Taschenbuchausgabe, 734 Seiten
Diogenes, 27. November 2013
Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Inhalt
Der Schriftsteller William Abbott, fast 70 Jahre, blickt als erzählendes Ich auf sein bewegtes Leben zurück. Chronologisch erzählt er von seiner frühen Jugend bis ins Jahr 2010, greift immer wieder vor, weckt Neugier und springt zurück.
Geboren wird er im März 1942 als William Dean. Sein Vater, William Francis Dean, kämpft im 2.Weltkrieg als "Codeknacker ", heiratet 1943 seine Mutter Mary und bereits ein knappes Jahr später sind die beiden wieder geschieden, da Mary beobachtet hat, wie er eine andere Person geküsst hat,
"als sie mit mir schwanger war - möglicherweise sogar nach meiner Geburt-, und dass sie genug von der Mund-zu-Mund- Begegnung gesehen hatte, um zu wissen, dass es sich nicht um einen unschuldigen Kuss handelte." (S.25)
In der Geschichte seines Vater gibt es Unstimmigkeiten, die sich vor allem um sein Alter und seinen Verbleib drehen. Nach Billys Rechnung war sein Vater noch keine 18 Jahre, als sein Sohn auf die Welt gekommen ist und wer ist die andere Person, die er geküsst hat? Wer ist sein Vater und warum ist das Jahrbuch der Schule aus dem Jahre 1940 im Besitz seines Onkels Bob, der es nicht zurückgeben will? Welches Geheimnis verbirgt Bills schräge Familie vor ihm?
Seinem Grandpa Harry Marshall gehört das Sägewerk und das Holzlager von Fist Sister, einer Stadt in Vermont. Grandpa Harry "war ein grandioser Frauendarsteller" (S.28) - zum Leidwesen seiner konservativen Frau Victoria. Er lebt erst auf der Bühne in Frauenrollen mit entsprechender Verkleidung auf, die Jeanshose und das Holzfällerhemd, seine "Berufskleidung", hingegen wirken wie eine Tarnung. Nach dem Tod seiner Frau wird er am liebsten ihre Kleidung tragen.
"War Harry Marshall ein richtiger Transvestit? Zog Grandpa Harry sich einfach nur gelegentlich Frauenklamottten an, oder steckte mehr dahinter? Würden wir meinen Grandpa heutzutage einen verkappten Schwulen nennen, der sich nur als Frau verkleidete, wenn es gesellschaftlich statthaft war? Keine Ahnung. Wenn schon meine Generation unterdrückt war, und das war sie zweifellos, kann ich mir vorstellen, das Homosexuelle aus der Generation meines Großvaters - ob nun lupenrein oder nicht - alles daransetzten, unbemerkt zu bleiben. (S.93)
Harrys Geschäftspartner ist der Norweger Nils Borkman, der gleichzeitig die Theatergruppe First Sister Players leitet - ein Ibsen-Fan, immer bestrebt die schwierigen Stücke den Laiendarstellern nahe zu bringen.
Auch Marys ältere Schwester Muriel ist Mitglied des Ensembles und genau so nörglerisch wie ihre Mutter Vicky. Sie ist gehört zu denjenigen, für die Toleranz ein Fremdwort ist. Ihr Mann Bob ist da offener, hat jedoch ein Alkoholproblem und ist für die Auswahl der Schüler an der Favorite River Academy zuständig - einer Jungenschule, auf die Billy ebenfalls geht.
Die Theatergruppe erhält Aufwind, als 1955 der neue Englischlehrer der Favorite River Academy auftaucht - Robert Abbott, ein Shakespeare-Fan, der selbst in der Schule Theateraufführungen leiten wird, in denen Billy mitspielt.
Billys Mutter, Souffleuse der First Sister Players, verliebt sich in den 10 Jahre jüngeren Mann genauso wie Billy selbst, der es eine "Schwärmerei für die Falschen" (S.72) nennt, da ihm durchaus bewusst ist, dass ein Junge nicht für einen Mann "schwärmen" sollte. Ein Glaubenssatz, der ihm in der Schule eingetrichtert wird.
