- erzählt von Zwischenmenschlichkeit und Güte.
Nachdem im letzten Jahr der Roman "Unsere Seelen bei Nacht" mein Lieblingsbuch gewesen ist, wollte ich natürlich auch den neu erschienenen Roman von Kent Haruf lesen. Meine Buchhändlerin war so freundlich, ihn mir als Leseexemplar zur Verfügung zu stellen und bei whatcharadin läuft eine Leserunde, an der ich teilnehme.
"Lied der Weite" ist vor "Unsere Seelen bei Nacht" entstanden und spielt ebenfalls in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, wie alle der 6 Romane des verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Kent Haruf (1943-2014).
Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen mehrere Figuren, die am Ende in einer Gemeinschaft zueinander finden.
Da ist zunächst der Lehrer Tom Guthrie, der an der High School unterrichtet und dessen Frau unter Depressionen leidet.
"Drinnen war es fast völlig dunkel, der Raum wirkte abweisend und Ruhe gebietend wie der Altarraum einer leeren Kirche nach der Beerdigung einer zu früh verstorbenen Frau-" (S.10).
Ihre beiden Jungen Ike (10) und Bobby (9) sind mit der Situation überfordert und wünschen sich, die Mutter würde wieder aufstehen. Gemeinsam tragen sie jeden Tag die Zeitung aus und beim wöchentlichen Kassieren treffen sie auf die einsame, alte Mrs Stearns, deren Sohn im 2.Weltkrieg gefallen ist. Als sie erfährt, dass die Mutter der Jungen ausgezogen ist, äußert sie ihr Mitleid:
"Ihr müsst sehr einsam sein" (S.59),
und bringt den beiden jenes freundliche, gütige Verhalten entgegen, dass uns mehrfach in dieser Geschichte begegnet.
Victoria Roubideaux ist eine weitere Hauptfigur, sie steht im Zentrum des Romans. Gerade erst 17 Jahre alt ist sie schwanger von einem Jungen aus einer anderen Stadt, der sie verlassen hat. Ihre Mutter weigert sich ihr zu helfen und weist sie mit grausamer Kälte zurück.
"Dem Mädchen kamen die Tränen. Hilf mir, Mama. Ich brauch dich, du musst mir helfen. Zu spät, sagte die Frau. Du hast dir die Suppe eingebrockt, jetzt löffel sie auch aus." (S.15)
Allein gelassen wendet sich Victoria an die Lehrerin Maggie Jones, die ebenfalls an der High School unterrichtet. Maggie nimmt sie zwar auf, doch wegen ihres dementen Vaters kann Victoria dort nicht bleiben. Der Vater des Kindes scheint keine Verantwortung tragen zu wollen, trotzdem will Victoria das Kind behalten.
"Maggie Jones betrachtete eine Zeitlang ihr Gesicht. Das Mädchen sah müde und traurig aus, sie hatte die Decke um die Schultern gewickelt wie jemand, der ein Zugunglück oder eine Überschwemmung überlebt hat, trauriges Überbleibsel einer Katastrophe, die ihren Schaden angerichtet hat." (S.46)
Maggie hat die Idee, sie bei den Brüdern McPherons unterzubringen. Raymond und Harold führen seit dem frühen Tod ihrer Eltern eine Farm, 17 Meilen außerhalb von Holt, und züchten Rinder. Sie kennen auch Tom, der ihnen ab und an hilft, wenn es gilt zu überprüfen, ob die Kühe trächtig sind.
Ausgerechnet dort soll Victoria leben, bei diesen beiden Männern, die zu schweigen gewohnt sind und nicht wissen, was sie mit einem jungen Mädchen reden sollen.
"Zwei alte Männer, allein. Klapprige alte Junggesellen hier draußen auf dem Land, siebzehn Meilen von der nächsten Stadt, und auch die macht nicht viel her, wenn man hinfährt Schau uns an. Verschroben und ungebildet. Einsam. An Unabhängigkeit gewöhnt. Mit eingefahrenen Gewohnheiten. Wie willst du das alles in unserem Alter noch ändern? (S.143)
Sie sind nicht die einzige, deren Leben in Holt sich ändern wird.
Bewertung
Die Szene, in der der alte Arzt Victoria zum ersten Mal untersucht, zeugt von jener zwischenmenschlichen Güte, der meines Erachtens im Mittelpunkt des Romans steht. Behutsam erklärt er jeden seiner Schritte und behandelt sie respektvoll und freundlich.
Doch auch grausames Verhalten, wie Victorias Mutter es an den Tag legt, und Vorurteile herrschen in der Stadt. Der Junge Russell Beckmann demütigt Victoria vor der Klasse und gerät in einen heftigen Streit mit Tom Guthrie - ein Konflikt, in den auch die seine beiden Kinder hineingezogen werden. Während die Beckmanns die Beschränktheit und asoziales Verhalten verkörpern, stehen die McPherons für Güte und Humanität. Aber auch die beiden "profitieren" von der Anwesenheit Victorias, denn nun müssen sie sich um jemanden kümmern, sich sorgen, sind "gezwungen" zwischenmenschlich zu agieren. Zuerst legen sie die Decke nachts über sie, dann kaufen sie ein Kinderbettchen und bringen sie zur Entbindung in die Stadt - berührende Szenen, ohne rührselig zu sein.
Haruf verdeutlicht an kleinsten Veränderungen, wie sich das Verhalten der beiden alten Männer gegenüber Victoria ändert. Zunächst gelingt es ihnen nicht, sie anzuschauen.
"Ich fürchte, das ist eine schwere Zeit für dich, sagte Raymond zu dem dem Mädchen. Er sah sie nicht an, sondern an ihr vorbei ins Leere." (S.163)
Als sie zurückkehrt, hat sich dies geändert.
"Wir haben uns Sorgen gemacht, sagte Raymond. Er saß neben ihr am Tisch und schaute sie an." (S.307)
Der Roman zeigt, wie Schlink treffend sagt (Buchrückseite), die Kraft der Liebe, aber auch die Schwächen der Menschen und
- das Leben selbst. Von trächtigen Kälbern ist zu lesen, von sterbenden Pferden, von der Geburt des kleinen Mädchens und dem Tod der alten Mrs Stearns. Von Sex und Liebe, Demütigung und Güte...
Ein unaufgeregter Roman, der mich genauso berührt hat, wie "Unsere Seelen bei Nacht" und für den ich eine klare Lese-Empfehlung aussprechen kann.
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