Dienstag, 31. Juli 2018

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast schwarz

- Roman über eine düstere Freundschaft.

Unser neu gegründeter Lesekreis, der alle zwei Monate in der Bücherhütte Wadern stattfindet, hat sich diesen Roman als erste Lektüre ausgesucht, der für kontroverse Diskussionen sorgte. Wie kann ein Kind nur so tyrannisch sein? Warum greift die Mutter nicht ein? Ist die Entwicklung der Figuren glaubwürdig?, waren nur einige Fragen, über die wir diskutiert haben.

Worum geht es?
Moritz (34) ist im Jahr 2017 kurz davor Vater zu werden. Er lebt mit seiner hübschen Freundin Kristin in Hallein, soll bald die Baufirma seines Cousins übernehmen und hat sich in seinem Leben eingerichtet, als es eines Abends an der Tür klingelt.

"Das Geräusch fährt hinein in die Stille wie ein Säbel. Er steht auf, geht zur Tür und öffnet sie. Moritz erkennt ihn sofort. Er ist älter geworden, natürlich, und doch sieht er aus wie damals. Blondes, kurzes Haar, eisenblaue Augen, ein Lächeln, das Männer versöhnlich macht und Frauen ruhelos. In einer Hand hält er einen großen schwarzen Koffer, von seinem Jackett perlen Regentropfen. Vor ihm steht Raffael. Er ist sein bester Freund. Sie haben sich sechzehn Jahre lang nicht gesehen." (11)

- seit Raf im Herbst 2001 nach der Matura das kleine Dorf Dürrnberg in der Nähe Halleins verlassen und jeglichen Kontakt zu Motz abgebrochen hat.
Raf bezaubert Kristin, doch das Grün, das Moritz um ihn herum sieht,

"ist dunkler geworden, viel dunkler, tief und massiv, fast schwarz. Es füllt den Raum, bis an die Decke strahlt es. Einst war Raffael knospengrün, raupengrün, wie Zuckererbsen in ihrer frisch geöffneten Schote, an manchen Tagen limonenhell. Schwarze Flecken hat das Grün bekommen, wie Schimmel." (39)

Dass Moritz ein Synästhet ist, hat er außer Raf niemandem erzählt. Es ist ihr Geheimnis.
Warum taucht er gerade jetzt auf, kurz bevor Moritz Vater wird, wo er ihn doch vor langer Zeit im Stich gelassen hat?

Zunächst erzählt Moritz aus personaler Er-Perspektive die Geschichte, dann wechselt sie jedoch zu Maries Ich-Perspektive. Moritz Mutter erinnert sich an das Jahr 1986, in dem sie in jenen verlassenen Ort in den Bergen gezogen ist, mit zwei kleinen Kindern, während ihr Mann Alexander in Wien sein Medizinstudium fortsetzt, um die Praxis seines Vaters übernehmen zu können.

"Die Stille ist wie Gelee, das in die Ohren rinnt und sie verschließt." (24)

Gemeinsam leben sie im alten Haus von Alexanders verstorbenen Großeltern. Marie fühlt sich allein und verlassen, Moritz ist drei Jahre alt, Sophie noch ein Baby. Auf dem Spielplatz trifft sie auf Sabrina, Raffaels Mutter, die ihre Fotomodell-Karriere für die Kinder aufgegeben hat. Raffael hat einen kleine Bruder, Samuel, der gleichaltrig mit Moritz Schwester Sophie ist.
Sabrina bemüht sich mit Marie Freundschaft zu schließen, doch diese kommt mit Sabrinas Nähe und ihrem Hilfeersuchen nicht zurecht.

"Es fühlt sich an, als säße eine Spinne auf meiner Haut, genau da, wo ihre Finger sie gestreift haben." (29)

Moritz und Raffael hingegen werden unzertrennlich, doch es ist eine eigenartige Freundschaft. Als sich Moritz am Daumen verletzt, schneidet sich Raf in die Handfläche.

"Blutsbrüder", sagte er, ohne zu lächeln.
"Was heißt das?", fragte Motz.
"Dass wir jetzt mehr sind als Freunde. Wie verwandt", sagte Raf und schaute ihn immer noch an. "Dass du jetzt mir gehörst."
"Dass wir zusammengehören", berichtigte Motz.
"Ja", sagte Raf, aber Motz wusste, dass er es nicht so gemeint hatte." (44)

Marie sieht diese Freundschaft nicht gern, sie ahnt Rafs dunkle Seite, seinen Wunsch Moritz zu beherrschen.

"Ich darf den Kreis vom Raf nie verlassen, Mama", flüsterte Moritz (...)" (78)

Doch sie findet keinen Weg ihn zu beschützen. Und als Leser*in fragt man sich, wann wird sich Moritz endlich gegen Raffael zur Wehr setzen, wann wird sich seine Wut Bahn brechen...? Und wie könnte Marie ihren Sohn beschützen? Wie sich wehren gegen ein durchtriebenes Kind, das gezielt die Schwächen anderer ausnutzt?

