Sonntag, 28. August 2016

Dörte Hansen: Altes Land

- eigenwillige Charaktere und ungeschöntes Landleben.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 290 Seiten
Verlag: Büchergilde Gutenberg
Erschienen 2015
ISBN-13: 978-3-7632-6819-1


Vorne weg
Es gibt eine neues Label auf meinem Blog: Lesen mit Mirella. Schon seit einiger Zeit lesen wir gegenseitig unsere Beiträge, kommentieren diese auch und haben festgestellt, dass unsere Haustiere den gleichen Namen tragen - wenn sie auch zu unterschiedlichen Spezies gehören. Meines würde Mirellas sicherlich gerne jagen ;)
Glücklicherweise haben wir auch einen ähnlichen Buchgeschmack, so dass wir uns entschieden haben, einmal am Monatsende ein Buch gemeinsam zu lesen. Den Anfang macht dieses wunderbare Romandebüt.


Inhalt
Im Vordergrund dieses Roman stehen einerseits die eigenwilligen Figuren und das Alte Land selbst, das geographisch an den Elbufern südlich von Hamburg liegt.
Die Chronologie der Ereignisse wird immer wieder von Rückblicken unterbrochen und es wird aus verschiedenen personalen Perspektiven erzählt, so dass man zu Beginn eine Weile braucht, um im Roman anzukommen. Dazu tragen auch die vielen unterschiedlichen Figuren bei, wobei im Mittelpunkt Vera Eckhoff und ihre Nichte Anne stehen.

Vera Eckhoff ist die Tochter von Hildegard von Kamcke, eine am Ende des 2.Weltkrieges aus Ostpreußen vertriebene Adlige, die gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Fürchterliches auf der Flucht erlebt hat.
Anne vergleicht ihre Großmutter Hildegard mit den vereisten Blüten im Frühjahr, "Frostschutz durch Vereisung" (S.270), es sei ihre einzige Möglichkeit gewesen, das Traum der Flucht zu überstehen.

Hildegard und ihre Tochter Vera finden notgedrungen Unterschlupf im Hause Ida Eckhoffs, einer Bäuerin des Alten Landes, Witwe und Mutter eines Frontsoldaten. Vera und Ida nähern sich behutsam an, während Hildegard nicht bereit ist, die Opferrolle einzunehmen. Als Idas Sohn Karl aus dem Krieg zurückkehrt, ist er nur noch ein Schatten seines früheren Selbst.

"Ihr Hoferbe Karl Eckhoff, stark und hoffnungsvoll, war im Krieg geblieben. Einen Pappkameraden hatten sie ihr zurückgebracht. Freundlich und fremd wie ein Reisender saß ihr Sohn auf der Hochzeitsbank und schickte Rauchringe in den Himmel. Und in den Nächten schrie er." (S.14)

Ida kann mit diesem traumatisierten jungen Mann nicht umgehen, während Hildegard ihn trotzdem heiratet. Im Haus kämpfen die beiden Frauen erbittert gegeneinander. Als Hildegard eigenmächtig ein Klavier kauft und im Haus Möbel umstellt, wählt Ida den Tod - ein Ereignis, das Vera nachhaltig prägt und sie zeitlebens glauben lässt, das Haus dürfe nicht verändert werden.

Doch Hildegard ist nicht für das Leben im Alten Land geschaffen und so heiratet sie einen Bauernsohn mit Potential und verlässt Karl und ihre Tochter. Sie baut sich in Hamburg ein neues Leben auf, gemeinsam mit der zweiten Tochter Marlene. Die Berührungspunkte der Halbschwestern sind gering und obwohl Hildegard Vera zurückgelassen hat, gibt es ein Band zwischen Hildegard und Vera, das Marlene verschlossen bleibt.

Vera bleibt im Alten Land, im Haus, bei Karl.

"Sie war auf Ida Eckhoffs Hof gespült worden wie ein Ertrinkender auf eine Insel. Um sie herum war immer noch das Meer, und Vera hatte Angst vor diesem Wasser. Sie musste bleiben auf ihrer Insel, auf diesem Hof, wo sie zwar keine Wurzeln schlagen konnte, aber doch festwachsen an den Steinen, wie eine Flechte oder ein Moos. Nicht gedeihen, nicht blühen, nur bleiben." (S.42)

Sie wird Zahnärztin - umgeben von ihren Trakehnern und Weimaranern lässt sie keinen Mann wirklich an sich heran.
Der Einzige, der ihr etwas bedeutet, ist ihr Nachbar Heinrich von Lübbe, der schwer daran trägt, dass keiner seiner Söhne den Hof übernehmen will und der seine Frau ganz früh verloren hat. Die Beziehung zwischen den beiden spiegelt die Unfähigkeit Veras wider, auf andere Menschen zuzugehen, Vertrauen zu haben, sich die Chance zu eröffnen, aufzublühen. Erst mit dem Auftauchen ihrer Nicht Anne ändert sich das.

