Sonntag, 13. November 2016

Anthony Doerr: Memory Wall

- eine interessante Novelle über das, was uns ausmacht - unsere Erinnerungen.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 135 Seiten
Verlag: C.H.Beck
Erschienen am: 10.Februar 2016
ISBN13: 978-3406689611

Zwei Gründe haben mich bewogen diese Novelle zu lesen: Erstens habe ich "Alles Licht, das wir nicht sehen" als Hörbuch gehört und war begeistert.
Zweitens hat Anne Parden auf ihrem Blog eine so schöne Rezension geschrieben, dass ich diese Novelle unbedingt lesen wollte - und es hat sich gelohnt.

Inhalt
Der eigentlichen Novelle vorgeschaltet ist ein Zitat, das die Bedeutung unserer Erinnerung so prägnant zusammenfasst, dass ich es hier einfach wiedergebe:

"Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei´s nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nicht."
Luis Bunuel, Mein letzter Seufzer

Alma Konachek, die in Vredehoek, einem Vorort von Kapstadt, lebt, ist 74 Jahre alt und verliert ihre Gedächtnis. Sie ist dement und in einem verzweifelten Versuch, sich zu erinnern, hat sie sich eine Memory Wall erschaffen.

"Die Wand vor Alma hängt voller Zettel, Diagramme, Karten, abgerissener, vollgekritzelter Blätter. Und zwischen all dem Papier glänzen Hunderte Plastikkassetten, jede etwas groß wie ein Streichholzbriefchen (...)" (S.13)

Auf diesen Kassetten sind ihre Erinnerungen gespeichert - das ist inzwischen möglich dank Dr. Amnesty (!) in der Gedächtnisklinik.

"Die Wahrheit ist, dass sich die Basis alter Erinnerungen im extrazellulären Raum befindet. Hier in der Klinik zielen wir auf diese Räume, färben sie ein und schreiben sie in elektronische Modelle ein. In der Hoffnung, beschädigte Neuronen zu lehren, tauglichen Ersatz zu schaffen. Neue Wege zu bahnen. Sich an das Erinnern zu erinnern." (S.18f.)

Dazu hat Alma vier Ports in ihrem kahl rasierten Kopf, mit denen sich sich an einen Stimulator anschließen kann. Dieser wiederum spielt ihre Erinnerungskassetten ab, so kann sie diese immer wieder ansehen und erleben, wie die erste Liebesnacht mit ihrem Mann Harold, einem Fossilienforscher.
In dieser Novelle taucht neben Alma noch ein großer Mann, namens Roger, auf, der sich für Almas Erinnerungen interessiert. Dazu hat er den Waisen Luvo operieren und mit Ports ausstatten lassen, so dass dieser auch in der Lage ist, sich die Erinnerungskassetten Almas anzusehen. Roger ist auf der Suche nach einem bedeutenden Fossilienfund, den Harold kurz vor seinem Tod gemacht hat. Denn Roger hat Schulden und braucht dringend Geld.

Neben diesem Kriminellen und dem Jungen Luvo ist die Geschichte Phekos mit der Almas verwoben. Pheko ist schwarz und lebt als Witwer alleine mit seinem Sohn in einem "Ghetto" in sehr ärmlichen Verhältnisse. Trotz dem Ende der Apartheid hat sich an der Situation für die schwarze Bevölkerung anscheinend nichts geändert. Da Almas Gedächtnisverlust nicht mehr aufzuhalten scheint, beschließt ihr Vermögensverwalter das Haus zu verkaufen und sie in ein Pflegeheim zu geben - eigene Kinder hat sie nicht.
Für Pheko bedeutet das den Verlust seines Arbeitsplatzes, denn er ist Almas Hausdiener und das schon seit langer Zeit. Er versorgt sie und kümmert sich um sie. Ohne Arbeit kann er sich und seinen kleinen Jungen nicht über die Runden bringen - doch vielleicht kann Luvo die verloren gegangene Erinnerung über das bedeutsame Fossil finden und allen helfen.

Bewertung
Eine interessante Geschichte, in denen die Bedeutung unserer Erinnerungen wunderschön erzählt wird. Alma, die in ihren Erinnerungen als unsympathische Frau erscheint, wird in ihrer Vergesslichkeit zunehmend menschlicher, so dass man am Ende Mitleid mit ihr empfindet. Das, was wirklich berührt, ist Phekos verzweifelter Kampf um das "Leben" und das Bemühen, seinem Sohn eine bessere Zukunft zu eröffnen.
Die Ungerechtigkeit und der Rassismus dagegen machen wütend - in dieser nahen Zukunftsvision hat sich die Situation der Schwarzen eher verschlechtert - keinesfalls gebessert.
Lehrreich sind die Beschreibungen der Fossilien, für die Anthony Doerr wirklich eine ansteckende Begeisterung an den Tag legt - wie auch schon in seinem Roman, in dem die blinde Marie Laure diese ertastet und für die Lesenden erfahrbar gemacht hat.
Unklar ist für mich geblieben, woher Roger von dem Fund des Fossils weiß, vielleicht habe ich das aber auch überlesen.

Insgesamt ist die Novelle überzeugend und in der besonderen Sprache verfasst, die mich schon beim Hören des Romans so in den Bann gezogen hat.