Donnerstag, 6. August 2020

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

- ein Erzählband.


In den Geschichten thematisiert Schlink das Abschiednehmen, wie der Titel bereits vermuten lässt, allerdings geht es nicht nur um den Abschied von einer geliebten Person, sondern die Plots der Erzählungen und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, sind vielfältig und sehr unterschiedlich.

"Abschied muss sein; das Wissen, dass einer gestorben ist, bleibt beunruhigend, bis der Abschied ihn seine Ruhe finden lässt - und einen selbst." (7)

"Es hilft, beim Sterben dabei zu sein." (7)

Der Ich-Erzähler, Informatiker, der ein staatliches Institut in der ehemaligen DDR geleitet hat, führt in der ersten Geschichte "Künstliche Intelligenz" zunächst seine Gedanken zum Thema Abschied nehmen von Verstorbenen aus - die allgemeinen Gedanken bieten insofern einen perfekten Einstieg in den Erzählband. Von Menschen, die man nicht so oft treffe und mit denen man nicht mehr so oft zu tun habe, falle der Abschied schwerer, dazu zählt auch sein Freund Andreas, der ebenso wie er selbst als Informatiker am gleichen Institut gearbeitet hat. Stutzig gemacht haben mich die Gedanken zu Andreas Tod -

"(...) auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es, nur eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei." (10)

Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlink deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß eines Verrats auf, für den sich Andreas Freund rechtfertigt, indem er jegliche Schuld von sich weist und keine Reue zeigt.
Der Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - die Leser*innen werden das anders wahrnehmen.

Auch in der zweiten Geschichte "Picknick mit Anna" steht ein männlicher Ich-Erzähler im Vordergrund, und wie in der ersten thematisiert sie nicht nur den Abschied von einem Menschen, sondern auch die Schuld, die damit einhergeht. Ein ältere Herr hat nachts von seinem Fenster aus beobachtet hat, wie Anna zusammengeschlagen wurde und an den Folgen verstorben ist. Warum hat er die Polizei oder den Notarztwagen nicht informiert, obwohl er Anna gut gekannt hat. Langsam entwirrt sich das komplizierte Beziehungsgeflecht, das ihn mit der jungen Frau verbunden hat.

"Geschwistermusik" gehört neben "Der Sommer auf der Insel" und "Daniel, my Brother" zu den Geschichten, die mir am besten gefallen haben.

Sie offenbart ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen einem Jungen, Philip, der sich in seine Klassenkameradin verliebt, die - so seine Interpretation - ihn benutzt, damit ihr behinderter Bruder einen Freund hat. Jahre später trifft er sie wieder und muss erkennen, dass er sich von seiner Sicht der Geschichte verabschieden muss.

Im Sommer auf der Insel verabschiedet sich ein 11-jähriger Junge, der allein mit seiner Mutter im Jahr 1957 Urlaub macht, von seiner Kindheit und entdeckt die weibliche Sexualität. Aber auch die Mutter muss Abschied nehmen von einem alternativen Leben, einer Liebe, die nicht gelebt werden kann, ebenso wie in der Geschichte "Altersflecken" ein 70-Jähriger über die verpassten Gelegenheiten seines Lebens sinniert, während in "Jahrestag" eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau im Mittelpunkt steht. Er nimmt Abschied von dem Gedanken, ihr alles geben zu können.

Die Geschichte "Das Amulett" zeigt, wie eine von ihrem Mann verlassene Frau, loslassen muss, wie es ihr gelingt ihre Wut, aber auch ihre Trauer hinter sich zu lassen - eine sehr beeindruckende psychologische Studie.

Die persönlichste Geschichte ist "Daniel, my Brother", die autobiografischen Bezüge drängen sich auf, da der Ich-Erzähler Schriftsteller ist und Jura studiert hat. Der Ich-Erzähler verabschiedet sich von seinem Bruder, der gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord begangen hat, da sie schwer krank ist und er offenbar am Ende seiner Kräfte. Allmählich kommen die Erinnerungen.
"Sie stahlen sich schon in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein." (178)
Der Ich-Erzähler rekapituliert das Verhältnis zu seinem Bruder, stellt die positiven, aber auch negativen Seiten heraus, stolpert über einige Erinnerungen, hadert.
Der Trauerprozess ist sensibel und empathisch nachvollziehbar geschildert, ein Stück Prosa, das man immer wieder zur Hand nehmen möchte.

Nur eine Geschichte hat mich enttäuscht, und wie mir ging es einigen aus der Leserunde ebenso damit:
"Geliebte Tochter" fängt gut an, doch die Wende wirkt konstruiert, zudem hat sich uns nicht erschlossen, welche "Botschaft" Schlink mit dieser Geschichte vermitteln will. Allerdings stellt sich die Frage, ob immer eine Botschaft nötig ist ;) Auf jeden Fall laden die Erzählungen zum Diskutieren ein!

Insgesamt wunderbare Prosa, die nachhallt und die immer wieder gelesen werden kann, da sie sich durch authentische Figuren, eine plausible Handlung mit unerwarteten Wendungen und nicht zuletzt durch eine unprätentiöse Sprache auszeichnet. 

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Leseexemplar.