Sonntag, 30. September 2018

Tom Rachman: Die Gesichter

Wie wächst man auf unter einem narzisstischen Künstler?

Leserunde auf whatchaReadin

Pinch ist der Lieblingssohn des gefeierten Malers Bear Bavinsky, mit dessen Mutter Natalie er in den 50er Jahren in einem alten Atelier in Rom lebt.

"Pinch, sein fünfjähriger Sohn, stemmt ein dickes Badetuch in die Höhe, die Arme unter dem Gewicht. Bear streift sich mit den Fingern durchs rotblonde, schüttere Haar und setzt- eine Hand auf dem Kopf des Jungen, Gleichgewicht suchend - seine Füße auf Tageszeitungen, auf denen früher am Tag Pinsel ausgewischt wurden." (9)

Diese beiläufige Geste symbolisiert das Verhältnis von Vater und Sohn. Bear will seinen Sohn, der künstlerische Ambitionen hat, gleichzeitig dem Vater jedoch zutiefst ergeben ist, klein halten. Während er mit seiner Präsenz Räume füllt, bleiben die Menschen in seiner Umgebung unsichtbar - nur seine Kunst steht im Mittelpunkt.

Dass seine 2.Frau Natalie Keramikskulpturen herstellt, hat keine Bedeutung - niemand darf neben ihm stehen, dem "Archetyp des lasterhaften Greenwich-Village-Künstlers", der Aktbilder malt, auf denen jeweils nur ein Detail zu sehen ist - eine Schulter, eine Hand, ein Schenkel. Das, was vor seinen Augen nicht besteht, wird verbrannt.

"Bear eilt in den hintern Teil des Ateliers, sucht etwas, zerrt eine leere Leinwand mitsamt Gestell hervor. >So wie du jetzt bist, Natty. Ganz genau so.< >Ich bin mitten in meiner eigenen Arbeit<, fleht sie ihn an." (21)

Mehrere Stunden muss sie in ihrer Pose verharren. Nachdem das Gemälde fertiggestellt ist, verbrennt er es, weil es nicht gut genug ist.
Er lässt sich auch dann nicht vom Arbeiten abhalten, wenn seine Tochter aus erster Ehe, Birdie, ihn in Rom besucht.
"Heute ist der letzte Tag vor ihrem Heimflug, und Bear hat versprochen, dass sie ihn zusammen verbringen. Weil er ständig so beschäftigt, war, will es es heute ein bisschen wiedergutmachen. [...] Pinch versteht das." (50)
Dieses bedingungslose Verstehen wird ihn einerseits zum Lieblingssohn des Künstlers machen, andererseits wird er sich zunächst nicht aus dessen mächtigem Schatten befreien können.

Als Bear Natalie und Pinch für eine neue Frau verlässt, beginnt Pinch, dessen richtiger Name Charles lautet, zu malen - unter den wachsamen Augen seiner Mutter, deren psychische Verfassung immer labiler wird.

"Als er mit dem Malen anfing, haben Natalies Lob, ihre gefalteten Hände, ihre Begeisterung seine Hoffnung geschürt. Beifall aber verliert rasch an Wert." (71)

Beeindrucken will er seinen Vater, vor seinen Augen muss sein Werk Bestand haben, nur sein Urteil zählt. Wird Charles vor seinem Vaters bestehen können? Wird es ihm gelingen ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Kann er sich von seinem übermächtigen Vater befreien?

Bewertung
Darf sich ein großartiger Künstler und Freigeist alles herausnehmen? Darf ein Genie gnadenlos egoistisch handeln, um sich ganz seiner Kunst widmen zu können? Menschen in seiner Familie und seiner Umgebung herabsetzen, um sich selbst zu erhöhen? Diese Fragen wurden in der Lese-Runde diskutiert und der Roman fordert dazu auf, sie zu stellen. Muss man einem Künstler alles durchgehen lassen, nur weil er geniale Bilder malt? Zumindest scheinen das die Galeristen und der "Kunst-Zirkus" zu denken, auf den Rachman einen kritischen Blick wirft.

Bear ist ein lausiger Vater, sieht seinen Sohn nicht, hält ihn klein und die anderen Bear-Kinder erhalten Zuwendung und Aufmerksamkeit, so lange sie jung sind und keine Anforderungen stellen. Ein Verhalten, von dem nur Pinch ausgenommen ist, den der Vater im Auge behält, was seine Situation nicht verbessert. Nur wenigen Menschen kann sich Charles wirklich nähern, der ein Außenseiter bleibt. Tragisch verläuft das Leben seiner Mutter, deren Leben Bear letztlich zerstört hat, während Pinch ihn verteidigt:

"Weil Dad es nicht böse meint. Er ist einfach so. Wie ein riesiges Schiff, das stetig vorwärtsdampft und das niemand aufhalten kann." (155)

Glücklicherweise steht ab dem 2.Teil das Leben Pinchs im Mittelpunkt und der narzisstische Maler taucht seltener auf. Überwiegend treffen sie in einem Ferienhaus in Frankreich aufeinander, das Bear einem Freund Natalies abgekauft hat - dort verändert sich ihre Beziehung und die Frage, die sich stellt, ist, ob sich Bears Aussage am Ende bewahrheiten wird:

"Ich gewinne. Klar? Ich werde verdammt nochmal immer gewinnen" (296)

Während man den narzisstischen Künstler nach den ersten 100 Seiten kaum noch erträgt, ist es diese Spannung, die bis zum Ende des Romans trägt, der mit ungewöhnlichen Wendungen aufwartet.

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank an den dtv-Verlag für das Lese-Exemplar!