Donnerstag, 22. März 2018

Ulrich Ritzel: Nadjas Katze

- ein Stofftier führt in die Vergangenheit.

Ulrich Ritzels Kriminalromane mit dem eigenwilligen Kriminalkommissar Hans Berndorf sind Garanten für intelligente Fälle, die - wie in "Der Schatten des Schwans" - in die dunkelste Vergangenheit unserer Geschichte führen. So auch dieses Mal.

Worum geht es?
Die pensionierte und geschiedene Lehrerin Nadja Schwertfeger entdeckt in einem Antiquariat ein dünnes Heftchen.

"Über den verblichen-gelben Umschlag zieht sich in schwarzer Flammenschrift der Titel Die Nachtwache des Soldaten Pietzsch, als Autor ist ein Paul Anderweg angegeben." (S.7f.)

1947 im Selbstverlag erschienen und in Nördlingen gedruckt.

Nadja sammelt Bücher, Erzählungen und Veröffentlichungen vergessener Autoren und aus einem unbestimmten Grund nimmt sie dieses Heftchen mit.
Beim Lesen bleibt sie an einem Absatz hängen,

"Haben schwarze Katzen rosa Tatzen und eine rosa Schnauze?" (S.10)

Ihre altes Schmusetier, Maunz, sieht genauso aus, wie in der Erzählung beschrieben. Sie ist das einzige, was Nadja von ihrer leiblichen Mutter mit auf den Weg bekommen hat. Sie wurde als vier Wochen altes Baby im Februar 1946 von Roswitha Schwertfeger, wohnhaft in Ravensburg, und deren Mann adoptiert. Ihr richtiger Name lautet Nadeshda Helena, ihre Mutter, eine Polin oder Russin, habe Roswitha das Kind anvertraut.

Voller Neugier liest Nadja die Erzählung Anderwegs, die aus der Perspektive des Soldaten Pietzsch das Geschehen in der Nacht vom 19.April 1945 in einem kleinen Dorf in Württemberg schildert. Im Schulhaus, das sehr genau beschrieben wird, lebt eine Flüchtlingin mit ihrem 4jährigen Sohn Lukas, es gibt einen russischen Militärarzt und eine Truppe SS-Männer, die auf der Flucht vor den Alliierten sind. Im Schulhaus wird in dieser Nacht getanzt und besonders ein Akkordeon-Spieler sorgt für gute Stimmung. Pietzsch ist in der Nacht im Haus des Dorfbürgermeisters, dessen Schwiegertochter eben jenes Stofftier-Unikat näht, das sich in Nadjas Besitz befindet.

Aufgerüttelt von der Erzählung beschließt Nadja, jenes Dorf zu suchen und stellt fest, dass der Gauleiter Murr von Württemberg sich am 19.April über das Kloster Urspring ins Große Walsertal abgesetzt hat. Es ist also durchaus möglich, dass die Erzählung wahre Erlebnisse schildert.
Gemeinsam mit einer Freundin landet sie schließlich in Wieshülen und wird mit einer Mauer aus Schweigen konfrontiert.
Über den neuen Besitzer des Schulhauses geraten sie an Carmen Weitnauer, die wiederum ist eine alte Schulfreundin von Hans Berndorf, der seine Kindheit in Wieshülen verbracht hat. Inzwischen ist er Privatdetektiv in Berlin und Nadja beschließt ihn zu kontaktieren.
Nachdem Berndorf die Erzählung gelesen hat, ist sein persönliches Interesse geweckt - doch er offenbart seine Motive zunächst nicht.
Er schlägt Nadja vor, etwas über den Autor Paul Anderweg herauszufinden - gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Nördlingen und stoßen auf einen Journalisten, der für die Zeitung gearbeitet hat.
Langsam aber sicher entschlüsseln Berndorf und Nadja die Figuren aus der Erzählung, decken dunkle Geheimnisse des Ortes auf und nähern sich der Antwort, wer Nadjas Eltern gewesen sein könnten, während ihr Verhältnis sehr unterkühlt bleibt - beide sind Einzelgänger.

Zwei weitere Erzählungen Anderwegs führen in dunkle Kapitel deutscher Geschichte und geben einen Einblick, welche Rolle die Russische Befreiungsarmee ROA am Ende des 2.Weltkrieges gespielt hat. Im Gespräch mit seiner Lebensgefährtin Barbara äußert Berndorf auf die Frage, wo sie in ihren Recherchen hingeraten seien:

"In den Wald der Erinnerungen. (...) Da darf man keinen Schritt zur Seite tun. Und das Gebüsch am Wegrand nicht zur Seite schieben. Nicht in diesem Land. Überall liegen noch Skelette herum." (S.250)

Bewertung
Obwohl es in der Vergangenheit, im April 1945 einen Mordfall gegeben hat, ist der Roman kein Krimi im klassischen Sinn. Das Aufdecken der Tat geschieht sozusagen nebenbei - während der Suche nach Nadjas Mutter. Die vielen Figuren in der Gegenwart und der Vergangenheit verwirren zunächst, glücklicherweise findet sich am Ende eine Übersicht, so dass man den Faden nicht verliert.
Der verschlungene Weg zur Wahrheit ist dennoch recht verworren und man darf nicht querlesen - sonst ist er doch wieder weg, der rote Faden.
Nadjas Wunsch herauszufinden, wer ihre leibliche Mutter gewesen ist, steht für mich gar nicht so sehr im Vordergrund der Geschichte, sondern eher die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte. Es sind viele Verbrechen, die im Roman aufgedeckt und bewusst gemacht werden. Sei es die Beteiligung der Musiker an der Erschießung von Juden oder die Vergewaltigung der Nichte durch den Onkel, der Installateur in einem Heim für behinderte Kinder gewesen ist, die bis zu Beginn der 1940er Jahre ebenfalls vergast wurden. Berndorf, der unsentimentale, nüchterne Ermittler deckt längst vergangenes Verbrechen auf, auch solches, das nicht verjährt.
Dabei gerät seine eigene Kindheit in den Fokus und auch er erfährt Überraschendes über seine Mutter - jene Flüchtlingin aus Paul Anderwegs Geschichte.

Ein lesenswerter, spannender und interessanter Krimi gegen das Vergessen.

Buchdaten
Taschenbuch, 442 Seiten
btb, 2016

Vielen Dank an das Bloggerportal für das Lese-Exemplar.