Freitag, 3. August 2018

John Irving: Bis ich dich finde

- Suche nach dem Vater.

Lesen mit Mira

Den umfangreichen Roman Irvings, von dem ich noch eine alte Ausgabe des Diogenes-Verlages besitze, habe ich gemeinsam mit Mira gelesen, wobei wir ihn gesplittet haben. Die erste Teil - Ende Juni, die restliche 580 Seiten im Juli. Aufgrund der Pause fiel es mir zunächst schwer wieder in die Handlung hineinzufinden, doch beim Weiterlesen zog mich die Geschichte wieder in ihren Bann und es zeigte sich, dass die losen Fäden des 1.Teils im 2. wieder aufgenommen und verknüpft werden.

Worum geht es?

I Die Nordsee

"Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten. Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte." (11)


Jack Burns, als Erwachsener ein bekannter Schauspieler, ist der Sohn von William Burns, einem sehr talentierten Organisten aus Edinburgh, der die junge Chorsängerin Alice in Leith schwängert, Tochter des legendären Tätowierers Aberdeen-Bill. Doch statt sich der Verantwortung für seinen Sohn Jack zu stellen, flieht William nach Kanada, Halifax, um dort einerseits die Orgel zu spielen und andererseits ein weiteres Mädchen unglücklich zu machen. Ein Muster, das sich in jeder Stadt, in die er flieht, zu wiederholen scheint. Und Alice reist ihm nach. Zunächst nach Halifax, wo sie ihre Tätowierkünste bei Charlie Snow und Matrosen- Jerry verfeinert, weiter nach Toronto, wo ihr Mrs. Wicksteed unter die Arme greift. Sie beauftragt auch Caroline Wurtz, eine junge Lehrerin der St.Hilda Schule, an der auch William unterrichtet hat, Alices schottischen Akzent auszumerzen. Die Wurtz, wie Jack sie nennen wird, bleibt eine der Konstanten in seinem Leben - und nicht nur in seinem.

Als Jack vier Jahre ist, im Jahr 1969, beschließt Alice ihren "Mann" in Europa zu finden, um ihn "mit seiner Pflicht und Schuldigkeit" (14) zu konfrontieren. Jack ist bereits als Kind der Überzeugung, sein Vater sei für immer fort und habe ihn vergessen - ein Umstand, der sein Leben entscheidend prägt.

"Es ist mir egal, ob wir ihn finden oder nicht!" schrie er seine Mutter an. "Ich hoffe, wir finden ihn nicht!" (73)
"(...) die Suche nach seinem Vater ein Traum war, allerdings ein Traum, der niemals aufhörte." (99)

Diese Suche nach dem Vater ist das Schlüsselmotiv des Romans und erklärt den Titel, dessen Bedeutung in all seinen Facetten erst vom Ende her zu entschlüsseln ist.

Da William, nachdem er sich erstmalig von Alices Vater Musiknoten hat tätowieren lassen, tintensüchtig geworden ist, fügt der Musikmann in jeder Stadt seinem Körper weitere Tatoos hinzu.

So hat Alice einen Anhaltspunkt und lernt nebenbei die berühmtesten Tätowierer Europas und die Organisten der jeweiligen Kirchen kennen, in denen William spielt.
In jeder Stadt stehen somit die Tätowierer und ihre Kunst ebenso wie eine bestimmte Kirche und deren Orgel im Mittelpunkt.

Der Erzähler weist uns immer wieder darauf hin, was der vierjährige Jack von all den Ereignissen mitbekommt und versteht. Viele Jahre später wird sich herausstellen, dass seine Erinnerungen äußert lückenhaft und unvollständig sind. So glaubt er, eine Prostituierte sei eine "Frau, die Männer Ratschläge gebe, wenn diese Schwierigkeiten hätten, Frauen im allgemeinen oder eine Frau - möglicherweise ihre Frau - im besonderen zu verstehen." (126)

Ihr Weg führt sie von Kopenhagen, wo Alice ihren Künstlernamen - Tochter Alice - kreiiert, nach Stockholm, von dort nach Oslo, Helsinki und schließlich nach Amsterdam - dort endet die Reise. Aus welchen Gründen soll Jack ebenfalls erst viele Jahre später, als er die Reise wiederholt, erfahren.

