Samstag, 20. November 2021

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt

- aber kein verlorener, dessen Heimkehr erwünscht ist.

Leserunde auf whatchaReadin

Dies ist der 2. Roman Kent Harufs und spielt wie seine anderen auch in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado.

Im Gegensatz zu den anderen drei Romanen: "Lied der Weite", "Abendrot" und "Kostbare Tage" (3./4./5. Roman des Autors) gibt es nur einen Handlungsstrang. Es wird ausschließlich die Geschichte Jack Burdettes, "einem Sohn der Stadt" erzählt, aus der Sicht des Ich-Erzählers Pat, dessen eigene Lebensgeschichte mit der von Jack verknüpft ist.
Dass Pat, der Herausgeben der Wochenzeitung Holt Mercury, den er von seinem Vater übernommen hat, befugt ist, diese Geschichte zu erzählen, verkündet er den Leser*innen gleich zu Beginn: "Ich kannte Jack Burdette mein ganzes Leben lang." (26)

Doch bevor der Ich-Erzähler im Rückblick Jacks Kindheit und Jugend auffächert, wird im ersten Kapitel von der Rückkehr des Sohnes in die Stadt berichtet.
"Am Ende kehrte Jack Burdette doch wieder nach Holt zurück. Keiner von uns hatte mehr damit gerechnet. Er war acht Jahre fort gewesen, und in dieser Zeit hatte niemand in Holt etwas von ihm gehört." (9)
Mit dieser Aussage baut Haruf sofort Spannung auf: Warum kehrt Jack zurück? Warum hat er Holt verlassen? Warum rechnet keiner mit seiner Rückkehr?

Erste Hinweise werden gestreut. Der Sheriff, von dem aufgebrachten Besitzer des Geschäfts für Herrenbekleidung informiert, warnt Jack, der in seinem roten Cadillac unbeweglich an der Straßenseite parkt. „Wir regen uns immer noch ein bisschen auf, wenn jemand uns unrecht tut. Und sich anschließend einfach aus dem Staub macht.“ (22)

Was hat dieser Jack angestellt? Die Frage drängt sich umso mehr auf, als der Sheriff ihm "den Lauf (seiner Pistole) unvermittelt gegen das Ohr (schlägt)" (23)
Er lässt ihn aussteigen, liest ihm nicht einmal seine Rechte vor, und schlägt ihm in der Stille des Novemberabends, "es war immer noch diese ruhige Stunde in der Main Street, dieser kurze friedliche Augenblick, nichts bewegte sich, weit und breit war keine Menschenseele unterwegs“ (25), erneut mit der Pistole auf den Hinterkopf.
Dieser Kontrast zwischen Stille, Frieden und der plötzlichen Brutalität verdeutlicht, dass Jack etwas Unverzeihliches getan haben muss und dass die Ruhe Holts empfindlich gestört wurde und jetzt erneut empfindlich gestört wird. Ein unglaublich starker Einstieg, der zeigt, dass die Heimkehr des verlorenen Sohnes nicht freudig aufgenommen wird - anders als im Gleichnis.

Im Rückblick erfährt man, dass  Jack die erste Klasse wiederholen muss, allerdings wird er danach einfach jedes Jahr versetzt, weil kein Lehrer bzw. keine Lehrerin ihn länger als ein Jahr unterrichten möchte.
Auch seine familiäre Situation ist schwierig. "Es gab reichlich Spannungen in der Familie" (28), der Vater dominant, die Mutter verhärmt. Nach dem tragischen Tod des Vaters verlässt Jack seine Mutter und "quartierte sich im Hotel Letitia ein." (51)
Auf der High School retten ihn sein Footballtalent oder vielmehr seine Größe und Stärke, und vor allem Wanda Jo Evans, seine glühendste Verehrerin, die all seine Hausaufgaben und Schularbeiten für ihn erledigt. Jack schlägt aller Warnungen in den Wind und Pat glaubt, in Jacks Handeln ein Muster erkannt zu haben: "ein Muster, das eine plötzliche Entscheidung und eine überstürzt damit einhergehende Handlung mit sich brachte."(51)
Während er in der Highschool noch ein Footballstar gewesen ist,"ein lokales Phänomen" (53), ist er am College Boulder, das auch Pat besucht, nur einer von vielen.
Während Pat sich auf dem College wohlfühlen, gilt das nicht für Jack, denn er "hätte es nicht zugelassen, dass sich sein Horizont nennenswert erweiterte." (73) Ohne an dieser Stelle mehr zu verraten, scheitert Jack und kehrt zunächst nach Holt zurück, bevor er dann verschwindet, während Pat in Holt bleibt und  beteuert, dass er "diese Geschichte so wahrheitsgetreu wie nur möglich zu erzählen. Aus meinen eigenen Gründen." (86) Also ist er irgendwie darin verwickelt. 

Haruf gelingt es meisterhaft, eine Stimmung in wenigen Sätzen und Beschreibungen heraufzubeschwören.  Sofort ist man als Leser*in Teil der Situation, die er in unserem Kopf mit Worten entstehen lässt. Mit feiner Ironie nimmt er das Verhalten der Holtener aufs Korn, ohne sie zu verurteilen oder bloßzustellen, und bewirkt so, dass man eigenes Verhalten hinterfragt. Ein Roman, der zum Diskutieren und Nachdenken einlädt.

Interessanterweise bezeichnet der Verlag den Roman, als solchen habe ich ihn gelesen, als Parabel.
Parabeln haben neben der Bildebene, also das, was wir lesen (die Geschichte Jack Burdettes), immer auch eine Gedankenebene oder Sachebene, also eine Lehre, die wir auf unser eigenes Leben beziehen sollen.
Die Frage, die sich mir gestellt hat: Welche Lehre will uns Haruf vermitteln? Dass wir gegen narzisstische, brutale Menschen letztlich verlieren müssen? Dass jemand, der seinen Willen unbedingt durchsetzen will und vor keinem Mittel zurückschreckt, den Sieg davonträgt? Das ist wenig aufbauend, auch wenn es allzu oft der Wahrheit entspricht. Vielleicht Parabel insofern, dass das Verhalten der Holtener ein Spiegel für eigenes Verhalten sein kann. Die Bezeichnung "Novelle" finde ich jedoch zutreffender - es wird ein außerordentliches Ereignis erzählt, das spannend, fast wie ein klassisches Drama aufgebaut ist.
Aber letztlich ist es für den Lesegenuss und wahrscheinlich auch für den 2014 verstorbenen Autor unerheblich, wie wir den Text bezeichnen ;)

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Leseexemplar und ich hoffe inständig, dass auch der 1.Roman Harufs noch übersetzt wird.