Mittwoch, 8. August 2018

George Saunders: Lincoln im Bardo

- ein außergewöhnlicher Roman.

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman wurde 2017 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, Grund genug ihn im Rahmen einer Leserunde gemeinsam zu diskutieren. Obwohl ich viel und quer lese, habe ich solch eine Art zu erzählen noch nicht erlebt. Aus einer historischen Begebenheit strickt Saunders "eine allumfassende Geschichte über Liebe und Verlust, die jede bisher bekannte Form des Romans sprengt." (Klappentext)

Der historische Hintergrund

Im amerikanischen Bürgerkrieg, in der Nacht vom 20. Februar 1862, stirbt Abraham Lincolns 11-jähriger Sohn Willie, den er über alles geliebt hat. Lincoln soll nach der Beerdigung zum Friedhof zurückgekehrt sein, um seinen Sohn ein letztes Mal in den Armen zu halten. Während der Vater trauert, wird seine Kriegsführung kritisiert und man unterstellt ihm mangelnde Führung. Auf beiden Seiten sind hohe Verluste zu verzeichnen, daher lässt Saunders Lincoln auf dem Friedhof über den Sinn dieses Krieges reflektieren.
Die historischen Gegebenheiten sind aus zeitgenössischen Quellen, fiktiven und realen, montiert, die sich wie ein Fließtext lesen lassen - trotz der Quellenangaben.

Dass diese Quellen nicht immer verlässlich sind, zeigt zum Beispiel eine Gegenüberstellung der Aussagen über das Aussehen des Mondes in der Nacht, in der Lincoln ein Bankett gegeben hat, während sein Sohn schon fieberte.

"goldene Mond, der pittoresk über der Szenerie hängt - In jener Nacht schien kein Mond" (28)

Der geisterhafte Hintergrund

"Willie Lincoln befindet sich im Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits, in tibetischer Tradition Bardo genannt." (Klappentext)

Dort geistern die Toten, die ihren Tod nicht wahrhaben wollen und daran glauben, ins Leben zurückkehren zu können. Ihre "Kranken-Gestalt" liegt in einer "Kranken-Kiste". In der Dämmerung wandeln sie in einer Erscheinung über den Friedhof, die ihre Innerstes zum Ausdruck bringt. Erst wenn sie ihre Illusionen verlieren, verschwinden sie mit einem "[d]urch Mark und Bein dringenden Feuerball, der mit dem Phänomen der Materienlichtblüte" (123) einhergeht.

Die häufigsten Stimmen, die zu Wort kommen, sind die
  • von Hans Vollmann, einem Drucker, der von einem Balken erschlagen wurde, kurz bevor seine Frau zugestimmt hat, endlich mit ihm das Bett zu teilen. Eine Erfahrung, auf die er immer noch hofft. Willie beschreibt seine Erscheinung:
"Ganz schön nackt    Glied angeschwollen auf die Größe von   Konnte gar nicht woandershin gucken" (40)
  • von Roger Bevins III, einem homosexuellen jungen Mann, der sich aus Liebeskummer die Adern aufgeschlitzt hat und der im Moment des Sterbens erkennt:
"Erst jetzt (wo ich schon fast durch die Tür war, sozusagen) wurde mir klar, wie unsagbar schön alles war, wie akkurat zu unserem Vergnügen eingerichtet, ich begriff, dass ich kurz davorstand, ein wundersames Geschenk zu verschleudern" (37)
  • von Reverend Everly Thomas, der weitergegangen ist und zurück in den Bardo gekehrt ist. Was hat er gesehen?
Das Problem, das die Geister haben, ist, dass Kinder nicht im Bardo verweilen dürfen. Das ist nicht vorgesehen und führt zu drastischen Maßnahmen...
Willie wartet jedoch auf seinen Vater. Nachdem dieser seine "Kranken-Gestalt" aus der "Kranken-Kiste" genommen, angefasst und versprochen hat, wieder zu kommen, will er bleiben.
Auch die anderen sind voller Hoffnung und wollen mit diesem Jungen reden, denn noch nie hat jemand die "Kranken-Gestalt" berührt. Sie hoffen vielleicht, dass er zurückkehren kann und sie mitnimmt?

Eine Kakophonie aus Stimmen erhebt sich - alle wollen ihre Geschichten erzählen, die die zeitgenössischen politischen, moralischen und religiösen Einstellungen der Zeit widerspiegeln - die Geister als Abbild der amerikanischen Gesellschaft.

Erzählweise

Der Roman besteht einerseits aus den montierten Quellen, die die historischen "Fakten" erzählen, andererseits aus den Gesprächen auf dem Friedhof, wobei unter jeder Aussage der Name der Figur zu lesen ist, die gesprochen hat. Das gleicht einem Theaterstück, wobei das Erzählte im Präteritum steht und die Figuren wiedergeben, was andere gesagt haben.

"Dass du immer noch hier bist, ist beeindruckend, sagte der Reverend zu dem Knaben.
Heroisch geradezu, fügte ich an.
Aber unklug, sagte der Reverend.
                                   hans vollmann" (135)

Dadurch entsteht eine kritische Distanz, weil das Geschehen nicht unmittelbar "mit-"erlebt wird. Gleichzeitig wird uns die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt, was wiederum zu dem Abbild der Gesellschaft passt.

Bewertung

Ein experimenteller Roman, der sich erstaunlich gut lesen lässt und den man, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legen will. Zu amüsant sind die "Dialoge" zwischen den Geistern, deren Treiben teilweise einem Klamauk gleicht. Das ist jedoch nur vordergründig so. Saunders stellt auch die Vorstellungen von Himmel und Hölle satirisch auf den Kopf und bezieht eindeutig politisch Stellung gegen den Rassismus. Beklemmend ist eine Szene, in der eine ältere schwarze Sklavin für eine stumme, junge schwarze Frau erzählt, wie diese vergewaltigt und misshandelt wurde - wie ein Stück Vieh, weil jeder Weiße es mit ihr machen durfte.
Oder wie ein Sklave, der immer gut behandelt wurde, erkennt, dass er sein Leben lang nie das machen durfte, was er wollte, sondern Befehlen gehorchte.

Ein gelungenes Experiment und für mich eine besonderes Lese-Highlight!