"Standbild, dann Rücklauf."
Leserunde auf whatchaReadin
Die Künstlerin Eve Laing wandelt durch das nächtliche London und besucht um die Weihnachtszeit das Haus, in dem sie noch vor neuen Monaten mit ihrem Mann Kristof, einem erfolgreichen Architekten, gelebt hat. Die 60-Jährige hat ihn jedoch für einen Jüngeren verlassen und reflektiert in dieser einen Nacht, in der die Geschichte spielt, über ihr Leben."Es dauerte ein ganzes Leben, um es aufzubauen, und nur eine Sekunde, um es zu zerstören. Familienleben. Das ging als Erstes flöten. Dann die Würde, und mit ihr der gute Ruf. Alles andere folgte in dem Strudel. Nur ihre Arbeit ist geblieben. Der Junge fing ihren Blick ein und hielt ihn fest. Standbild, dann Rücklauf." (11)
Bereits zu Beginn des Romans wird Eves derzeitige Situation beschrieben, doch wie es dazu gekommen ist und was die einzelnen Aussagen bedeuten, entfaltet sich, während sie selbst durch London läuft und immer wieder innehält (Standbild) und in Rückblicken (Rücklauf) an das zurückdenkt, was sie an diesen Punkt geführt hat, in dem sie gezwungen ist, loszulassen.
Erzählt wird ausschließlich aus ihrer Sicht, allerdings in der Sie-Form, so dass die Distanz gewahrt bleibt, die auch dadurch entsteht, dass Eve sich als recht unsympathische Figur präsentiert. Gemeinsam mit zwei "Freundinnen", Mara und Wanda, hat sie in London die Kunstakademie besucht und anschließend Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre in New York gelebt. Den Begriff "Freundinnen" müsste man allerdings ersetzen durch "Feindinnen". Das, was sich die drei gegenseitig aus Missgunst und Neid angetan, haben, ist bitterböse.
Eves Gedanken kreisen
1. Um ihre Tochter Nancy
"Was erwartete ihre Tochter denn, dieses liberale Dummchen mit ihrer Glutenunverträglichkeit und ihrer Schwachsinnstoleranz?" (63)
- von der sie enttäuscht ist, die sie verachtet und mit der sie den Kontakt abgebrochen hat.
2. Um ihre Beziehung zu Florian Kis
Bekannt wurde Eve durch ein Porträt "Mädchen mit Blume", das der angesagte Künstler und ihr Lehrer Florian Kis von ihr gemalt hat und das sie in einer unterwürfigen Pose, nackt zu den Füßen des Malers zeigt. Dass er sie sexuell ausgenutzt und als dessen Muse galt, nagt immer noch an ihr.
"Und was war mit Florian Kis? Nun ja, daran arbeitete sie sich heute noch ab." (45)
"Nachdem sie sich endgültig von Florian losgeeist hatte, taumelte sie von einem Abenteuer, zuweilen auch einem Missgeschick ins nächste, doch damals gab es in Eves Liebesleben keine langen Schatten." (53).
3. Um ihre eigene Kunst und damit verwoben ihre Konkurrenz zu Wanda Wilson
Nur die "Blütenschatten" interessieren sie, denn als Künstlerin hat sie sich einen Namen durch ihr Werk "Underground Florilegium" gemacht.
"Darin hatte sie auf Harry Becks klassischer Tube-Map aus den 1030er Jahren die Namen der Stationen mit ihren botanischen Bildern ersetzt." (31)
Allerdings glaubt sie ihre "florale" Kunst erfahre nicht die notwendige Wertschätzung und der Neid auf die inzwischen erfolgreiche Performance-Künstlerin Wanda, die ihr Elend theatralisch zu inszenieren versteht, frisst sie auf. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die Eve Wanda attestiert, trifft ebenso auf sie selbst zu.
Alles muss sich um sie und ihre Kunst drehen, so ist sie geschmeichelt, dass ihr neuester Assistent Luka, der 30 Jahre jünger ist als sie, sich ernsthaft für sie zu interessieren scheint.
4. Um Luka und ihre Arbeit am Poison Florilegium
Die zynische Eve lässt sich mit Haut und Haaren auf diesen jungen Mann ein, der es vermag ihre Leidenschaft neu zu entfachen und ihre Arbeit zu beflügeln.
Die jüngste Vergangenheit nimmt den größten Raum des Romans ein und dieser Teil der Geschichte entfaltet trotz der akribischen Beschreibung der Arbeitsweise der Künstlerin einen Sog, dem man nur schwerlich widerstehen kann und gipfelt in einem furiosen Finale.
Zu Beginn erscheint die Sprache Eves manieriert, wie eine der Mitleserinnen der Leserunde es treffend beschrieben hat, doch ist dies nur ein Stilmittel, das Eve treffend charakterisiert. Teilweise ist die dezidierte Beschreibung der künstlerischen Arbeit etwas langatmig, doch die sich steigernde Geschichte um Eve und Luka überwiegt eindeutig - und der Schluss ist wirklich genial, der die Bemerkung auf dem Buchrücken, Eve sei kein zartes Pflänzchen, sondern eine kompromisslose Künstlerin, die ihre Passion über alles stelle, eindrucksvoll bestätigt.
Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für diesen empfehlenswerten Roman!