Meine bisherigen Erfahrungen mit Boyle beschränken sich auf seinen Erstling "Wassermusik", zu dem ich thematisch wenig Zugang gefunden habe, während mich die Sprache begeistert hat. Ein Freund hat mir, um mich weiterhin zu motivieren, Boyle zu lesen, "Das wilde Kind" empfohlen. Es scheint, seine Rechnung ist aufgegangen - der nächste Boyle liegt schon auf meinem Stapel und wird "América" sein.
Worum geht es?
In der Novelle erzählt Boyle von einem "Wolfskind", das tatsächlich gelebt hat. Victor von Aveyron wurde um 1788 geboren und um die Jahrhundertwende gefangen genommen.
Zunächst haben Jäger den Jungen im Wald entdeckt.
"Es schien sich um ein Kind zu handeln, um einen vollkommen nackten Jungen, dem Kälte und Regen offenbar nichts ausmachten." (5)
Dann begegnet ihm wenige Zeit später ein Bauer, so dass die Legende vom wilden Kind entstehen kann:
"Eine unnatürliche Stille lag über dem Land: Die Vögel in den Hecken hielten den Atem an, der Wind erstarb, ja selbst die Insekten verstummten. Dieser unverwandte Blick- die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne - war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert." (6)
Boyle gelingt es, nicht nur die Perspektive der Bauern und Jäger zu schildern, sondern auch sich der Sicht des Jungen zu nähern, der, als er schließlich gefangen wird, von der Situation völlig überfordert ist.
"Man stelle sich ihn vor, denn er selbst war dazu nicht imstande. Er kannte nur das Unmittelbare, spürte nur was seine Sinne ihm mitteilten." (7)
Er ist fünf Jahre alt, als er aufgegriffen wird. Der Versuch seiner Stiefmutter ihn im Wald zu töten, ist fehl geschlagen, so dass er sich alleine durchschlagen musste - ohne die menschliche Sprache zu lernen und die Regeln des Zusammenlebens erfahren zu haben.
Er wird zum Spielball von Wissenschaftlern, die herausfinden wollen, ob er sich zivilisieren lässt.
"Hier, dachte er, bot sich die Gelegenheit - sofern es sich nicht um eine Monstrosität oder einen aus irgendeiner privaten Menagerie ausgebrochenen afrikanischen Affen handelte-, Rousseaus Hypothese vom edlen Wilden auf die Probe zu stellen." (25)
Von Abbé Pierre-Joseph Bonnaterre, Professor für Naturgeschichte, gelangt er zu Abbé Roch-Ambroise Sicard vom Taubstummeninstitut in Paris, da man annimmt, er könne nicht hören.
Während Sicard aufgibt, versucht sich ein junger Arzt, Jean-Marc Gaspard Itard, daran, Victor, so wird er inzwischen genannt, etwas beizubringen - ohne Erfolg.
"Er wollte die Thesen von Locke und Condillac überprüfen: War der Mensch bei seiner Geburt eine tabula rasa, ungeformt und ohne Ideen, bereit, von der Gesellschaft beschrieben zu werden, erziehbar und imstande, auf dem Weg zur Vervollkommnung voranzuschreiten?" (53)
Bewertung
Dass Itard scheitert, aus Victor ein Mitglied der Gesellschaft zu machen, deutet der Erzähler zu Beginn an. Die Fragen, die sich stellen, sind:
- warum gelingt es ihm nicht, dem "wilden Kind" das Sprechen beizubringen,
- warum kann er den Jungen nicht zu einem sozialen Wesen erziehen, das die Bedürfnisse anderer Menschen erkennt und respektiert.
Die Novelle gibt keine Antworten, sie erzählt einfühlsam davon, wie die Wissenschaftler sich die Zähne ausbeißen. Nur Madame Guérin, die sich im Taubstummen-Institut um ihn kümmert - eine Art Mutterersatz - findet einen Zugang zu ihm. Sie ist die Einzige, die nach seinem Verschwinden die Suche nicht einstellt, denn, indem sie sich seiner angenommen hat, hat sie die Verantwortung für ihn übernommen - eine Verantwortung, die Itard gerne abgeben würde, da er gescheitert ist. Aber darf man den Jungen, nachdem man ihn aus dem Wald herausgeholt hat und ihn an die Zivilisation gewöhnt hat, einfach wieder sich selbst überlassen?
Die Novelle bietet viel Diskussionsstoff und für mich den Anreiz, weitere Romane von Boyle zu lesen.
Buchdaten
Taschenbuchausgabe, 108 Seiten
dtv, 2012