Samstag, 13. November 2021

Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

"Manchmal geht es nicht anders" (80) 

Leserunde auf whatchaReadin

Im letzten Jahr habe ich Marco Balzanos Roman "Ich bleibe hier" gelesen, der mir sehr gut gefallen hat.

Umso höher die Erwartungen an den neuen Roman, der von der Rumänin Daniela Matei erzählt, die in ihrer ausweglosen Situation beschließt, ihre Familie zu verlassen, um in Italien als Pflegerin zu arbeiten. Zunächst ein befremdlicher Gedanke, Kinder und Ehemann im Stich zu lassen, doch Daniela hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht.

Im ersten Teil des Romans "Wo bist du" erzählt der inzwischen 16-jährige Sohn Danielas Manuel aus der Ich-Perspektive.

"Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen" (13), sagt seine Mutter zu ihm, denn Daniela hätte nach der Geburt ihrer ersten Tochter Angelica eigentlich keine Kinder mehr bekommen können. Umso mehr wird Manuel, der acht Jahre nach seiner Schwester auf die Welt kommt, zu ihrem Liebling.

"Angelica ist gut organisiert und alles andere als kleinlich. Sie drückt sich nie vor der Arbeit, im Gegenteil. Sie ist eine, die sich aufopfert. (...) sie zieht den Karren, bis sie zusammenbricht." (13f.)

Folglich ist es Angelica, die sich um Manuel kümmert, als Daniela ihre Familie ohne Abschied verlässt. Der Vater Filip Matei ist Arbeiter in einer Fabrik gewesen, die schon lange geschlossen ist. Auch Daniela hat ihre Arbeit verloren. "Seit einem Jahr schlugen wir uns mit den Schecks der Arbeitslosenversicherung durch." (18)

In einem Brief, den Daniela hinterlässt, erklärt sie ihren Kindern: "Ich muss fort, damit ihr studieren könnt und anständig zu essen bekommt. Denn ich möchte, dass ihr die gleichen Chancen habt wie die andern." (19)

Sie verspricht Geld zu schicken, was sie auch tut, und bittet Angelica, sich um ihren Vater und Bruder zu kümmern. Daniela glaubt nicht, dass Filip sich aus seiner Lethargie wird lösen können, um der Familie zu helfen. Obwohl Danielas Arbeit die finanzielle Situation der Familie verbessert, Angelica studieren und Manuel auf ein Privatgymnasium gehen kann, wäre es Manuel lieber, seine Mutter wäre bei ihm. Er ist wütend auf sie, weil sie aus der Ferne keinen echten Anteil an seinem Leben nehmen kann. Auch Filip verlässt die beiden Kinder, da er eine Anstellung als Lastwagenfahrer gefunden hat: "Minus zwei" (36), ist Manuels Kommentar. Einzig zu seinem Opa Mihai hat er ein inniges Verhältnis und liebt es, mit ihm im Garten zu arbeiten.

Im 2.Teil des Romans "Weit weg" kommt Daniela zu Wort und erzählt von ihren verschiedenen Arbeitsstellen in Italien, als Pflegerin und Kindermädchen, und davon, warum sie ihre Familie zurückgelassen hat.

Zu Filip sagt sie am Telefon: "Ich hab deine leeren Versprechungen satt, deine beschissenen Schwüre: Ich such mir eine Arbeit, ich streng mich an, ich hör auf zu trinken." (78)

"Manchmal geht es nicht anders", hatte sie im Bus gesagt. Dieser Satz nahm mir die Schuld." (80)

Das, was sie in Italien erwartet, ist harte Arbeit, eine Arbeit, für die sie eigentlich nicht ausgebildet ist. Sie muss bei den alten Menschen, die sie pflegt, wohnen, hat kaum Zeit für sich selbst. Oftmals ist sie am Rande ihrer Kräfte. Als sie nach Rumänien zurückkehrt, attestiert ihr ein Arzt die "Italienkrankheit".

"Damit bezeichnen Psychiater eine spezielle Form von Depression, die jene befällt, die jahrelang fern von zu Hause und den Kindern leben, um anderswo Alte, Bedürftige und Kranke zu versorgen." (155)

In diesem Teil wird deutlich, dass sich Balzano intensiv mit der Thematik befasst hat - er war auch in Rumänien, um sich selbst ein Bild von der Situation der Eurowaisen vor Ort zu machen. Seine Intention ist es, den rumänischen Pflegekräften und ihren Kindern eine Stimme zu geben, wie er im Nachwort betont. Es ist ihm wichtig alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, so dass folgerichtig im letzten Teil des Romans Angelica ihre Sicht der Ereignisse dargelegt.

Das Konzept, die Ereignisse aus drei Perspektiven zu erzählen, geht auf, denn
"Außerdem gibt es keine gemeinsamen Erinnerungen, jeder hat seine eigene und macht aus ihr, was er will." (230)
Bolzano hat für den Roman mit zahlreichen Frauen und ihren Kindern gesprochen, dadurch wirken die drei Figuren in sich stimmig und authentisch. Abgesehen von den Kindern, die Daniela in Italien betreut, vermeidet er Klischees und zeichnet ein differenziertes Bild der handelnden Personen.
Ein Roman, der mich nachdenklich gemacht hat und der dazu führt, dass ich die Frauen, die auch bei uns als Pflegerinnen eingesetzt werden, mit anderen Augen sehe. Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!