Freitag, 3. Februar 2017

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

- eine Freundschaftsgeschichte.

Lesen mit Mira

Gebundene Ausgabe,
Suhrkamp, 29.August 2016

Der Roman, der bereits 1992 erschienen ist, wurde von Karin Krieger ins Deutsche übersetzt. Er ist der erste Band der gleichnamigen neapolitanischen Saga. Die Autorin, die in Neapel geboren ist, hat sich beim Erscheinen ihres Debütromans für die Anonymität entschieden. Inzwischen wurde ihre Identität aufgedeckt, wer mehr darüber lesen will, findet hier Informationen dazu. Für mich persönlich steht jedoch der Roman selbst im Vordergrund, von dem ich bereits sehr viel Positives gehört habe, so dass Mira und ich beschlossen, ihn gemeinsam zu lesen. Wie immer haben wir uns rege ausgetauscht und diskutiert - vielen Dank, liebe Mira, dass du meinen Blick in vielerlei Hinsicht geschärft hast.


Inhalt
Dem Roman vorangestellt sind die handelnden Figuren, geordnet nach Familien und deren Mitgliedern. Sie alle leben in Neapel der 50er Jahre, im Viertel Rione, das von Armut geprägt ist. Diese Übersicht ist wirklich sehr hilfreich, da man eine Weile braucht, bis man alle Figuren und ihre Beziehung zueinander kennt.

Im Mittelpunkt stehen die beiden Mädchen Raffallea Cerullo, von allen Lina gerufen - außer von Elena Greco - Lenù - ihrer beste Freundin, die sie Lila nennt und die diese Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt.

Zu Beginn erfahren wir, dass Lila, inzwischen über sechzig Jahre alt, spurlos verschwunden ist und zwar restlos - alle Fotos, Kleider, Bilder sind weg.

"Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte (...): Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein." (S.19)

So beschließt Lenù, die Geschichte Lilas und ihrer gemeinsamen Freundschaft "aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist." (S.22)

Die beiden Mädchen sind sehr unterschiedlich, während Elena, Tochter eines Portiers, sehr zurückhaltend und schüchtern ist, scheint Lila, Tochter eines Schusters, eine Draufgängerin zu sein, die vor nichts und niemandem Angst hat.

Ihre Freundschaft beginnt, als sie sich gemeinsam zum vermeintlichen Schrecken des Viertels, dem Unhold Don Achille wagen, um ihre Puppen wieder zu bekommen, die er angeblich genommen haben soll. Dabei hat Lila Lenùs Puppe Tina einfach in ein Kellerloch geworfen - die Mädchen gehen wahrlich nicht zimperlich miteinander um. Wie sollten sie auch, in einer Umgebung, die von Armut und Gewalt geprägt ist.

"Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt. Es passierte alles Mögliche, zu Hause und draußen, Tag für Tag, doch ich kann mich nicht erinnern, jemals gedacht zu haben, dass unser Leben besonders schlimm sei. Das Leben war eben so, und damit basta, wir waren gezwungen, es anderen schwerzumachen, bevor sie es uns schwermachten. Gewiss, mir wären die freundlichen Umgangsformen, die unsere Lehrerin und der Pfarrer predigten, auch lieber gewesen, doch ich merkte, dass sie für den Rione, für unser Viertel, nicht geeignet waren, auch für die Mädchen nicht. Die Frauen bekämpften sich untereinander noch heftiger als die Männer (...) (S.39)

Elena, die Lilas Bewunderung erlangen will, lässt sich auf einige Mutproben ein, eben auch jener, zum Unhold zu gehen. Ihre Freundschaft ist von Konkurrenz geprägt, unumwunden gibt Elena zu, dass sie Lila, die sehr gut in der Grundschule ist und alle Wettbewerbe gewinnt, übertrumpfen will - schließlich fügt sie sich in Lilas Überlegenheit.