Nach der Heirat seiner Mutter mit Robert ziehen sie in die Lehrerwohnungen der Schule, dort lernt Billy Elaine kennen, deren Eltern ebenfalls unterrichten. Die beiden freunden sich an - eine Verbindung, die ihr ganzes Leben bestehen bleiben wird.
"Vielleicht könnte ich ihn einfach nur anfassen", meinte Elaine nachdenklich. "Nicht deinen nackten Ständer!", ergänzte sie rasch. "Vielleicht könnte ich ihn nur fühlen - also, durch deine Klamotten." "Klar, warum nicht?"; sagte ich möglichst beiläufig, fragte mich allerdings (noch Jahre später), ob je ein anderer Mensch seine erste sexuelle Erfahrung so gründlich ausgehandelt hatte. (S.164)
Beide hegen eine gemeinsame Leidenschaft für Billys Mitschüler Kittredge (Elaine geht auf eine Mädchenschule), einen Ringer und grandiosen Schauspieler in den Shakespeare Stücken. Sie spielen den anderen jedoch vor, sie seien ein Liebespaar.
"Wollte ich bei meinen Mitschülern bewusst den Eindruck erwecken, Elaine Hadley wäre meine Freundin? Spielte ich schon da nur eine Rolle? Ob bewusst oder unbewusst, ich benutzte Elaine zur Tarnung." (S.108)
Elaines Mutter - Billys Logopädin vertraut er seine "Schwärmereien für die Falschen" ebenso wie seinem Grandpa an, beide zeigen Verständnis für den unsicheren jungen Mann.
Dank Kittredge erhält Bill den Spitznamen "Nymphe", da er im Shakespeare Stück "Sturm" die Rolle des/der Ariel übernimmt.
"Ich glaube, dass das Geschlecht von Ariel wandelbar ist." (S.102)
Ein Vorausdeutung auf Bills Bisexualität:
"Wenn ich wollte, konnte ich auch unsichtbar sein - ein Luftgeist wie Ariel. Es gibt kein eindeutig festgelegtes bisexuelles Äußeres, aber dieses Aussehen strebte ich an." (S.200)
Neben der Leidenschaft für Kittredge ist es die Bibliothekarin Miss Frost, die Billy maßgeblich beeinflusst, nicht nur, weil sie für ihn die "passende" Lektüre bereit hält.
"Ich lernte Miss Frost in einer Bibliothek kennen. Ich mag Bibliotheken, obwohl ich Mühe mit der Aussprache des Wortes habe - im Plural wie im Singular. Offenbar fällt mir die Aussprache bestimmter Wörter äußerst schwer; überwiegend Hauptwörter: Menschen, Orte und Dinge, die mich entsetzlich aufgeregt, in schwere Konflikte oder abgrundtiefe Panik gestürzt haben." (S.11)
"Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten. In scheinbaren Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes." (S.14)
Mit seiner Obsession für die Bibliothekarin legt Bill auch den Grundstein für seine weitere literarische Karriere, die er auch seinem Stiefvater verdankt, der es ihm ermöglicht hat- gegen den Widerstand seiner Mutter - einen Ausweis für die Stadtbibliothek zu erhalten und seine Liebe für das Theater geweckt hat. Miss Frost ist die erste, der er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, eröffnet. Und sie ist die erste, die seine sexuelle Identität festigt, was zu einem Zerwürfnis mit seiner Familie führt.
Genau wie Billys Vater umgibt nämlich auch Miss Frost, "der Liebe seines Lebens" (S.419), ein Geheimnis. Gleiches gilt für Kittredge, dessen Leben eine unerwartete Wende nehmen wird - mehr sei hier nicht verraten.
