Donnerstag, 19. August 2021

Leo Tolstoi: Kreutzersonate

 - eine Novelle.

Klassiker der Weltliteratur

Leserunde auf whatchaReadin

Die Novelle spielt auf einer Zugfahrt, der Ich-Erzähler ist bereits den 2.Tag unterwegs und teilt das Abteil mit einer „hässlichen, nicht mehr jungen, zigarettenrauchenden Dame“ (7) und ihrem Bekannten, einem Anwalt, der tadellos angezogen ist sowie einem kleinen, fahrig wirkenden Herr, der zunächst jedes Gespräch meidet.
Es kommt zu einem Streitgespräch zwischen einem älteren Kaufmann und der Dame, nachdem diese mit dem Anwalt über Ehescheidungen gesprochen hat und der zu dem Alten gewandt fragt: „Früher hat es sowas nicht gegeben, nicht wahr?“ (11)

Die modernen Ansichten der Dame, man solle aus Liebe heiraten, stehen denen des Alten, das Weib habe den Mann zu fürchten und ihm zu gehorchen, gegenüber. 
Dieses Gespräch ist jedoch nur der Anlass, dass der kleine, fahrig wirkende Herr sich ins Gespräch einschaltet und die Position vertritt, es gebe keine wahre Liebe, eine Gegenseitigkeit der Gefühle sei unmöglich, „genausowenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen könnten.“ (21)
Zudem sei man irgendwann übersättigt. Die Ehe werde seiner Meinung nach geschlossen, damit man den Beischlaf vollziehen könne, nicht aus gemeinsamen Idealen heraus. Die Folge sei Betrug, da die Anziehung nachlasse. Er stellt sich als der Posdnyschew vor, der seine Frau umgebracht hat. Die Einleitung ist vollzogen und im Folgenden schildert er dem Ich-Erzähler, wie es zu jener schrecklichen Tat gekommen ist, wobei er immer wieder gesellschaftliche Missstände anspricht und über die Rolle der Sexualität spricht.
Obwohl alle wüssten, dass die Männer vor der Ehe ihrem Vergnügen nachgehen, müssten die Mädchen jungfräulich sein. Tolstoi prangert sehr offen diese Diskrepanz an und sein Protagonist verurteilt dies deutlich, da er glaubt, ein „Schürzenjäger“ könne nie mehr ein reines Verhältnis zu einer Frau haben, während die jungen Mädchen die Betrogenen sind. Er glaubt die Lösung in der Enthaltsamkeit gefunden zu haben. Ziel sei es, dass sich alle Menschen in Liebe vereinten, "was ist es dann, was dem Erreichen dieses Ziels im Weg steht? Es sind die Leidenschaften. Und unter den Leidenschaften ist die stärkste, bösartigste und hartnäckigste die sexuelle, die der körperlichen Liebe (…)" (57)
Ideal ist demnach die Jungfräulichkeit, eine sehr radikale Ansicht, die im Nachwort erläutert wird.

Tolstoi erlitt Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre eine schwere Lebenskrise, obwohl ein weltberühmter Autor, Familienvater und glücklicher Ehemann glaubte er, sein Leben sei sinnlos. Die Autorin des Nachwortes, Olga Martynova, sieht die Ursache in Tolstois Widersprüchlichkeit. Einerseits wurde er von seinen Leidenschaften Eifersucht, Jähzorn und Wolllust getrieben, wie sein Protagonist, andererseits wollte er eben jene überwinden. Daher entwickelte er nach seiner Lebenskrise eine "Weltanschauung, die nicht nur jede Gewalt (von der Wehrpflicht bis zum Fleischverzehr) ablehnte, nicht nur das Eigentum als eine abscheuliche Form des Lebens auf Kosten anderer verurteilte, sondern auch die Ehe, die Kunst, die Kirche und vieles andere, was früher Inhalt seines Lebens gewesen war, ganz verleugnete oder harter Kritik unterzog." (184) So gelangte er u.a. zu der radikalen Ansicht, dass die absolute Keuschheit ein erstrebenswertes Ideal ist. Gleichzeitig könne man auf diese Art und Weise Frauen zu ihrer Gleichberechtigung verhelfen, da sie nicht mehr gezwungen seien, die Rolle der Verführerin zu spielen, sich nicht mehr in der Ehe prostituieren zu müssen.
Eine gleichberechtigte, respektvolle Partnerschaft, in der die Sexualität eine erfüllende Rolle spielt, scheint Tolstoi nicht für möglich gehalten zu haben. 

Eine Novelle, die zur Diskussion dieser radikalen Thesen einlädt, gleichzeitig aber auch das Psychodrama einer Ehe erzählt. Schließlich hat Posdnyschew seine Frau aus Eifersucht getötet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt er seinem Zuhörer mit Leidenschaft und zunehmender Unruhe. Wie eine aus unserer Leserunde treffend beschrieben hat, könne man die Novelle auch als Psychogramm einer Ehe lesen statt als moralischen Leitfaden. So oder so ist sie lesenswert ;).

Vielen Dank dem Pinguin-Verlag für das Leseexemplar.


Donnerstag, 12. August 2021

Daniele Krien: "Der Brand"

 - ein Paar zieht in der Lebensmitte Bilanz.