"Wahrscheinlich war das meine Art, mit Neid und Hass umzugehen und beides zu unterdrücken. Oder vielleicht verschleierte ich auf diese Weise mein Gefühl der Unterlegenheit, die Faszination der ich unterworfen war. Auf jeden Fall übte ich ich darin, Lilas Überlegenheit auf allen Gebieten bereitwillig zu akzeptieren, und auch ihre Schikanen." (S.50)

Lila wirkt zu Beginn des Romans schwer zugänglich, sie ist intelligent, aber wild. Lässt sich nichts sagen und wehrt sich gegen alle, die ihr zu nahe treten. Beschützt wird sie von ihrem älteren Bruder Rino, der sie gegenüber den rivalisierenden Jungs verteidigt - später wird er auf ihre Ehre Acht geben wollen.

Nach der Grundschule empfiehlt die Lehrerin Elena, eine weiterführende Schule zu besuchen, die nötigen Kenntnisse in Latein will sie ihr gegen Geld (!) vermitteln. Nach vielen Diskussionen willigen die Eltern ein. Auch Lila soll auf Wunsch der Maestra gehen, darf jedoch von Seiten ihrer Eltern nicht.
Als Lenù der Lehrerin während einer Nachhilfestunde eine Kurzgeschichte von Lila zeigt, erwidert diese:

"Weißt du, was die Plebs ist, Greco? (...) Die Plebs, der Pöbel, ist etwas sehr Schlimmes. (...) "Und wenn einer Pöbel bleiben will, dann verdienen er, seine Kinder und seine Kindeskinder es nicht besser. Vergiss Cerullo und denk lieber an dich." (S.84)

Man mag ihre Enttäuschung, dass ihre begabteste Schülerin ihre Schulzeit beendet, zur ihrer Entschuldigung anführen, doch aus den Worten der Lehrerin spricht Verachtung für die Menschen im Rione und ihrer Art zu leben. Sie ist nicht bereit Lila weiter zu unterstützen oder sich für sie einzusetzen, so bleibt Lila sozial benachteiligt.

Die Konkurrenz zwischen den beiden Mädchen wächst und Elena äußert ungeschönt ihre wenig freundschaftlichen Gedanken:

"Sooft ich konnte, signalisierte ich ihr vorsichtig, dass ich zur Mittelschule gehen würde und sie nicht. Nicht mehr die Zweite zu sein, sie zu überholen, erschien mir erstmals wie ein Erfolg. Sie muss es bemerkt haben, denn sie wurde noch kratzbürstiger, aber nicht zu mir, sondern zu ihrer Familie." (S.96)

Diese Rivalität begleitet die Mädchen bis zum Ende des ersten Bandes, ist es zunächst Lila, die Elena verschiedenen Mutproben unterzieht, so vergleicht Elena im weiteren Verlauf der Handlung alles, was ihr widerfährt, mit dem Leben Lilas.
Ist diese Konkurrenz zu Beginn nachvollziehbar, so hat sie mich mit zunehmendem Alter der Mädchen befremdet - noch ist es keine liebevolle, herzliche Beziehung zwischen den beiden.
Es gibt zwar immer wieder Szenen, in denen die gegenseitige Zuneigung durchschimmert, aber die tauchen in meinen Augen zu selten auf und sind geprägt vom Wunsch Elenas Lilas Ansprüchen zu genügen:

"Mein Herz hüpfte vor Freude. Welche Bitte lag in diesem wunderbaren Satz. Sagte sie mir gerade, dass sie nur mit mir sprechen wolle, weil ich nicht alles für bare Münze nah, was ihr über die Lippen kam, sondern ich ihr etwas entgegenzusetzen hatte? Sagte sie mir gerade, dass nur ich den Dingen folgen konnte, die ihr durch den Kopf gingen?" (S.127)

Nachdem Elena auf der Mittelschule weiter lernt, wird Lila gezwungen in der Schusterei ihres Vaters zu schuften, verwirklicht sich aber im Entwerfen innovativer Schuhe. Lilas Drang sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten ist bewundernswert, auch wenn sie einiges dafür einstecken muss. Zudem lernt sie parallel dazu heimlich Latein und Griechisch, um Elena zu überflügeln, sie anzuspornen, ihr intellektuell gleichwertig entgegentreten zu können, ihr zu zeigen, dass sie auch in der Lage dazu ist.