"[A]llein auf dem College in New York [...], konnte ich mich endlich zu meinen homosexuellen Anteilen bekennen. Nach Tom [ein Mitschüler] hatte ich viele Beziehungen mit Männern. Im März 1963, kurz bevor ich erfuhr, dass ich einen Platz am Institut für Europäische Studien in Wien bekommen hatte, hatte ich mein Coming-out bereits hinter mir." (S.205)
In Wien lebt Billy auch mit einer Frau zusammen und lernt den Literaturprofessor und Lyriker Larry kennen, auch er wird ein wichtiger Freund in den nächsten Jahrzehnten, die im Zeichen der Krankheit AIDS stehen, an der viele Weggefährten Billys sterben.
Am Ende der Handlung kehrt er nach First Sister zurück, das sich zumindest den Anschein gibt, toleranter geworden zu sein - inzwischen gibt es "Gruppen für lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Kids" (S.659) - und schließt die offenen Kapitel seines Lebens.
Bewertung
Dies ist mein vierter Roman von John Irving. Nachdem ich vor langer Zeit "Gottes Werk und Teufels Beitrag" gelesen habe, liegen "Die vierte Hand" und "Straße der Wunder" noch nicht so lange zurück.
Mich hat er gepackt - die Figuren sind schräg, anders, besonders und immer liegt den Romanen ein gesellschaftlich brisantes Thema zugrunde.
In diesem Roman ist es der Umgang mit Bi- und Homosexualität, mit Transsexuellen oder wie man heute sagt, Transgender. Die Hauptfigur selbst ist bisexuell mit einer Vorliebe für Männer, die wie Frauen aussehen, sexuell jedoch noch Männer sind. Damit sitzt Billy zwischen allen Stühlen.
"In dieser bitterkalten Nacht im Februar 1978 in New York mit knapp sechsunddreißig, war mir bereits klar: Meine Bisexualität bedeutete, dass Heterofrauen mich für noch unzuverlässiger als den typischen Heteromann hielten, während schwule Männer mir (aus den gleichen Gründen) auch nie ganz trauten." (S.496)
Viele Strategien werden angewandt, um die
"weitestverbreiteten Heimsuchungen mit der Wurzel auszurotten. [...] ein unangebrachtes erotisches Hingezogensein zu anderen Jungen oder Männern." (S.47)
Billys Mutter greift zu Geheimniskrämerei und zu offenen Verboten, Kittredges Mutter verführt ihren Sohn, um seine Vorliebe für das eigene Geschlecht zu beenden, die Betroffenen werden Ausgestoßene und müssen Beschimpfungen und Anfeindungen über sich ergehen lassen.
Der Roman plädiert offen für Toleranz - gegenüber all jenen, deren Sexualität von der sogenannten Normalität abweicht.
"Mein lieber Junge, bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich überhaupt kennst", hatte Miss Frost zu mir gesagt; ich habe es nie vergessen. (S.722)
Am Ende kehrt Billy nach Hause zurück und wird selbst Lehrer - in einer toleranten Schule, in der sogar offen ein Junge den Geschlechterwandel vollzieht. Das heißt jedoch nicht, dass die Anfeindungen und Vorurteile vollständig verschwunden sind oder jemals verschwinden werden.
Die Suche nach der eigenen Identität im binären Geschlechtermodell ist hoch aktuell. In der Serie "Billions" spielt Asia Kate Dillon zum ersten Mal eine Figur, die sich dem binären Geschlechtermodell verweigert, weder er noch sie noch es ist.
Auf Twitter sagt Dillon über sich selbst:
"My sex ist Female. My gender ist identity is Non-binary. Sex ist between legs. Identitiy ist between ears. (17:39 - 10. Februar 2017)
Erneut ein Roman von John Irving, der mich trotz seiner recht drastischen Sprache, überzeugen kann, der sich flüssig liest und trotz seines Umfangs nie langweilig wird - eine klare Leseempfehlung.