Dienstag, 20. Februar 2018

Paolo Cognetti: Acht Berge

- die Geschichte zweier Lebenswege.

"Ihre ersten Berge, ihre erste große Liebe, waren die Dolomiten gewesen." (S.8)

Den Roman habe ich mir in einer Buchhandlung in Brixen, Südtirol gekauft, zu Beginn des Skiurlaubs in den Dolomiten. Passende Lektüre für einen Urlaub in den Bergen, die auf mich eine genauso große Faszination ausüben, wie auf den Protagonisten Pietro.

Worum geht es?
Pietros Eltern leben in Mailand, kommen aber aus einem kleinen Bergdorf aus dem ländlichen Veneto. Sein Vater ist Kriegswaise und ein besessener Gipfelstürmer, der sich nur in den Bergen zuhause fühlt.

"Meine Mutter, die ihn schon von klein auf kannte, erzählte, dass er schon damals auf niemanden warten wollte, so wild war er darauf gewesen, jeden einzuholen, den er vor sich hatte. Deshalb musste man gut zu Fuß sein, im in den Augen meines Vaters Gnade zu finden." (S.7)

In Mailand hingegen ist er ein anderer Mensch, statt auf die Gipfel blickt er auf die Autobahn, so dass sich Pietros Eltern im Juli 1984 ein Haus in Grana mieten, das am Monte Rosa Massiv liegt, am Fuße des Grenon.
Dort lernt Pietro den Kuhhirten Bruno kennen, der auch 11 Jahre alt ist. Sie freunden sich an und verbringen die folgenden Jahre jeden Sommer gemeinsam, erforschen den Wildbach, erkunden verlassene Ruinen und klettern an Berghängen, wobei Bruno stets vorne weg läuft.

"Vermutlich war schon damals klar, dass ich ihm überallhin folgen würde." (S.29)

Pietros Vater kann wegen seiner Arbeit immer nur für wenige Tage bleiben, doch seine Mutter blüht in Grana auf. Sie knüpft Freundschaften, liest, pflanzt Blumen und kümmert sich um das Haus - und sie stellt Nachforschungen zu Brunos Familie an, denn er lebt mit seiner Mutter alleine unter der Fürsorge seines Onkels.

Blick auf den Sella-Stock, Südtirol
In diesem ersten Sommer beschließt Pietros Vater, dass sein Sohn ihn auf seinen Bergtouren begleiten soll. Eine seltsame Erfahrung für den Jungen, dem der Gipfel nichts bedeutet. Sein Vater hingegen scheint ein anderer Mensch dort oben zu sein. Gemeinsam mit Bruno unternehmen sie auch eine Wanderung auf den Gletscher, auf dem Pietro höhenkrank wird. Statt der erwarteten Wut, reagiert sein Vater mit Angst und kehrt sofort um. Ein Ereignis aus seiner Vergangenheit scheint ihn zu verfolgen. Warum ist er so besessen davon, alle Berge zu erklimmen, abzuhaken auf einer riesigen Landkarte. Warum fühlt er sich nur auf dem Gipfel wirklich frei?

Bruno wird Teil der Familie, mit seiner Wissbegierigkeit und Bewunderung für Pietros Vater wäre er der ideale Sohn gewesen. Die Familie unternimmt den Versuch, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er weiter auf die Schule gehen kann. Doch dessen Vater verhindert dies, so dass Bruno in den Bergen bleibt und Maurer wird, während die Freundschaft der beiden für eine lange Zeit unterbrochen wird.

Sie finden wieder zueinander, als Pietros Vater stirbt und ihm ein "Haus" in den Bergen vermacht. Pietro bedauert, dass er seinen Vater Jahre zuvor abgewiesen hat und erkennt, dass er vieles mit seinem Vater gemeinsam hat.

"Ich wusste nicht mehr, warum ich die Berge hinter mir gelassen, und auch nicht, was ich stattdessen geliebt hatte, als meine Liebe zu ihnen erloschen war. Aber wenn ich allmorgendlich schweigend aufstieg, war es so, als würde ich wieder meinen Frieden mit ihnen machen." (S.138)

Er begibt sich auf Spurensuche und erfährt, warum sein Vater im Sommer die Berge bezwingen und seine Erinnerungen an Vergangenes auslöschen will.

"Aber der Gletscher ist der Schnee vergangener Winter, die Erinnerung an einen Winter, der einfach nicht vergehen will." (S.148)

Bewertung
Der Roman erzählt die Geschichte zweier ungleicher Freunde. Während der eine sein Leben lang in dem kleinen Bergdorf bleibt, reist der andere in die fernen Bergwelten des Himalaya. Ihre unterschiedlichen Lebenswege spiegeln sich in einem tibetanischen Symbol, das ein alter Nepalese Pietro erklärt:

"Für uns ist der Mittelpunkt der Welt ein sehr hoher Berg, der Sumeru, der wiederum von acht Bergen und acht Meeren umgeben ist. Das ist unsere Vorstellung von der Welt. (...) Wer hat mehr gelernt? Derjenige, der alle acht Berge gesehen, oder derjenige, der den Gipfel des Sumeru bestiegen hat?" (S.170)

Die Frage, die man sich beim Lesen zwangsläufig stellt: Welcher Weg ist der bessere? Zu allen Bergen reisen oder den höchsten besteigen. Im eigenen Umfeld bleiben oder Unbekanntes entdecken. Der Roman gibt keine Antworten, sondern stellt viele existentielle Fragen, so dass mehr als nur eine gute Geschichte erzählt wird.

Neben der Freundschaft steht die schwierige Vater-Sohn-Beziehung im Mittelpunkt. Pietro macht sich Vorwürfe, da er den Vater zurückgewiesen hat - ein Verhalten, das zum Erwachsen werden dazu gehört. Doch die beiden gehen nicht mehr aufeinander zu - bis es zu spät ist? Wann ist es Zeit, den ersten Schritt zu tun? Wie gehe ich mit der Schuld um? Eine Frage, der sich Pietros Vater zeitlebens stellt, warum will ich hier nicht verraten.

Mich hat dieser Roman nicht nur bewegt, weil ich die Faszination für die Berge teile, sondern weil er zwei Lebensweisen und -einstellungen gegenüberstellt, ohne diese zu bewerten. Und man sich zwangsläufig die Frage stellt, welchen Lebensweg man selbst eingeschlagen hat und ob dies der richtige gewesen ist.

"Wenn man noch jung ist, kann man vielleicht noch umsatteln. Aber irgendwann muss man in sich gehen und sich eingestehen: Das kann ich, und das kann ich nicht." (S.238)

Ein Roman, für den man Muße braucht - ein klare Lese-Empfehlung!

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 245 Seiten
DVA, 202017