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Samstag, 5. November 2016
Bode Kirchhoff: Widerfahrnis
- Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016.
Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Erschienen: 1.September 2016
ISBN-13:978-3-627-00228-2
...keine übliche Rezension - Lese-Eindrücke
Es erscheint anmaßend als Buch-Bloggerin festzustellen, dass der Deutsche Buchpreis für diese Novelle gerechtfertigt ist, ich wage es trotzdem, denn dieses Buch hat mich wirklich begeistert. Dazu hat maßgeblich die Leserunde im Forum whatchareadin - das uns den Roman freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat - beigetragen, in der wir uns sehr intensiv über die Novelle ausgetauscht haben.
Der Inhalt ist schnell erzählt: Der ehemalige Verleger und Buchhändler Reither, der im südlichen Bayern in einer Wohnanlage lebt, macht sich mit Leonie Palm, der ehemaligen Besitzerin eines Hutladens, gemeinsam auf den Weg nach Süden - bis nach Sizilien. Es ist eine scheinbar spontane Reise, die sie mitten in der Nacht in einem 3er BMW Cabrio starten, nach einem kurzen Gespräch in Reithers Wohnung über einen Roman, nach dem dieser in der Leihbibliothek gegriffen hat.
Doch Leonie Palm trägt Ende April Sommerkleidung und Sandalen, als sie an seiner Wohnungstür klingelt und Julius Reither ist schnell bereit, mit ihr des Nachts zum Achensee zu fahren.
Es wird viel geraucht in dieser Novelle - das gemeinsame Ziehen an der Zigarette einerseits als verbindendes Element, andererseits um nicht reden zu müssen - die Stille zu überbrücken.
Für beide ist dieser Weg nach Süden eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit.
Reithers wichtigste Beziehung ist während eines Italien-Urlaubs zerbrochen, weil sie beide entschieden haben, einem zukünftigen gemeinsamen Kind kein Leben zu schenken.
Leonie Palms Ehe ist ebenfalls zerbrochen, ihre Tochter am Leben gescheitert. Darüber hat sie geschrieben, eben jenen Roman ohne Titel, den Reither genommen hat.
Und nie war sie in Italien und will es unbedingt sehen.
Zwei einsame Menschen, die kaum reden und von denen wir nicht viel mehr erfahren. Die Novelle ist ausschließlich aus der personalen Perspektive Reithers verfasst, nur an seinen Gedanken, Reflexionen und Erinnerungen haben wir als Leser/innen Anteil.
(...) Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist, sich an den Wein erinnert, nicht an das Glas, das zu Boden fiel." (S.84)
Auf ihrem Weg in den Süden werden sie mit diesen Splittern konfrontiert und nähern sich einander an. Dann tritt die Flüchtlingskrise in den Vordergrund. Erst sind es einzelne Anzeichen, dann ein kleines Mädchen, das in ihre Zweisamkeit tritt - und diese auflöst.
Kirchhoff hat in einem Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse darüber Folgendes erzählt:
Er selbst sei in Sizilien von einem Mädchen angesprochen worden und habe ihr Geld gegeben, sich dabei aber sehr unwohl gefühlt. Um die Situation zu verarbeiten, habe er beschlossen, darüber zu schreiben - das Privileg eines Schriftstellers - sich auf diesem Wege zu äußern.
Dem Protagonisten erlebt im wahrsten Sinne des Wortes ein Widerfahrnis - ein Ereignis, dem ein Mensch ausgesetzt ist, das ihn unvorbereitet trifft, ohne dass er etwas dafür kann und das ihn im Falle Reithers auch maßgeblich verändert.
Der Titel selbst wird in der Novelle "erklärt", als Reither Leonie fragt, wie sie ihren Roman nennen würde.
"Aber Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen." (S.159)
Im Forum ist sehr intensiv über die Figur Reithers diskutiert worden, er wirkt mit seiner alten Lederjacke und dem permanenten Rauchen wie ein Typ aus einem alten Agentenfilm - etwas anachronistisch. Spröde, unzugänglich, jemand, der seine Gefühle nicht zeigen will und kann, der sich über die Jahre eingeigelt hat - und der inzwischen Lebensentscheidungen bereut - wie die Abtreibung. Er bleibt unzugänglich, in einer Szene befremdet sein Verhalten regelrecht und man fragt sich, ob er wirklich so wenig sensibel ist. Aber im Nachklang dazu, öffnet er sich den Lesenden...
Leonie Palms Verhalten bleibt lange im Dunkeln, warum verreist sie mit diesem Typ. Vergangenheitsbewältigung, die Chance Italien zu sehen, eine neue Liebe?
Das Ende löst einen Teil dieser Fragen sehr überraschend und gelungen auf.
Die Begeisterung löst neben der Geschichte, die erzählt wird, die Sprache Kirchhoffs aus. Jedes Wort ist wohl überlegt, Sätze wie geschliffene Diamanten - diese Aussage hätte Reither als Verleger sicher gestrichen, denn mehrmals sinniert er darüber, ob er bestimmte Wendung hätte gelten lassen.
Reflexionen über die Sprache tauchen häufig auf:
"Mensch, Reither, die steht dir! Worte waren das wie herausgestemmt aus einem ganzen Packen ähnlicher Worte, einem Packen, der verklumpt, wenn man nicht auf ihn zurückgreift, wie unbenutzte Gelenke, und auch die paar Worte waren schon Arbeit, (...) " (S.76f.)
Das verleiht der Novelle eine Meta-Ebene, die sich auch auf das Erzählen selbst bezieht:
"Und mit der Zigarette im Mund holte Reither - genau an der Stelle hätte er den Namen eingeführt - eine Flasche von dem apulischen Roten (...)" (S.5)
"eben den Schlaf - die Stunden, die er überspringen müsste, wäre er der Erzähler seiner Geschichte." (S.73)
"Was hätte er von der folgenden Stunde, oder wie lange so eine Kassette läuft, erzählt?" (S.103)
Kirchhoffs Sprache ist etwas Besonderes, jedes Wort wirkt wohl gesetzt, überlegt und kein anderes hätte dort stehen dürfen. Mira hat es wunderbar ausgedrückt, seine Sprache sättigt - bei mir hat die Lektüre dazu geführt, dass ich einen Tag Pause machen musste, bevor ich mit dem nächsten Buch beginnen konnte.
Eine Novelle, die nachhallt und die ich allen Leser/innen der Gegenwartsliteratur ans Herz legen möchte.