Donnerstag, 28. Oktober 2021

Franck Bouysse: Rauer Himmel

 - ein Roman Noir.

Leserunde auf watchaReadin

Das düstere Cover mit den zart von Schnee bedeckten Weinreben passt perfekt zur Stimmung im Roman, der in einer "gottverlassenen Ecke in den Cevennen" (7) spielt. "Einem Ort namens Les Doges, mit zwei Bauernhöfen, ein paar hundert Meter voneinander entfernt, weite Flächen mit Bergen, Wäldern und hier und da ein paar Wiesen mit einigen Monaten Schnee im Jahr und mit Felsgestein, auf dem das Ganze ruht." (7) 
Auf einem dieser Bauernhöfe wohnt der 50-jährige Einzelgänger und Außenseiter Gus, der sich nur widerwillig im Leben eingefunden hat, wie wir bzgl. seiner Geburt erfahren.
"Jedenfalls zögerten selbst die erbarmungsvollsten Seelen nicht, mit dem Finger auf diesen Fisch zu zeigen, der seit seiner Geburt gegen den Strom schwamm." (8)

Er hat es nicht leicht gehabt im Leben, von der Mutter gehasst, vom Vater verprügelt, von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt, nur von seiner Großmutter hat er Liebe erfahren. Zuneigung empfindet er zu seinem Hund Mars und mit seinem Nachbarn Abel, der 20 Jahre älter ist, verbindet ihn eine Art Männerfreundschaft, die vor allem in gegenseitiger Hilfe auf dem Hof besteht und im gemeinsamen Trinken.
"Abel und Gus´ Vater hätten eigentlich Leidensgenossen sein können, aber sie hatten sich nie gut verstanden. Sicher wegen eines ergebenen Geheimnisses, das alle anderen vergessen hatten, das sie aber zweifellos aus Famlientreue gehegt und gepflegt hatten. Alles Sturköpfe hier!" (26)

Doch die bisherige friedliche Koexistenz der beiden Männer wird gestört:
"Bisher hatte er (Gus) seine Tage wie Perlen auf einer Halskette aufgereiht, eine sah aus wie die andere; doch an diesem Tag im Januar 2006, genauer gesagt, am zweiundzwanzigsten, schickte er sich an, eine seltsame Perle aufzureihen, eine, die wirklich nicht wie alle anderen aussah.“ (11)

Zwei Ereignisse machen diesen Tag zu etwas Besonderem. Abbé Pierre, ein wohltätiger Abt, der in der Résistance gekämpft hat - eine historische Figur - stirbt.
"Gus hätte nicht sagen können, warum ihn die Nachricht derart aufwühlte. (...) Er wusste nicht warum, aber es war dennoch so, als ob der Abbé zu seiner Familie gehörte, und die war nicht sehr groß, seine Familie. Eigentlich hatte er gar keine mehr, wenn man einmal von Abel und Mars absah. Aber wer würde denn allen Ernstes behaupten, dass ein Nachbar und ein Hund eine echte Familie darstellen können?" (14)

Der Tod des Abbé löst Erinnerungen in Gus aus und an seinen Reflexionen erkennen wir als Leser*innen, dass er zwar ein Eigenbrötler ist, aber weder dumm noch einfältig. Jemand, mit dem man mitfühlt, was auch daran liegt, dass der Roman ausschließlich aus Gus Perspektive erzählt wird.
"Gus dachte, dass es wirklich ein seltsamer Tag war, mit all diesen Erinnerungen, die wie Krähenschwärme aus dem Neben auftauchten. Erinnerungen, bei denen man nie weiß, wohin sie gehen oder ob es überhaupt gut ist, sie zu haben, die aber zurückkommen und sich ohne Vorwarnung aufdrängen." (19)

Das 2.Ereignis geschieht, während Gus Drosseln jagt, Abel jedoch die gleiche Idee hat und offensichtlich von seinem Hof aus als Erster schießt.
"Er (Gus) zielte auf einen anderen Vogel. Gerade wollte er den Abzug betätigen, hatte aber auch dieses Mal keine Zeit mehr abzudrücken. Schrille Schreie begannen die Leere zu zerreißen, Schreie, die offensichtlich von der Stelle kamen, an der die Schüsse abgegeben worden waren, und die nichts mit dem Gesang einer Drossel zu tun hatten." (22)

Als Gus auf dem Hof Abels nachsieht, entdeckt einer einen frischen Blutfleck im Schnee und flieht völlig panisch nach Hause, doch er kann das Erlebte nicht vergessen.
"Die mit den Detonationen vermischten Schreie schwollen unter seiner Schädeldecke an, wie Kolloide aus Lehm, die sich an andere Partikel klebten und eine unaufhaltsame aufquellende Paste bildeten." (24)

Sein Verdacht richtet sich auf Abel, den er am nächsten Tag aufsucht. Erst am Ende des Romans kommt die ganze Wahrheit ans Licht, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll ;).

Die zitierten Textstellen offenbaren die außergewöhnliche Sprache, die mit ihren ungewöhnlichen Metaphern eine düstere Atmosphäre schafft und immer wieder zum Verweilen einlädt. Insgesamt ein sehr spannender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe, auch wenn es kein Krimi im üblichen Sinne ist. Gus ist weder ein Ermittler noch deckt ein anderer die "Schreie" und den Blutfleck auf. Die Auflösung des Ganzen ist mir persönlich etwas unwahrscheinlich erschienen - da laufen wirklich sehr viele Fäden zusammen, andererseits muss ich zugeben, hat der Autor vorher viele Brotkrumen gelegt, die uns als Leser*innen darauf hätten stoßen müssen. Und letztlich ist die "Auflösung" nicht so wichtig, denn die Atmosphäre und die Sprache überzeugen ebenso wie die Spannung bis zum Ende hin.
Besonders die Figur Gus, der als Kind Grausames erfahren und gesehen hat, wirkt authentisch und glaubwürdig, so dass ich eine klare Lese-Empfehlung aussprechen kann.

Vielen Dank dem Polar Verlag für das Lese-Exemplar.