Freitag, 21. Dezember 2018

John Irving: Zirkuskind

- (k)ein Roman über Indien.

Quelle: Diogenes
In einer Vorbemerkung weist Irving die Leser*innen darauf hin:

"Dieser Roman handelt nicht von Indien. Ich kenne Indien nicht. Ich war nur einmal dort, knapp einen Monat." (13)

Die Fremdartigkeit des Landes habe ihn verblüfft und es bliebe ihm fremd, so wie sein Protagonist Farrokh Daruwalla ebenfalls ein Fremder bleibt - in Indien und Kanada.
Mit 17 Jahren wurde er von seinen Eltern zur Ausbildung nach Wien geschickt. Das ist im Jahr 1947, als sein älterer Bruder bereits Psychologie in der besetzten Stadt studiert, in der die beiden auch ihre zukünftigen Frauen - die Schwestern Josefine und Julia Zilk kennen lernen. Beruflich tritt Farrokh in die Fußstapfen seines Vaters, Lowji Daruwalla, da er ebenfalls Medizin studiert und Orthopäde wird.
Er "verpasst" die indische Unabhängigkeit und kehrt erst im Jahr 1949 für einen Sommer nach Bombay zurück, bevor er sich endgültig in Toronto niederlässt, jedoch regelmäßig in seine alte "Heimat" reist.

"Inzwischen kannte der Doktor das Gefühl, Bombay immer wieder >endgültig< zu verlassen; fast jedes Mal, wenn er abreiste, schwor er sich, nie mehr nach Indien zurückzukehren." (17)

Obwohl er die kanadische Staatsbürgerschaft inne hat, fühlt er sich auch in Kanada nicht wirklich zuhause. Auf die Frage eines kleinen Jungen, woher er komme, denkt er:

"Nun, das ist die Frage, nicht wahr? (...) Das war schon immer die Frage. Sein ganzen Erwachsenenleben lang war das die Frage gewesen, die er normalerweise mit der buchstabengetreuen Wahrheit beantwortete, die er in seinem Herzen als Lüge empfand." (967)

Daruwalla verkörpert den nach außen hin assimilierten Einwanderer, der seine Heimat verlassen hat, scheinbar eine neue gefunden, in Wahrheit jedoch keine mehr hat.

"Wohin Farrokh auch ging, überall begegnete ihm eine immerwährende Fremdheit - ein Widerschein jener Fremdheit, die er in sich trug, in seinem tiefsten, eigentümlichen Innern." (963)

Der Inder, der sich nicht als solcher fühlt, ist in Kanada auch rassistischen Angriffen ausgesetzt, obwohl sie nicht im Mittelpunkt des Romans stehen, weist Irving in vielen Episoden nach, welchen Vorurteilen der renommierte Orthopäde ausgesetzt ist.

Die eigentlich Handlung des Roman setzt Ende der 80er Jahre ein. Daruwalla ist wieder einmal in Bombay zu Besuch, seit 15 Jahren verfolgt er ein ehrgeiziges genetisches Projekt. Er will in den Chromosomen von chondrodystrophen Zwergen den Marker isolieren, der diesen Minderwuchs auslöst.
So hat er die Bekanntschaft mit dem Zirkusclown Vinod gemacht, dessen Frau Deepa er nach einem Sturz medizinisch versorgt und der ihm sozusagen Zwergenblut organisiert. Nachdem auch Vinod einen schweren Unfall im Zirkus hat, gründet er ein Taxiunternehmen und wird Daruwallas Fahrer und Freund. Wenn sich Farrokh in Indien aufhält, arbeitet er unentgeltlich als chirurgischer Konsiliar in der Klinik für Verkrüppelte Kinder, die sein Vater aufgebaut hat. Schonungslos schildert Irving das Leben der bettelnden Kinder, analog zu "Straße der Wunder" und zeigt auf, wie gering ihre Chancen sind, aus dieser Situation auszubrechen. Die Idee Vinods und Deepa Mädchen vor den Bordellen zu bewahren, indem sie versuchen, sie im Zirkus unterzubringen, wird an einem Fall ausführlich erzählt und entlarvt den Zauber des Zirkus als Illusion.