II Das Meer von Mädchen
Zurück in Toronto besucht er die "konfessionelle Mädchenschule" St.Hilda, die Jungen in den ersten vier Schuljahren aufnimmt. Dort wird der Grundstein seiner Fixierung auf ältere Frauen gelegt - unter den Mädchen ist der bildhübsche Junge eine Herausforderung. Besonders ein Mädchen hat es auf ihn abgesehen - Emma Oastler, die sieben Jahre älter ist als er und deren Freundschaft ihn über viele Jahre begleiten wird. Es ist eine Beziehung der besonderen Art - mit einer sexuellen Komponente, die recht skurril erscheint und Jacks Entwicklung vorantreibt.
In der Schule entdeckt Jack seine Liebe zum Theater, von Miss Wurtz erhält er den Hinweis das Herz eines "Einmannpublikums" zu rühren.

"Jacks Einmannpublikum war natürlich sein Vater." (225)

Herausragend ist er zunächst in Frauenrollen, was ihn im späteren Leben immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob er ein Transvestit sei und eine Parallele zum Roman "In einer Person" darstellt, dessen Protagonist seine Bisexualität entdecken muss, während Jack eindeutig heterosexuell veranlagt ist.

Während seiner Schulzeit entfremdet er sich von seiner Mutter, die ihr eigenes Studio in Toronto eröffnet und eine feste Beziehung eingeht. Sie erkennt nicht, dass er sexuell missbraucht wird - ein Umstand, den er auch erst als Erwachsener aufarbeitet...
Bevor er auf eine Jungenschule geschickt wird, soll er ringen lernen, damit er sich wehren kann. Eine Sportart, in der sehr gut wird und die ihm viele Vorteile einbringt.

III Glück - V.(Dr.Garcia)
In der Jungenschule Redding, USA, kommt er unerwartet gut zurecht.

"Man geht in eine Land, das einem fremd ist oder fremd erscheint, und man nimmt seine Probleme mit, aber trotzdem paßt man dorthin. Jack hatte noch nie irgendwohin gepaßt." (396)

In Exeter, seiner nächsten Schule, erkennt er, dass er kein Intellektueller ist und entscheidet sich Schauspieler zu werden, während Emma Schriftstellerin wird. 16 Jahre wird er in L.A. wohnen, bevor er sich erneut auf die Suche macht - bis er ihn findet. Dazu muss er jedoch erst seiner Selbst gewiss werden und die Wahrheit über die Reise und über seine Mutter herausfinden.

Bewertung
Der erste Teil erinnert an einen Roadtrip durch Nordeuropa, die verzweifelte Suche nach Jacks Vater, die im IV.Teil wieder aufgenommen wird. Die Wiederholung offenbart ein völlig neues Bild der Ereignisse und letztlich ist Jack weniger auf der Suche nach seinem Vater, sondern auf der Suche nach sich selbst. Wie ist eine Entwicklung unter diesen Vorzeichen möglich? Wer sagt die Wahrheit?
Er ist ein schräger Vogel, wie alle Figuren Irvings und was die sexuellen Erlebnisse anbetrifft, erscheint vieles unglaubwürdig - als sei Irvings Fantasie mit ihm durchgegangen. Vor allem die Zeit in St.Hilda wirkt skurril, ist jedoch so satirisch überzeichnet, dass man sie kaum Ernst nehmen will - trotz der Übergriffe auf Jack.
In seiner Widmung richtet sich Irving an seinen jüngsten Sohn, und hofft, er werde eine bessere Kindheit haben als die im Roman beschriebene!

Während die Handlung in der Mitte an Fahrt und Intensität verliert, gelingt es Irving mit Jacks erneuter Reise nach Europa die Spannung bis zum Schluss wieder aufzubauen.
Es ist ein Trip durch Tatoosstudios, Kirchen und die Orgelmusik, durch die Filme und die amerikanische Gesellschaft der 2.Hälfte des letzten Jahrhunderts und vor allem - ein Seelentrip.

Irvings Erzählweise überzeugt auch dieses Mal, mir gefällt sein Ton, der über skurrile Szenen hinweg trägt und der einfach Spaß macht. Irving bricht Tabus und tritt damit für Toleranz ein - warum sonst hätte er sich einen Schauspieler als Protagonist aussuchen sollen, der gerne Frauenkleider anzieht und trotzdem kein Transvestit ist. Der eine Vorliebe für ältere Frauen hat und es mag, wenn sein Penis gehalten wird - und trotzdem sensibel mit seiner besten Freundin umgeht. Der Umgang der Medien mit Jack macht deutlich, wie schnell sie den gängigen Vorurteilen unterliegen. Irving hält der Gesellschaft einen Spiegel vor - wie in allen Romanen, die ich bisher von ihm gelesen habe. Dieser wird sicher nicht mein letzter sein ;)

Hier geht es zu Miras Rezension.

Buchdaten
Diogenes, 1140 Seiten
2006 erschienen