Sonntag, 14. März 2021

Benedict Wells: Hard Land


- ein "euphancholischer" Roman.

"Neues Wort. Mischung aus Euphorie und Melancholie" (98)

- ein Gefühl, das beides vereint, beschreibt das Empfinden beim Lesen des Romans ziemlich gut.

Der Ich-Erzähler, Sam Turner, inzwischen 17 Jahre alt, schildert rückblickend, was im Sommer 1985 und in dem Jahr danach geschehen ist.

"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb." (11)
"Es war der Anfang der Sommerferien, und von dem Berg an Langeweile, der vor mir aufragte, hatte ich noch nicht mal die Spitze abgetragen." (11)

Sam schwankt zwischen der Angst um seine Mutter, die einen Gehirntumor hat(te) und der es gesundheitlich besser geht, und dem Wunsch etwas zu erleben. Er will endlich hinter die 49 Geheimnisse (=Anzahl der Kapitel im Roman) seiner Heimatstadt Grady im Bundesstaat Missouri zu kommen, von denen der einzige Schriftsteller der Stadt William J.Morris in seinem Gedichtzyklus "Hard Land" (!) spricht. Diesen Schriftsteller hat Wells wahrscheinlich erfunden, da die Gedichte, in denen Sam während des Sommers liest,  jeweils in Zusammenhang mit der Handlung des Roman stehen.

Interessanterweise erklärt Wells den Aufbau seines Romans, indem er den Highschool-Lehrer, der den Gedichtzyklus im Unterricht bespricht, erklären lässt, "Hard Land" sei wie ein klassisches Drama konstruiert:
Exposition (Die Wellen) - Komplikation (Der Ball in der Luft) - Peripetie (Die Prüfung) - Retardation (Der Streich) - Katharsis (Die Pointe)

Ohne den Inhalt vorwegnehmen zu wollen, es passt perfekt. Im ersten Teil werden die Figuren und der Ort vorgestellt. Sam, der keine Freunde hat, litt als Kind unter Panikattacken und war deswegen in psychotherapeutischer Behandlung. Immer noch fällt es ihm schwer, sich unter Gleichaltrigen cool und gelassen zu verhalten. Im Kino Metropolis, in dem er einen Job bekommt, lernt er eine Clique aus zwei Jungen und einem Mädchen kennen, die nach den Ferien aufs College gehen wird. Zunächst weisen sie ihn freundlich zurück, doch nachdem er sich Kristie offenbart, ihr seinen Kummer und seine Ängste anvertraut hat, verschiebt sich das Gleichgewicht und er wird in dieses seltsame Trio aufgenommen, bestehend aus dem stillen, ruhigen Brandon mit dem Spitznamen Hightower (Football-Spieler), dem redseligen, filmbegeisterten Cameron, der homosexuell ist, und der selbstbewusst wirkenden Kristie, die in einigen Situation unsicher wirkt und Sätze und Wörter wie "die Quittung der Nacht" sammelt.

Im zweiten Teil steht die Beziehung zu Kirstie, in die sich Sam verliebt, im Mittelpunkt. Aber Sam erzählt auch von seinem innigen Verhältnis zu seiner Mutter, die ihn dazu drängt, arbeiten zu gehen, Zeit mit seinen neuen Freunden zu verbringen, weil sie sieht, wie er aufblüht und sie bald nicht mehr für ihn da sein kann.
Auch sein Vater unterstützt ihn erstaunlicherweise darin, obwohl Sam ein eher distanziertes Verhältnis zu ihm hat.
"Mein Vater war mir oft wie ein heruntergelassene Jalousie vorgekommen. Doch an jenem Mittag konnte ich zumindest durch die Ritzen spähen." (47) 

Mit Hightower entwickelt sich eine ernsthafte Freundschaft, gemeinsam joggen sie jeden Morgen und Sam erfährt, dass er als 12-Jähriger seine Mutter verloren hat und bei seinem Stiefvater lebt.

An seinem Geburtstag, der Peripetie, muss Sam drei Prüfungen ablegen - wie ein klassischer Held - und er erkennt, dass es "nicht die gleichen neunundvierzig Geheimnisse für alle gab, sondern jeder seine eigenen hatte" (186).

Die Pointe des Romans ist die gleiche, auf die auch der (fiktive) Gedichtzyklus hinausläuft, und rundet diesen Coming of Age-Roman ab. Freundlicherweise liefert Wells auch eine Erklärung dieses Begriffs, indem er sie ebenfalls dem Lehrer in den Mund legt.
"Der klassische Held [ist] oft auf einer inneren oder äußeren Reise. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen." (306)

oder wie es bei William Morris heißt:
"Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt." (306)

Benedict Wells trifft den Ton der Jugendlichen und die Themen, mit denen sie sich  auf dem Weg zum Erwachsensein auseinandersetzen, z.B die Frage: Wer bin ich überhaupt oder wie sollte ich sein? Sams Antwort zum Rat der Schulpsychologin, aus sich herauszugehen, lautet:

"Nur, wenn man darüber nachdenkt, ist es ja eine Bankrotterklärung an das eigene Ich, wenn man besser dran ist, da rauszuschlüpfen und es wie eine kaputte Hülle zurückzulassen." (26)

Wells gelingt es hervorragend, dass man sich in die Heranwachsenden hineinversetzen kann und an ihrem Reifen und Wachsen teilnimmt. Die Figuren und auch die Zeit wirken völlig authentisch, die Song- und Filmtitel erinnern an die eigene Jugend ;).

Ein warmherziger Roman - Hard Land könnte man im Englischen auch als Heart Land verstehen - den ich allen ans "Herz" legen möchte, die gerne übers Erwachsenwerden lesen, und denen, deren Ball noch hoch in der Luft fliegt.


Leserunde auf whatchaReadin
Vielen Dank an den Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.