 Anne ist Marlenes Tochter, sie hat ihre viel versprechende Musikerkarriere aufgegeben, als ihr kleiner Bruder sie überstrahlt.

"Erst alles und dann gar nichts mehr. Licht aus. Totale Sonnenfinsternis mit sechzehn. Kein Mensch sah ein begabtes Kind, wenn ein begnadetes den Raum betrat." (S.24)

In ihrer stillen Verzweiflung macht sie eine Schreinerlehre, lebt mit einem Autor und dem gemeinsamen Sohn Leon in Hamburg-Ottensen - umgeben von selbst ernannten Über-Müttern, denen Anne sich unterlegen fühlt.

"Die meisten Mütter auf dem Spielplatz trugen diese Camper-Schuhe. Sie hinterließen lange, kringelige Lochmusterspuren im Spielplatzsand, wenn die Frauen, wie gutmütige Familienhunde, die Schnuller und Trinkflaschen apportierten, die ihre Kleinkinder aus den Buggys warfen." (S.26)

Nachdem ihr Ehemann sich in seine Verlegerin verliebt, flüchtet Anne ins Alte Land zu ihrer verschrobenen Tante. Das Arrangement lautet, das Haus, von dem Vera glaubt, es dulde keine Veränderungen, wieder auf Vordermann zu bringen.
Ob das Haus sich diese Behandlung gefallen lässt?

Die sich schrittweise aufbauende Beziehung der beiden Frauen spielt auf der Figurenebene eine wichtige Rolle, aber auch die Realität des Lebens im Alten Land beansprucht viel Raum im Roman.

Exemplarisch stehen sich hier Dirk zum Felde - ein konventioneller Bauer, der mit Pestiziden arbeitet und für den der Ertrag seiner Apfel- und Kirschbäume existentiell wichtig ist - und der das Landleben verklärende Journalist Burkhard Weißwerth - der erkennen muss, dass die Realität eine andere ist, als in den Zeitschriften dargestellt - gegenüber.

Präzise stellt die Autorin die Sorgen und Nöte der Bauern dar, aber auch die Illusion der Städter über das romantische Landleben. So verkauft Dirk zum Felde seine konventionell angebauten Äpfel einem ortsansässigen Biobauern, der die Äpfel dann einfach in seine Kisten umfüllt.

"Die Touristen fuhren zurück in ihre Mietwohnungen und Reihenhäuser, und ihr hübsches Bild vom Landleben hatte nicht eine Schramme abgekriegt. Ein Leben in Kalenderbildern, und alles so gesund, sie kamen immer wieder." (S.154)

Bewertung
Es ist ein eigenwilliges Figurentableau, das die Autorin vor uns ausbreitet. Figuren, die teilweise schwer zugänglich sind -wie Vera Eckhoff -, teilweise etwas überspitzt dargestellt werden - wie Burkhard Weißwerth -, die aber auch Identifikationsmöglichkeiten bieten - wie die sympathische Anne.
Aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven und der häufigen Verwendung der erlebten Rede, erhalten wir Einblicke in das Seelenleben und die Gedanken der verschiedenen Figuren.
Sie öffnen sich den Lesenden und überlassen uns eine Bewertung ihres Verhaltens. Dialoge sind sparsam eingesetzt und viele Ereignisse werden nur mit wenigen Worten angedeutet.

"Finger an die Mütze, Abfahrt. Bloß kein Wort zu viel. Als hätte man nur einen kleinen Vorrat, der bis zum Lebensende reichen müsste." (S.255)

Die Mentalität des Wegsehens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens der Traumatisierung durch Krieg, Tod und Verlassenwerden legt die Autorin offen - sie sieht nicht weg und zeigt, auf, wie das Nicht-Gesehen-Werden zu psychischen Verletzungen führt, die anhalten.
Wie Karls nächtliche Träume vom Krieg, die schließlich in der Angst zu schlafen münden, oder Annes Unsicherheit und ihre Ängste, die von ihrer "kalten" Mutter herrühren, die selbst wiederum von ihrer Mutter nicht gesehen wurde.

Neben diesem Beziehungsgeflecht rückt das Alte Land in den Fokus. Die Autorin stellt den harten Kampf um die Existenz dar, bezieht dabei aber keine klare Position in der Frage um biologischen oder konventionellen Anbau von Obst. Nur die romantisierende Vorstellung des Landlebens nimmt sie aufs Korn und räumt damit auf.

Sperrige Charaktere, sparsame Worte, ein Roman, der fordert, der mich aber trotzdem in seine Handlung hineingezogen hat und der auch viele komische, fast schon satirische Szenen aufweist, über die ich lachen konnte.

Mirellas Buchbesprechung fällt etwas "negativer" aus als meine, aber lest selbst. Sie hat unsere gemeinsame telefonische Buchbesprechung zusammengefasst und daran wird deutlich, in welchen Punkten wir uns unterscheiden. Danke dafür, Mirella!