Der eigentliche Auslöser der vielen Handlungsfäden ist der Mord an Mr Lal im Duckworth Sports Club, einem privaten exklusiven Club, in dem schon der alte Daruwalla Mitglied gewesen ist. Der alte Mr Lal wurde von seinem eigenen Putter in den Bougainvilleenblüten erschlagen. In seinem Mund steckt ein Geldschein mit der Aufforderung, Inspector Dhar als Mitglied aus dem Club zu entfernen, sonst folgten weitere Tote.

Inspector Dhar ist eine Filmfigur, hinter der sich der Schauspieler John D. verbirgt, der in enger Beziehung zu Daruwalla steht, da dieser der heimliche Drehbuchautor der Inspektor-Dhar-Filme ist.

Diese rufen Kritiker aus allen Bereichen der indischen Gesellschaft auf den Plan, da sie verschiedene Bevölkerungsgruppen verärgern. Im aktuellen Film "Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer"  sind es die "hijras", kastrierte Eunuchen-Transvestiten-Prostituierte, von denen einer im Film besonders schreckliche Morde an "Käfigmädchen", also ebenfalls Prostituierten, verübt und ihnen anschließend "einen unpassend fröhlichen Elefanten auf den nackten Bauch malt" (99). Seltsamerweise taucht genau jenes Bild in realen Mordfällen auf. Hat sich der Mörder vom Film inspirieren lassen?

Der Mordfall an Mr Lal und die Begegnung mit dem echten Inspector Patel sind Auslöser für die Rückblicke Farrokhs, in denen er sich vor allem an einen Urlaub mit seiner Familie, den er vor 20 Jahren in Goa verbracht hat, erinnert.

In jenem Urlaub kommt es auch zu einem religiösen Wunder, worauf der Parse Farrokh zum christlichen Glauben übertritt, während sein Vater ein strenger Atheist gewesen ist. Lowji Daruwalla, der sich gegenüber sämtlichen Glaubensrichtungen intolerant zeigt, dient Farrokh als Negativbeispiel. Auch politisch äußert sich der alte Daruwalla abfällig gegenüber Gandhi und stößt mit seiner kompromisslosen Art viele vor den Kopf, so dass sich sein Sohn für ihn schämt. Eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung!

Die Aufklärung des Mordfalls ist komplex und führt immer wieder in die Vergangenheit hinein, in der unter anderem auch die Beziehung zwischen Daruwalla und Dhar aufdeckt wird. Gleichzeitig erfahren wir, warum zur Zeit des Mordes Dhars Zwillingsbruder, ein jesuitischer Missionar, in Bombay auftaucht und für zusätzliche Verwirrung sorgt. Doch am Ende sind alle Handlungsfäden zu einem sorgfältigen Knäuel aufgerollt.

Bewertung
"Zirkuskind", 1995 erschienen, ist der 5.Roman, den ich von Irving lese. Thematisch passt er zu "Straße der Wunder", da das Motiv des Zirkus und die Faszination, die dieser ausübt, in beiden eine Rolle spielt. Die Suche nach der eigenen Identität und sexuellen Orientierung erinnern an "In einer Person" und "Bis ich dich finde", ebenso wie die Vater-Sohn-Beziehung, die auch in vorliegenden Roman in mehrfacher Hinsicht thematisiert wird, so dass mich an diesem Roman vor allem die Wiederkehr der Motive, die ich aus den anderen bereits kenne, fasziniert hat - ob Zirkus, Vater-Sohn-Beziehung, Auseinandersetzung mit der Religion und mit sexueller "Andersartigkeit", mit Kinderarmut und Rassismus.

Bei Irving spielen meines Erachtens die Suche nach der eigenen Identität, die Auseinandersetzung mit und die Abgrenzung von den Eltern eine große Rolle. Seine vordergründige Fixierung auf die Sexualität seiner Protagonisten ist für mich verbunden mit dem Aufruf zur Toleranz gegenüber dem vermeintlich "Unnormalen" wie Homosexualität oder Transsexualität.

Im Vordergrund steht jedoch immer die wunderbar erzählte Geschichte, mit ihren skurrilen, sympathischen Figuren und Bösewichten, mit Szenen, die zum Lachen einladen und ebenfalls skurril anmuten. Sie schöpft aus dem vollen Leben mit all seinen Facetten, so dass trotz des Umfangs der Lektüre das Lesen (fast) nie langweilig wird. Definitiv nicht mein letzter Irving ;)

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.