Donnerstag, 4. November 2021

Colm Toíbín: Der Zauberer

 - ein Roman über das Leben Thomas Manns.

Leserunde auf whatchaReadin

"Am nächsten Morgen erzählte Klaus seiner Mutter beim Frühstück, sein Vater habe magische Kräfte und kenne die richtigen Worte, um ein Gespenst zu bannen.
"Papa ist ein Zauberer", sagte er.
"Er ist der Zauberer!", wiederholte Erika.
Anfangs nur ein Witz, oder ein Mittel, die Tischrunde aufzuheitern, blieb der neue Spitzname für ihren Vater haften. Erika forderte jeden Besuchen auf, ihren Vater, wie sie, mit diesem neuen Namen anzureden." (169)

Der Zauberer - Thomas Mann - ist eine der berühmtesten und bekanntesten deutschen Autoren, der für mich den bürgerlichen, kultivierten, distinguierten Schriftsteller wie kein anderer verkörpert. Unzählige Biographien, wissenschaftliche Arbeiten sind über Thomas Mann und sein Werk verfasst worden, und jetzt dieser Roman eines irischen Autors, der neben vielen Fakten auch Fiktion enthalten muss. Kennt man den Autoren Thomas Mann nach der Lektüre oder nur die fiktive Figur, die Toíbín erschaffen hat? Eine Problematik, die man über dem Lesen irgendwann vergisst, denn allzu flüssig und leicht liest sich die Lebensgeschichte dieses herausragenden Schriftstellers, den Toíbín einem breiten Publikum zugänglich machen will.

Die Handlung setzt im Jahr 1891 in Lübeck ein, Thomas ist 16 Jahre alt, gemeinsam wartet er mit seinem älteren Bruder Heinrich und mit den jüngeren Schwestern Lula und Carla auf die Mutter, während sein Brüderchen Viktor schläft. Im Haus des angesehenen Kaufmanns und Senator Mann findet eine Gesellschaft statt, auf der Julia Mann, aus Brasilien stammend, die Hauptfigur ist. Unwillkürlich fühlt man sich in Thomas Manns "Buddenbrooks" versetzt, der in seinem ersten Roman, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhalten hat, den Zerfall seiner eigenen Familie verarbeitet hat.

"Jahre später fragte sich Thomas, ob der Entschluss seines Vaters, statt der bärtigen Tochter eines der heimischen Schiffsmagnaten oder einer der alteingesessenen Kaufmanns- und Bankiersfamilien Julia da Silva-Bruns zu ehelichen, deren Mutter dem Vernehmen nach Blut südamerikanischer Indianer in ihren Adern hatte, nicht der Beginn des Verfalls der Manns gewesen war (...)" (10)

Und das ist eine der  Schwerpunkte des Romans, der immer wieder aufzeigt, dass Mann reale Ereignisse als Grundlage seiner Romane, Novellen und Erzählungen verwendet und literarisch verarbeitet hat. 

Doch zunächst erwartet der Vater, dass Thomas die Firma in nächste Jahrhundert führt, während der verträumte Heinrich früh eine Laufbahn als Dichter einschlagen will. Allerdings ist Thomas Interesse an der Firma nur geheuchelt, wie Heinrich erkennt.

"Ich habe dich während des Mittagessens dabei beobachtet, wie du den kleinen Geschäftsmann gegeben hast", sagte er zu Thomas. "Alle außer mir sind darauf hereingefallen. Wann wirst du ihnen endlich verraten, dass du nur Theater spielst?" (15)

Interessanterweise nimmt Toíbín dieses Motiv ganz am Ende wieder auf, nachdem Thomas Mann, der seinen Vater zu dessen Lebzeiten enttäuscht hat, inzwischen selbst ein bedeutender Mann ist.

"Sein eigener Vater wäre von ihm eingeschüchtert gewesen. Niemand allerdings wäre eingeschüchtert gewesen, der ihn dabei gesehen hätte, wie er allein im Waschraum der Notarkanzlei, mit seinem alternden Gesicht konfrontiert wurde. Er hätte sich vielmehr gewundert über die halb spöttischen Blicke, die er sich im Spiegel zuwarf, das flüchtige listige, wissende Grinsen, das über sein Gesicht huschte, als freute er sich diebisch darüber, dass er, wie sein Felix Krull, wieder einmal nicht "aufgeflogen" war."(544)

Das ganze Leben als Rolle in einem Schauspiel?

Damit weist Toíbín auf eine Facette der Persönlichkeit Thomas Manns hin, die dieser zeitlebens unterdrückt bzw. nicht ausgelebt hat: seine homosexuellen Neigungen, abgesehen von einigen (fiktiven?) Erfahrungen in seiner Jugend.

Sowohl sein Werk als auch seine Tagebuchaufzeichnungen, die größtenteils erhalten sind, sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache. Doch er hat sich für das Leben eines bürgerlichen Familienvaters entschieden und glaubt man Toíbín und dessen Quellen, führten Katia Pringsheim und Thomas Mann eine glückliche Ehe, die von gegenseitigem Respekt bestimmt gewesen ist. Und sie scheint seine Neigungen toleriert zu haben.

"Eingeschrieben in ihre stillschweigende Übereinkunft war die Klausel, dass, so wie Thomas nichts tun würde, was ihr häusliches Glück in Gefahr bringen könnte, Katia die Natur seiner Neigungen klaglos anerkennen, die Personen, an denen sein Blicke am liebsten haften blieben, nachsichtig und gutgelaunt zur Kenntnis nehmen und, wenn angebracht, ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen würde, Thomas in all seinen verschiedenen Manifestationen zu würdigen und zu schätzen." (134)

Als Familienvater scheint er weniger "erfolgreich" gewesen zu sein. Einzig zu seiner Tochter Elisabeth hatte er ein inniges Verhältnis, auch diese Facette des Menschen Thomas Mann stellt Toíbín gut dar.

Neben der Lebensgeschichte Manns und der Entstehungsgeschichte seiner Werke spiegelt der Roman zwangsläufig auch die politische Geschichte Deutschlands vom Ende des Kaiserreiches bis zum Beginn des geteilten Deutschlands wider. Vor allem mit seinem Bruder Heinrich führte er immer wieder politische Debatten über das Machtstreben Kaiser Wilhelms II und er befürwortet den 1.Weltkrieg. Die Passagen des Romans, die sich mit Manns langem Schweigen zur Nazi-Herrschaft auseinander setzen, seine Rolle im Exil, seine Radioansprachen an die deutsche Nation und seine Stellung in den USA nach dem Krieg gehören meines Erachtens zu den besten Passagen des über 500 Seiten langen Romans.

Ebenso interessant sind die Stellen, in denen uns der fiktive Thomas Mann Einblick in die Entstehung seiner Werke gibt und auch in seine Arbeitsweise, die sehr diszipliniert gewesen ist. Jeden Vormittag hat er geschrieben und durfte nicht gestört werden. Die literarischen Sujets mussten zu ihm kommen, entstammten oft seinem unmittelbaren Umfeld.

"Aus der Gegenwart werde ich nicht klug. Sie ist ein einziges Durcheinander. Und über die Zukunft weiß ich nichts." (310)

Insgesamt ein Roman, der einen Einblick in das Leben dieses großartigen Schriftstellers gewährt.

Indem er aus Thomas Mann personaler Perspektive erzählt wird, haben wir als Leser*innen das Gefühl direkt in seinen Kopf blicken zu können. Dabei werden die positiven Seiten Manns ebenso herausgestellt wie auch seine Schattenseiten.

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank an den Hanser Verlag für dieses auch optisch sehr schöne Leseexemplar.