage zu sprechen. Was ist auf der Insel geschehen?
Während Addison Napps guten Ruf verteidigt, finden sich immer mehr Matrosen, die in Opposition zu ihm gehen und offen ihre Meinung äußern, Napps habe Dinners im Stich gelassen.

"Napps´ professionelle Reputation war über alle Zweifel erhaben, die Beurteilung seines Charakters jedoch fiel um einiges widersprüchlicher aus. Es hing immer davon ab, mit wem man darüber sprach und wer auf welche Art seine Wut zu spüren bekommen hatte." (S.85)

Kapitän Lawrence ist nicht der Einzige, der Tagebuch führt, das sich hauptsächlich auf Vermutungen über das, was in Everland passiert sein könnte, stützt. Warum ist es seine Sicht der Dinge, die viele Jahre später im Film überleben?

"Lawrecnes Verpflichtung gegenüber der Wahrheit in seinem Logbuch war ein Thema, über das sich Addison lästigerweise massive Sorgen machte. Er befürchtete dass sich Lawrence von den Geschichten der Männer auf unfaire Weise beeinflussen ließe." (S.164)

Geschichten, die sich in Napps Erinnerungen größtenteils als falsch erweisen, doch seine Sicht der Dinge findet kein Gehör.

Ein Aspekt, den die Autorin in einem Interview zur Sprache bringt:

"Wir sind nicht die alleinigen Autoren unseres Lebens; bis zu einem gewissen Grad sind wir der Willkür verschiedener Interpretationen ausgesetzt. Je nachdem wie ein Ereignis endet, betrachten wir ein Verhalten als mutig oder waghalsig, entschlossen oder starrköpfig. Mich hat diese Wandelbarkeit der Geschichtsinterpretation interessiert; wie Scott zu einer kontroversen Figur wurde, deren Misserfolg, je nach herrschendem Zeitgeist, immer wieder neu eingeordnet wurde. "

Im Roman ist es die Figur Napps, die diesen Wandel erfährt und würde die Handlung fortgesetzt, wäre zu erwarten, nachdem die 2.Expedition seinen Verbleib klären kann, dass seine Beurteilung erneut revidiert wird.

Ein spannender Roman, der die Leser*innen auf zwei faszinierende und gefährliche Expeditionen in die Antarktis mit ihren extremen Bedingungen mitnimmt.