Leserunde auf whatchaReadin

Rahel, aus deren personaler Erzählperspektive das Geschehen geschildert wird, hat in den Sommerferien mit ihrem Ehemann Peter, mit dem sie seit fast 30 Jahren verheiratet ist, ein Hütte in den Bergen gemietet. Alles ist vorbereitet:

"Den Papierkram in der Praxis (sie ist Psychotherapeutin) hat sie erledigt, (...). In ihrer Stammbuchhandlung hat sie ein Buch auf Empfehlung gekauft und eines von Elizabeth Strout, das schon lange auf ihrer Wunschliste stand - eine hochgelobte Mutter-Tochter-Geschichte." (7)

Mit dem Roman von Strout ist "Die Unvollkommenheit der Liebe" gemeint, ein Titel, der auch zum derzeitigen Verhältnis zwischen Rahel und Peter passt. Der Aufenthalt in den Bergen sollte ihnen einen Neustart ermöglichen, doch die Hütte brennt ab. Zufällig meldet sich kurz darauf Ruth, eine Freundin von Rahels verstorbener Mutter Edith. Zu Ruth und deren Mann Victor hat Rahel zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis gehabt, deren Haus in der Uckermark ist für sie immer ein Zufluchtsort gewesen. 

"Bei ihnen in Dorotheenflede kam ihr Leben zur Ruhe. Ediths rastloses Dasein, das Rahel und ihrer Schwester Tamara eine Kindheit mit wechselnden Stiefvätern, etlichen Umzügen kreuz und quer durch Dresden und verschiedenen Schulen beschert hatte, war wie ein Sturm auf hoher See gewesen, und obwohl auch Dorotheenfelde kein dauerhafter Hafen wurde, so hatte es hier doch immerhin heilsame Flauten gegeben." (15)

Da Victor einen Schlaganfall gehabt hat und kurzfristig einen Rehaplatz erhalten hat, bittet Ruth Rahel und Peter auf ihr Haus aufzupassen und die Tiere zu versorgen. Rahel sagt zu, ohne Peter zu fragen. Ein Verhaltensmuster, das eines der Probleme aufzeigt, die zwischen ihnen herrschen - Rahels Dominanz.

Sie ist die lebenslustigere, aktivere der beiden und kann es kaum ertragen, dass Peter nicht mehr mit ihr schläft. So bezieht jeder ein eigenes Zimmer in Dorotheenfeld und Peter bietet an, sich um die Tiere - ein Pferd, mehrere Katzen sowie einen flugunfähigen Storch, zu kümmern. Damit er nicht mit Rahel reden muss? Gleichzeitig spiegeln die Tiere das Verhalten der Figuren wider, die in der ländlichen Einsamkeit miteinander auskommen müssen.

Rahel entdeckt in Victors Atelier, der im Verband Bildender Künstler der DDR gewesen ist und in den Nullerjahren ein Comeback erlebt hat, Zeichnungen von sich als Kind sowie von ihrer Mutter. Der Gedanke, Victor könne ihr Vater sein, drängt sich auf. Ihre unstete Mutter Edith hat nie verraten, wer Rahels Vater gewesen ist.

Schließlich bittet Rahel Peter um ein Gespräch und es stellt sich heraus, dass der Bruch aufgrund ihrer Illoyalität entstanden ist. Peter hatte in seinem Literaturseminar eine Konfrontation mit einem nicht-binären Menschen (Olivia P.) und war der Situation nicht gewachsen, ebensowenig wie dem anschließenden medialen Shitstorm. 

"Die ganze Sache mit Olivia P., das Spießrutenlaufen an der Uni, der Hass, die Vulgarität, das alles habe ihn zutiefst erschüttert, und als er angeschlagen nach Hause gekommen sei, sei er von ihr verhöhnt worden, und etwas in ihm sei zerbrochen. (...) Und das Begehren ... hat einfach aufgehört." (57)

Wird es wieder zurückkehren?

Zu allem Überfluss kündigt sich Selma, ihre Tochter mit ihren zwei Kindern an.

"Wenn Selma nur nicht so wäre, wie sie ist. Egal, wie viel Aufmerksamkeit und Liebe sie ihrer Tochter schenkt- Selma braucht mehr." (61)

Der Besuch gestaltet sich schwierig, nicht nur wegen unterschiedlicher Erziehungsfragen - dürfen Kinder unter dem Tisch essen? - sondern auch deshalb, weil es in Selmas Ehe ebenfalls kriselt. Andererseits führen die gemeinsamen Probleme dazu, dass Rahel und Peter sich annähern. Wird es Peter gelingen erneut Nähe zuzulassen, kann Rahel sich zurücknehmen und seine Bedürfnisse akzeptieren? Wird es ihr gelingen die Beziehung zu ihrer Tochter zu verbessern? Und kann Rahel die Frage nach ihrer Herkunft lösen?

Krien zeichnet ein realistisches Bild der verschiedenen Beziehungen - nicht ohne Humor. Sie spielt mit den Geschlechterstereotypen und stellt sie dadurch in Frage.

"Männern wird immer vorgeworfen, wir wären triebgesteuert, aber so langsam habe ich das Gefühl, dass ihr Frauen uns auch in dieser Hinsicht überholt." (105)

Peter repräsentiert den gelehrten Universitätsprofessor, der die heutige Jugend nicht mehr versteht, sich aus der Gesellschaft zurückzieht, auf Teilhabe verzichtet, dadurch aber die Möglichkeit versäumt, mit der Zeit zu gehen, sich anzupassen und trotzdem seine Meinung darzulegen.

"(...) du hast ein Idealbild vom umfassend gebildeten Studenten einer längst vergangenen Epoche, als Studieren die Ausnahme und nicht die Regel war." (139)

Jammern allein kann keine Lösung sein. Trotzdem sind die Figuren nicht unsympathisch, man kann ihre Gefühle und Befindlichkeiten nachvollziehen, wenn auch nicht alles gutheißen.

Krien erzählt von einem Ehepaar in der Mitte ihres Lebens, die eine Neuorientierung suchen und sich dabei nicht verlieren wollen. Ein lesenswerter Roman, nicht nur für Paare in der Midlifecrisis.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.