Ihr kritisches Denken zeigt sich auch darin, dass sie beginnt Fragen nach dem "früher" zu stellen, wer hat welche Rolle im Krieg gespielt, wer war Faschist und ist es noch, wer Kommunist. Sie findet heraus, dass der Großvater der Solara-Brüder, die das Viertel "beherrschen" Camorra-Mitglied war, eine Verbindung, die später für ihr Leben noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Währenddessen besucht Elena das humanistische Gymnasium, verliebt sich und verbringt einige unbeschwerte Tage in Ischia - eine der wenigen Szenen im Roman, die fast durchweg in fröhlicher Stimmung verlaufen - bis auch diese Episode ein unschönes Ende findet.

Lila findet scheinbar einen Weg aus ihrer Armut heraus, sie ändert ihren gesellschaftlichen Stand und machte eine vermeintlich gute Partie. Die weiteren Bände werden zeigen müssen, ob ihre Entscheidung richtig gewesen ist - der letzte Absatz des Romans und Vorausdeutungen der Ich-Erzählerin lassen allerdings anderes vermuten.

Bereits in der Silvesternacht zum Jahre 1959 lange vor ihrem Verschwinden, deutet die Ich-Erzählerin an, dass "Lila ihre erste Episode der Auflösung" erlebte. (S.105)
Wie wird diese Auflösung aussehen? Und wird es der Ich-Erzählerin gelingen, aus dieser Welt der Armut und Gewalt auszubrechen?

Bewertung
Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat aus Goethes Faust, aus dem Prolog, in dem der Herr die Funktion Mephistos, der als Schalk und Antreiber der Menschen wirken muss, erklärt. Im Roman scheinen die Mädchen sich zunächst gegenseitig anzutreiben, die Konkurrenz führt sie immer wieder zu neuen Hochleistungen, doch im Verlauf der Handlung kristallisiert sich heraus, dass es Lila ist, die Lenù, die Ich-Erzählerin, "reizt", sie anstachelt:

"Du bist meine geniale Freundin, du musst die Beste von allen werden, von den Jungen und von den Mädchen." (S.398)

Es scheint, dass Elena stellvertretend für Lila der Ausbruch aus ihrer gemeinsamen, brutalen und von Armut gezeichneten Welt gelingen muss. Eine der wenigen Szenen, in der Herzlichkeit zwischen den ungleichen Freundinnen zu spüren ist. Lenù wirkt gegenüber Lila oft kühl, geprägt von ihrem Unterlegenheitsgefühl - es ist schon eine seltsame Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten müssen, einer düstere, gewaltsame Welt, in der kaum zwischenmenschliche Wärme zu finden ist.
In unserem Telefongespräch stellten Mira und ich einhellig fest, dass es kaum Sympathieträger im Roman gibt, mit Lila empfindet man Mitleid, Lenù schildert die Geschichte zwar in allen Einzelheiten und schonungslos, aber ob sie sich als echte Freundin erweist, wird sich zeigen müssen.
Alle weiteren Personen zeigen auf die ein oder andere Weise irgendwann ihre "dunkle" Seite.

In einem Brief an Elena schreibt Lila, "sie spüre rings um sich her alles Schlechte des Rione. Dunkel fügte sie hinzu, Gut und Böse seien miteinander verquickt und verstärkten sich gegenseitig." (S.288)

Das ist auch das, was mich an dem Roman irritiert, dass es keinen positiven Gegenpol zur Brutalität und Lieblosigkeit gibt. Man mag entgegenhalten, das sei die Realität, aber die ist auf Dauer - gerade weil sie so detailliert dargestellt wird - schwer zu ertragen. In der Mitte des Romans hatte ich mehrmals den Impuls, das Buch beiseite zu legen, da die Situation für Lila immer düsterer und hoffnungsloser wird.
Glücklicherweise scheint sich ihr Schicksal zum Guten zu wenden und so bin ich auch beim zweiten Teil dabei geblieben und muss sagen, dass es der Autorin am Ende gelungen ist, neugierig auf den weiteren Verlauf der Handlung zu machen, so dass Mira und ich uns vorgenommen, den zweiten Band im nächsten Monat zu lesen - um zu sehen, ob aus dieser düsteren Welt eine hellere wird, ob eine andere Sichtweise eingenommen wird, und um zu erfahren, wie es mit den beiden Freundinnen weitergeht...

Hier geht es zu Miras Rezension.

Nachtrag: Mira hat beschlossen nicht weiterzulesen, mal sehen, ob ich noch den zweiten Band noch lese....