Dienstag, 8. Juni 2021

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

- eine Wiederentdeckung.

Leserunde auf whatchaReadin

In zwei aufeinander folgenden Nächten vertraut die ca. 40jährige Heleen, die in einer Nervenklinik liegt, der Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. Die Geschichte spielt in den Niederlanden zu Beginn des 20.Jahrhunderts.
Der Roman ist vollständig als Monolog der Ich-Erzählerin konzipiert, die Reaktionen der Nachtschwester erfahren wir lediglich aus ihren Kommentaren.

"Nein, bitte, legen Sie die Näharbeit nicht weg. Lassen Sie mich bitte noch ein bisschen bei Ihnen sitzen, bringen Sie micht nicht ins Bett." (33)

Dadurch, dass Heleen durchgängig erzählt, ist die Beichte sehr intensiv und komprimiert. Beim Lesen entsteht ein Sog, der die Leser*innen in diese außergewöhnliche Lebensgeschichte hineinzieht. Die Fragen, die im Raum stehen, sind:

Warum ist Heleen in der Nervenklinik? Was hat sie zu beichten? Ist sie wirklich psychisch krank? 

"Ich war die Älteste und habe erlebt, wie das Haus voll wurde." (23)

Neun Geschwister hat sie und muss nach 6 Jahren die Schule verlassen, um zum Einkommen des Haushalts beizutragen, nachdem ihr Vater bei einem Unfall ans Bett gefesselt ist. Damit erfüllt sich letztlich ein Traum für sie, dann bereits als Kind läuft sie einmal von zu Hause weg, da sie  in die Welt hinaus gehen will.

Sie erhält eine Anstellung in dem Schneideratelier einer Französin und ist sich trotz ihrer 13 Jahre bewusst, "dass [sie] große braune Augen hatte, das Weiß bläulich wie Porzellan, und [ihre] Haare waren schwarz, ganz glatt und glänzend." (45)

Täglich betrachtet sie sich im Spiegel, dem sie gegenüber sitzt und stellt sich vor, sie trage die wunderschönen, kostbaren Kleider, an denen sie arbeitet. Als sie zu ihrem 15.Geburtstag von den anderen Angestellten ein braunes Kleid aus Baumwollsamt erhält, verschwindet das Spiegelmädchen. Sie erkennt, dass sie "ärmlich gekleidet" (48) ist und damit möchte sie, die sich nach Schönheit sehnt, und alles, was sie stört und irritiert, "hässlich" nennt, nicht abfinden.

Heleen nutzt die Bekanntschaft eines Handelsvertreters für Stoffe, um einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Dafür muss sie gegen den Willen ihres Vaters, der sie verdammt, ihr Elternhaus verlassen. Die Antwort ihrer Mutter zeigt, wie schwierig es für Frauen in dieser Zeit gewesen ist, einen eigenen, selbstbestimmten Weg einzuschlagen.

"Sie sagte nur, sie habe lebenslang ihre Pflicht getan. Und sich an die Gebote gehalten. Und auch auf ihrem Leben habe kein Segen gelegen." (83)

Heleen muss die ganze Nacht - und auch noch eine weitere, reden, sonst "werde [sie] vollkommen verrückt." (94)

Diese Beichte ermöglicht ihr, das Furchtbare, das sie getan hat, zu begreifen. Der Monolog gleicht einer intensiven Psychoanalyse, lässt die Gefühle und Erkenntnisse aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche steigen. In der 2.Nacht werden die Reaktionen der Nachtschwester kaum noch kommentiert, der Drang, sich alles von der Seele zu reden, wird größer. Was sie getan und erlebt hat, zeigt, dass sie, die selbst wenig Liebe erfahren hat, kaum Selbstvertrauen hat und sich fast ausschließlich über ihre Schönheit definiert. Ihre Angst, den Menschen, den sie über alles liebt, zu verlieren, weil sie älter wird, ist unerträglich für sie und führt letztlich zu einer Katastrophe.

Ein Roman, der aufgrund der Erzählweise einen Sog entfaltet, dem ich mich kaum entziehen konnte. Sehr intensiv erlebt man die Lebensgeschichte dieser aufstrebenden jungen Frau mit, die aus der Unterschicht kommend, aufsteigt, um zu fallen.

Ein Roman, dem ich viele Leser*innen wünsche!