Dienstag, 30. Januar 2018

Yael Inokai: Mahlstrom

"Einen starken Sog auslösend"

- so beschreibt der Text auf dem Buchrücken den Effekt, den der Roman bei den Leser*innen auslöst.
Treffend, wie ich finde, denn einmal begonnen, kann man diesen kurzen Roman - eigentlich eine Erzählung, nicht mehr aus der Hand legen.

Worum geht es?
In einem Dorf im Tal entwendet eine junge Frau - Barbara - den dicken Wollmantel ihres Bruders und geht in den Fluss. Im "Mahlstrom" wird sie hinunter gerissen und ertrinkt. Warum hat sie ihrem Leben ein Ende gesetzt? Die Lösung des Rätsels liegt in der Vergangenheit, in ihrer Kindheit verborgen - teilweise.

Abwechselnd aus drei Sichtweisen - ihres Bruders Adam, ihrer Freundin Nora und dem Jungen Yann - wird die Geschichte jeweils in der Ich-Perspektive erzählt. Wie ein Puzzle setzen sich die vergangenen Ereignisse zusammen, bis am Ende ein vollständiges Bild entsteht.

Im Dorf herrscht eine Kultur des Schweigens, Wahrheiten werden nur heimlich geflüstert, das zeigt sich auch auf der Beerdigung Barbaras.

"Während der Predigt saht ich von meinem Platz aus Münder Dutzende von Mündern, die zu Ohren geführt wurden. Ich sah, wie sich die Münder bewegten, dun auch die Ohren, die das Gesagte aufnahmen. Ich sah, wie aus einem Ohr ein Mund wurde und er sich auf das nächste Ohr richtete, das wiederum zu einem Mund wurde, und wie der Pfarrer vorne seinen Mund weit und weiter aufsperrte beim Reden und doch nicht gegen das Wiederfinden der Worte ankam." (S.9)

Die christliche Botschaft vermag nichts gegen die Gerüchte auszurichten, denn Barbara passt nicht in das dörfliche Bild. Ein Mädchen, das geht wie ein Junge, sich hartnäckig im Architektenbüro des Vaters einen Platz erobert hat, obwohl ihm der Besuch des Gymnasiums verweigert wurde. Eine junge Frau, die sich mit der ihr zugedachten Rolle nicht zufrieden geben will, die Stille sucht und Einsamkeit sucht, sich zurückzieht.

Nora beschreibt die ihre Beziehung zu Barbara und die der anderen Dorfbewohner untereinander mit treffenden Worten:

"Manche hätten gesagt, wir sein Freundinnen gewesen. In einem Dorf von dieser Größe gibt es nicht viele Möglichkeiten: Entweder man mag sich, oder man hasst sich, oder man ist sich gleichgültig. Meist empfindet man das eine und handelt nach dem anderen." (S.15)

Schwächere werden gnadenlos in der Schule unterdrückt, "[k]einer war zu junge, getriezt zu werden, und kein Plärren und Betteln konnte das Gegenüber in seinem Angriff besänftigen." (S.16)

Barbara, die sehr groß ist und zu allem schweigt, entgeht diesen Demütigungen. Im Gegensatz zu Yann, dessen Familie von der Stadt ins Dorf zieht, in das Haus, das gegenüber von Noras steht. Klein und schmächtig hat er in der Schule keine Chance, in der Clique von Barbara, Adam, Nora sowie den Geschwistern Hans und Annemarie aufgenommen zu werden.

Hans, der das Dorf verlassen hat, erscheint ebenso wenig auf der Beerdigung wie Yann.

"Da war ich wesentlich erstaunter, dass der Yann und seine Eltern nicht erschienen sind, auch wenn sie eher zurückgezogen leben. Ein Dorf trauert eigentlich lückenlos." (S.25)

Nora stellt fest: "Die Abwesenden störten ihn." (S.30)

Von Hans erfahren wir, dass er eines von 13 Geschwistern gewesen ist und offensichtlich mit Nora eine Beziehung hatte, bis er vor vier Jahren einfach verschwunden ist. Der Tod Barbaras reißt die zurück gebliebenen Freunde aus ihrem mühsam aufrecht erhaltenen Leben und schwemmt jene Erinnerungen an die Oberfläche, die sie zu vergessen suchen.

Nora denkt an Yanns Eltern zurück, die mit dem beginnenden Frühjahr jedes Jahr ihr Leben nach draußen verlagerten.

"Den Sommer vor elf Jahren hatten sie ausgelassen. Keine Stimmen, kein Gebell, nicht einmal Wäsche an den Leinen. Leer und tot wie in all den früheren Jahren waren Haus und Garten die warmen Monate durch gewesen." (S.80)

Was ist in jenem Winter vor elf Jahren geschehen, was haben die fünf Kinder getan? Wie hängen Barbaras Tod und Hans Verschwinden aus dem Dorf und die Tat zusammen?

Während Nora Rechenschaft über das Geschehen ablegt und Yann sich behutsam an das Vergangene erinnert, verdrängt Adam die offenkundige Wahrheit. Wird es ihm gelingen, sich seinen Erinnerungen zu stellen? Wird er zu seiner Identität finden, die er ebenso erfolgreich verdrängt?

Bewertung
Die Erzählung spiegelt das Schweigen, das Verdrängen innerhalb einer Gemeinschaft, in die keiner von außerhalb vorzudringen vermag, authentisch wieder. Nach dem Selbstmord finden die Bewohner keine Worte, das Offensichtliche wird nur geflüstert, hinter dem Rücken weiter getragen. Auch das Verbrechen, das die Kinder begangen haben, wird von ihren Eltern zugedeckt, damit der Schein gewahrt bleibt. Was die Gemeinschaft bedroht, darf nicht sein oder muss weichen.

Eine Nebenepisode verdeutlicht das besonders gut. Barbaras Tante, unangepasst, da sie keiner Arbeit nachgeht und allein in einem kleine Haus lebt, mit den Kindern spielt, wird von ihrem Bruder gezwungen, das Dorf zu verlassen - sie passt nicht ins Bild, ebenso wenig wie Barbara.

Yanns Eltern werden gegrüßt, doch niemals aufgenommen, Zugehörigkeit wird verweigert.

"Hauptsache, man kann sich noch anständig grüßen. Anstand. Wo wären wir ohne Anstand!" (S.171)

Die Autorin deckt die Doppelmoral und Scheinheiligkeit dieser dörflichen Gemeinschaft schonungslos auf, die keine Abweichungen zulässt.

Aber sie zeigt auch, dass die Schuldigen mit der Tat letztlich nicht weiter leben können, wie sie Wege suchen, Reue zu zeigen und sich zu entschuldigen. Mut aufbringen, sich dem zu stellen, was sie dem Schwächsten angetan haben. Dafür findet Inokai wunderbare Worte, wie "schwarzer Schnee" für die Depressionen, unter denen das Opfer leidet. Noras Sprache ist wunderbar poetisch, Adam wirkt direkt, flüchtet jedoch vor seinen Erinnerungen und Yanns Stimme ist leise, behutsam, vorsichtig. Die Sprache spiegelt die Eigenschaften und Psyche der Figuren perfekt wider und jede der Figuren berührt auf ihre Weise.

Klare Lese-Empfehlung!


Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 180 Seiten
Rotpunktverlag, 2017