Die dritte Sicht ist Johannas personale Perspektive. Zunächst erfahren wir, dass sie einen morbiden Blog betreibt: "www.fuckthetourists.com", in Florenz lebt und physisch und psychisch in schlechter Verfassung ist.

"Wenn du ein gestörtes Verhältnis zum Leben hast, kannst du Essen nicht gelassen gegenüberstehen.
Ich kann nicht essen,
steht im Logbuch,
weil ich hungere nach Zuneigung.
Pathetisch ist das Logbuch. Es darf alles sein, was Jo nicht ist." (55)

Sie scheint mit Raf zusammen und ihm hörig zu sein.

"Raf kommt dann, um Jo in Besitz zu nehmen." (57)
"Nichts beherrscht ihn so sehr wie das Habenwollen."(61)

Eine sexuelle Abhängigkeit? Im Verlauf der Handlung erschließt sich, dass Johanna als Waise zu ihrer Tante nach Hallein gezogen ist und das letzte Schuljahr gemeinsam mit Moritz und Raffael bestritten hat. Aus dem Zweigestirn wird ein Dreigestirn und ein dunkles Geheimnis, das sowohl Jo als auch Motz verdrängt haben, lastet auf der einstigen Freundschaft.

Die Zeitebenen und Perspektiven wechseln kontinuierlich, die Puzzleteile aus der Vergangenheit setzen sich langsam zusammen, bis ein Bild der "Freundschaft" und des unglaublichen Verrates entsteht. Und die lang verdrängten Verletzungen aller werden offen gelegt...

Bewertung

"Diese Geschichte ist ein Mosaik. Aus vielen Splittern besteht sie, Splittern aus der Vergangenheit und der Gegenwart (...)" (258)

Die Frage, ob diese Splitter letztlich ein glaubwürdiges und nachvollziehbares Bild ergeben, war der größte Diskussionspunkt in unserem Lesekreis. Es gebe Brüche in der Geschichte, die Entwicklung Maries sei unglaubwürdig, einige Figuren blieben zu blass und das Ende sei zu versöhnlich, waren die Kritikpunkte, über die wir teilweise unterschiedlicher Ansicht waren, einhellig hingegen die Meinung, es sei ein "klasse Erstlingswerk", in der alle Figuren "so kaputt" sind.

Die Figuren fordern wirklich heraus:
Moritz, ein "sensibles, naives Weichei", das alles über sich ergehen lässt. Man möchte ihm zurufen, wehr dich doch endlich gegen Raf! Johanna - psychisch krank und von Schuld zerfressen. Raffael - ein echter "Kotzbrocken", ein Spieler, ein Bestimmer, der raffiniert alle manipuliert und provoziert, um endlich an seine Grenzen zu stoßen.
Wie reagiert man auf ein solches Kind? Was kann man ihm entgegensetzen?

Dadurch, dass Moritz Synästhet ist, spielen Farben eine große Rolle im Roman. Seine besondere Art und Weise der Wahrnehmung bringt Fallwickel mit außergewöhnlich sprachlichen Bildern zum Ausdruck, der an den Künstlerroman "Leinsee" erinnert, nicht inhaltlich, sondern von der Beschreibung der Farben her. Dass ihre Sprache außergewöhnlich schön und beeindruckend ist, hat keine von uns in Frage gestellt. Ebenso wenig, dass sie in der Lage ist, Gefühle treffend zu beschreiben, so dass man sich selbst wiedererkennt - ob als Kind oder Mutter.

"Daran, wie gut es war, ein Kind zu sein. Mit einem leichten,wendigen Körper und ohne das Gewicht einer Sorge durch das Schlupfloch im Zaun zu passen, durch den Wald zu jagen ohne ein Ziel. Erst jetzt, da er längst kein Kind mehr ist, weiß er die Freiheit zu schätzen, die er damals hatte. Ohne zu zögern, würde er zurückgehen in jene Jahre der silbernen Leichtigkeit." (48)

Interessanterweise wird nicht aus Raffaels Perspektive erzählt, wir müssen uns seine Figur aus den Aussagen der anderen erschließen. Besonders intensiv ist Maries Perspektive, da sie als Einzige aus der Ich-Perspektive erzählt. Auch sie ist gefangen in ihrem Leben und sucht verzweifelt einen Ausweg aus ihrer Überforderung und ihrem Alltag. Alle tragen "Schuld" an dem, was geschieht und trotzdem hat man das Gefühl, es habe so kommen müssen.

Keine leichte Kost, eine Lektüre, die viele Fragen aufwirft und über die man viel diskutieren kann, insofern eine gute Wahl für unser erstes Treffen und ein Roman, den wir trotz der Kontroversen alle weiter empfehlen können.