Montag, 11. Oktober 2021

Eva Menasse: Dunkelblum

- ein Dorf, das

"Gott (…) zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle" (9)

Leserunde auf whatchaReadin

Eine dunkle Welt offenbart sich den Leser*innen zu Beginn des Romans. "Dunkelblum", der Name ist Programm, denn in dem Dorf im Burgenland, das ganz nahe an der ungarischen Grenze liegt, verbirgt sich ein Geheimnis aus der NS-Zeit.

"Das, was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch." (9)

Der Roman wartet mit einer Fülle von Figuren auf, die man erstmal überblicken muss:
Die Grafen und die alte Gräfin, die längst verschwunden sind, nachdem ihr Schloss zerstört und abgebrannt ist.

"Seit die Grafen ihre Gruft vier- und damit ihren Exodus besiegelt hatten, war die Zeit im Grunde stehengeblieben." (12)

Vor allem bei den Alten, die den Krieg noch mit erlebt haben, allen voran der Alt-Nazi Dr. Alois Ferbenz, der mit den Heuraffl-Brüdern, mit Bernecker, dem geflickten Schurl und dem jungen Graun jeden Tag im heruntergekommenen Hotel Tüffer trinkt, das die Reschen Resi von der jüdischen Familie übernommen hat, als diese den Ort verlassen musste.

"Die Geschichten des Ortes sedimentierten in der alten Frau Reschen wie in einer unzugänglichen Mine. Was sie aufnahm, blieb drin, es wurde dort handlich und glänzend und von ihr gelegentlich in Ruhe betrachtet." (164)

Da gibt es Antol Grün, den Greißler (=kleiner Lebensmittelhändler), der von Ängsten geplagt wird und der den Fremden, der seit kurzem im Hotel wohnt, überall Fragen stellt und Holzkästl mit sich führt, noch von früher kennt. Der Fremde will, dass die Toten bestattet werden können und die ewige Ruhe haben.
Welche Toten? Wer ist der Fremde? Woher kennt Antol ihn?

Während des Lesens werden zahlreiche Fragen aufgeworfen, unablässig stellt man Hypothesen auf, um sie zu verwerfen oder sie bestätigt zu sehen. Es ist ein sehr aktiver Leseprozess, der fordert, gleichzeitig aber auch einen Sog erzeugt, weil man hinter die Geheimnisse dieses Ortes und die der Menschen blicken möchte.
Mit dem Fremden trifft gleichzeitig Lowetz wieder in Dunkelblum ein, dessen Eltern gestorben sind und der entscheiden muss, was mit seinem Elternhaus geschieht. Seine Mutter ist von drüben, eine Ungarin, und das Haus liegt im alten Teil von Dunkelblum, das
"war eine Welt für sich, unübersichtlich, labyrinthisch, im Sommer lauschig und kühl. Man konnte ihn als unheimlich empfinden, wie einen traumhaften Irrgarten, imstande, einen zu verschlingen, aber eben so sehr als Zuflucht, wo niemand einen finden konnte, der nicht von hier war." (32)

Lowetz Haus steht neben dem von Fritz, der im Endkampf um Dunkelblum verletzt wurde, und dessen Mutter Agnes 1956 wahnsinnig geworden ist, vom „Ungeheuer“, das sich wieder regte. Und wieder erwacht der mörderische Lindwurm aus seinem Dornröschenschlaf, denn an der Grenze warten Menschen aus der DDR, die in den Westen wollen, im Sommer 1989.

Zudem arbeiten plötzlich junge Leute auf dem jüdischen Friedhof von Dunkelblum, dessen Existenz man gerne vergessen würden. Ein Störfaktor ist auch Flocke, die jüngste Tochter vom Malnitz, die auf einer Gemeinderatssitzung dem designierten, überforderten Bürgermeister Koreny vorschlägt ein Grenzmuseum zu eröffnen. Eine Rolle spielt der Reiseunternehmer Rehberg, der von Ferbenz Leuten in der Vergangenheit tyrannisiert wurde und an einer Ortschronik schreibt. Geholfen hat ihm dabei Lowetz Mutter, die plötzlich verstorben ist. Ein Zufall? Und wo sind die Unterlagen, die sie gesichtet hat?

Man hat das Gefühl alles hängt mit allem zusammen und wie ein Spinnennetz ziehen sich die Abhängigkeiten durch Dunkelblum. Auch die, die dieses Geflecht teilweise durchschauen oder etwas wissen wie die alte Graun bleiben stumm.

"Sie stimmte in das tosende Dunkelblumer Schweigen mit ein." (255) 
"Sie hatte sich damals nicht getraut. Sie wollte nicht die Einzige sein. Sie kannte die Machtverhältnisse, alle kannten sie." (249)

Eine mächtige Figur der Vergangenheit ist Horka, einst die rechte Hand des Dr. Ferbenz.
"Der Horka war der Schwarze Mann von Dunkelblum" (74), er steht stellvertretend dafür, dass die Verbrechen nach dem Kriegsende nicht abrupt geendet haben.

"Die bösen Nazis brachten weiterhin ungestört die guten Nazis um und alle möglichen anderen auch. Allein im ersten Jahr nach Kriegsende waren es mindestens drei Morde, der Radfahrer in den Weingärten, eine Schießerei an der Grenze, bei der offenbar ein missliebiger Zeuge umgebracht worden war." (250)

Die metaphorische Sprache, die Anspielungen, die geheimnisvollen Andeutungen, die düstere Atmosphäre verführen von Beginn an weiterzulesen und fast glaubt man, man habe einen Krimi vor sich. Doch Menasse geht es weniger darum, das Geheimnis dieses Ortes öffentlich aufzudecken, ein Ort, der tatsächlich an der ungarischen Grenze existiert und in der sich ein schreckliches Verbrechen zugetragen hat.
Ihr geht es um die Psychologie der Menschen, die bereit sind, dieses Geheimnis zu bewahren, die Machtstrukturen akzeptieren, es dulden und gutheißen, dass die Nazi-Schergen auch nach dem Krieg weiterhin ihr Unwesen treiben können und größtenteils unbehelligt bleiben.

"Dunkelblum" muss man zweimal lesen, um alle Bezüge und Hinweise zu entschlüsseln. Beeindruckend, wie Menasse alle Fäden in der Hand hält und mutig, letztlich nicht alles eindeutig aufzuklären und einige Fragen in der Schwebe zu lassen. So ist man als Leser*in selbst gefordert, die Leerstellen zu füllen.

Ein Roman, der einen so schnell nicht loslässt und den ich uneingeschränkt weiter empfehlen kann.