Montag, 4. September 2023

Monika Helfer: Die Jungfrau

 - ein autofiktionaler Roman über eine Freundschaft.

Leserunde auf whatchaReadin

In Helfers aktuellen Roman erzählt die Autorin von ihrer Jugendfreundin Gloria. Die beiden haben sich aus den Augen verloren und keinen Kontakt mehr gehabt, bis an Monikas 70.Geburtstag ein Brief von Gloria eintrudelt, geschrieben von ihrer Nichte Klara, die sie bittet zu kommen, weil Gloria im Sterben liege.
So macht sich Moni auf, die einstige Freundin zu besuchen.

Gloria lebt immer noch in dem einst luxuriösen Haus, in dem sie als Kind und Jugendliche mit ihrer Mutter gewohnt hat. Während Moni aus ärmlichen Verhältnissen stammt, wuchs Gloria im Überfluss auf, allerdings nur in finanzieller Hinsicht. Die Mutter ließ sie in Unsicherheit darüber, wer ihr Vater ist, so dass Gloria sich einen Amerikaner erträumt hat. 

"Irgendwie war es der Mutter gelungen, die Illusion in Glorias Herz zu implantieren. (...) Die Illusion, die Sehnsucht, auch der Hass, die Angst, die Unbefriedigtheit sollen nicht sterben, wenn ich sterbe ... Sie sind mein Erbe." (S.57)

Es ist eine seltsame Freundschaft, von der Monika Helfer erzählt. Eine Freundschaft, die man heutzutage als toxisch bezeichnen würde. Gloria versucht Moni mithilfe ihres Geldes, ihrer Schönheit, ihrer Schauspielkunst und ihrer Wirkung auf Männer zu imponieren und auch zu übertrumpfen, während sich Moni moralisch überlegener fühlt und sozusagen ihren Wettstreit gewinnt. Denn sie heiratet zuerst, bekommt Kinder, wird eine erfolgreiche Schriftstellerin.

Nichtsdestotrotz verbindet die beiden Mädchen etwas, letztlich haben sie sich trotz aller Unterschiede und Differenzen gern, aber es reicht nicht, um ein Leben lang konstant in Kontakt zu bleiben.

Assoziativ erzählt Monika Helfer einzelne Episoden der Freundschaft - nicht in chronologischer Reihenfolge, was sie selbst zum Gegenstand des Romans macht.

"Im Kopf gibt es die Zeit nicht. So gesehen, ist die Schriftstellerei der Warteraum schlechthin."
(S. 25)

"Die Zeit schwindet mir und schwindelt, Vergangenheit und Gegenwart wachsen ineinander. Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. Jahre vergehen, der Rossschwanz bleibt. Was vor fünfzig Jahren weh getan hat, tut immer noch weh." (S.84)

Das passt zu dem Zitat mit dem Wartezimmer und dass es im Kopf keine Zeit gibt. Die Gefühle sind genauso präsent wie vor langer Zeit. Sie warten darauf, dass man sie aufs Papier bringt. 

Und das hat Monika Helfer getan - in der ihr typischen lakonischen Sprache hat sie die Geschichte ihrer Freundschaft mit Gloria aufgeschrieben und sie gleichzeitig verarbeitet. Das war zumindest mein Eindruck.


Sonntag, 3. September 2023

Stefan Moster: Bin das noch ich

 - Identitätskrise eines Violinisten

Leserunde auf whatchaReadin

Simon Abrameit ist Berufsmusiker - Violinist - und zu einem Konzert in Helsinki eingeladen. Er reist mit gemischten Gefühlen aus Deutschland an.

"Es hat mit seiner linken Hand zu tun. Sie ist unzuverlässig geworden" (S.9). Alle anderen freuen sich jedoch auf diesen gemeinsamen Auftritt, da sie nach der Corona-Pandemie endlich wieder vor Publikum musizieren dürfen.

"Nur aus Russland ist diesmal niemand dabei" (S.10), während die Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine herzlich begrüßt werden. Der Roman spielt folglich im Sommer 2022.

Simon trifft auch die Violinistin Mai wieder, deren Eltern zur Zeit des Vietnamkrieges nach Deutschland geflüchtet sind und die einen Finnen geheiratet hat. Nachdem seine linke Hand ihn bei der schwierigen Sonate für Violine solo von Béla Bartok im Stich lässt, denn sie "erstarrt in einer Qual, die den ganzen Arm sowie die linke Schulter lahmlegt" (S.20), bietet sie ihm an, sich in ihrem kleinen Ferienhaus auf einer einsamen Schäreninsel zurückzuziehen.

In der Auseinandersetzung mit seinem Handicap schreibt er auf der Insel in sein Notenheft Briefe an Darja, ebenfalls eine Violinistin, die einst aus Russland in den Westen geflohen ist und ukrainische Großeltern hat. Gemeinsam mit ihr hat Simon vor Jahrzehnten auf einem Wettbewerb gespielt und "erkannte sofort (ihre) überragende Begabung und erkannte sie auch an, neidlos, wie man so sagt, mit Bewunderung." (S.81)

Seine Vergleiche und Erinnerungen an Darja zeigen, dass er von der Angst, nicht gut genug zu sein, schon seit jenem Wettbewerb beherrscht wird. Schon damals hatte er Zweifel, ob Violinist als "Beruf(ung)" für ihn noch in Frage kommt.
Und auch jetzt auf der Insel stellt er sich die Frage, wer er denn sei, wenn er nicht spiele.
Simon ist in einer Existenzkrise und braucht offenkundig Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen, was er außer Violinist noch sein kann. Die Frage "Aber bin das noch ich?" (S.132) treibt ihn um und gleichzeitig zur Natur, zu den Vogelstimmen. Wie eine Teilnehmerin aus der Leserunde recherchiert hat, ist Moster Hobby-Ornithologe. Das merkt man den Beschreibungen der einzelnen Vogelarten, deren Brutverhalten sowie deren Singstimmen deutlich an. Gleichzeitig ist dies eine Stärke des Romans sowie die detaillierte Darlegung dessen, was Simon beobachtet, was er hört, wie er sich auf der Insel fühlt und sich zwingt, nicht zu üben.
Nebenbei lesen wir auch eine Art Biographie des ungarischen Musikers Béla Bartok, ebenfalls ein Exilant,  und schlüpfen in das Denken eines Musikers, der die Stücke, die er spielt, innerlich hören kann. Sehr faszinierend geschildert. Auch die Geräusche der Natur klingen für ihn wie Musik - "Die Welt ist Klang" als Leitmotiv.
Obwohl der Roman sehr handlungsarm ist, ist er weder langweilig noch langatmig, da die Identitätskrise Simons und sein Erleben der Natur auf der Insel die Lesenden gefangen nehmen.
Der Roman ist in der personalen Perspektive Simons verfasst, bis auf die Briefe an Darja, die er in sein Notenheft schreibt, sowie einen Teil, der sozusagen einen Auszug aus jenem Heft bildet.

Diese Briefe und das Notizbuch aus der Ich-Perspektive haben mir am besten gefallen. Gerade, weil Darja ein Gegenüber, ein positives Vorbild für den Protagonisten ist. Eine Adressatin seiner Gedanken, weil er glaubt, sie verstehe ihn.
Der letzte Teil hätte für mein Empfinden etwas kürzer ausfallen können, ansonsten - ein wunderschöner Roman.