Donnerstag, 3. September 2020

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

ein Roman?


Leserunde Whatchareadin

Diese Frage haben wir uns in der Leserunde gestellt, nachdem wir die ersten Kapitel gelesen haben. Es scheint so, als sei die Verbindung zwischen diesen nur die kleine Stadt Hollyhock im ländlichen Virginia.

Zunächst erwartet die Leser*innen in jedem Kapitel eine eigene Geschichte, ein bedeutender Ausschnitt aus dem Leben einer Figur aus der Stadt Hollyhock.
In Retter steht Robert im Vordergrund, der mit seiner Frau ein Arrangement hat, „sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.“(9)

Während seine Frau mit ihrem Arbeitskollegen Liam schläft, leidet Robert an dieser Vereinbarung, hat keine Lust, mit einer anderen zu schlafen - bis er im Zug auf die mittellose Julie trifft, der er aus der Klemme hilft. Am Ende der Geschichte bleibt offen, ob die beiden zusammen bleiben werden und es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob dies im Verlauf der Handlung aufgelöst wird.

Im 2.Kapitel muss die Maklerin Susan erfahren, dass sich ihr derzeitiger Lebensgefährte einer anderen Frau öffnet. Ist sie nur Gast in ihrem Leben? Als sie einer Familie ein Haus zeigt, wird ihr bewusst, was ihr fehlt. Auch Robert taucht als Randfigur auf - nur lose Fäden zwischen den Geschichten?

In Verbündete eröffnet Aikos Mutter Nomi, eine Japanerin, dass sie ihren Mann bzw. Aikos Vater Saul verlassen will, um nach Japan zurückzukehren. Aiko wird von der Tochter zur Verbündeten der Mutter, während sie sich jahrelang eher als Verbündete des Vaters gefühlt hat. Während Aiko sich von der Mutter bewertet fühlt, aber als Verbündete akzeptiert, wünscht sie sich, so geliebt zu werden, wie ihre Mutter ihren Bruder Kenji (Protagonist der 4.Geschichte) liebt. Und ausgerechnet der Mann, der sie an Kenji erinnert, lässt sie fallen. Die Sehnsucht nach Nähe und Liebe bleibt unerfüllt - ein Motiv, das immer wieder kehrt.
Auch Kenji hat seine große Liebe Lucy verloren, da sie mit seinem besten Freund aus Kindertagen weggegangen ist - das ist seine subjektive Wahrheit. Glücklicherweise kommen auch noch Lucy und Basil selbst zu Wort und es kristallisiert sich heraus, dass die Wahrheit vielschichtig ist.

Kenji, ein Schriftsteller, der einen mäßig erfolgreichen Erzählband herausgegeben hat, über den Basil sagt, er sei
"eine nur unzulänglich veränderte Variation von Hollyhock, zwei oder drei vollkommen unwichtige Mitschülerinnen, Kenjis Eltern natürlich - auch sie verändert, aber doch in manchem ähnlich-, eine Frau, die offen bar eine idealisierte Version von Lucy war" (271)

Fast scheint es, als habe die Autorin ihren eigenen Roman beschrieben. Kenji kristallisiert sich als der eigentliche Protagonist, da er die meisten Bezüge zu den anderen Figuren hat, aus deren personaler Perspektive wir jeweils einen "Splitter" ihres Lebens ansehen dürfen.
Am Ende des Romans fügen sich einige dieser Splitter zusammen, einiges wird nur angedeutet, der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Was bleibt, sind kleine Ausschnitte aus dem Leben von Menschen, die auf der Suche nach dem Glück sind, dieses "entsetzlichen Glücks". Neben vielen traurigen Geschichten und tragischen Situationen scheinen immer wieder diese Momente auf, in denen alles vollkommen ist und die mich als Leser*in berührt haben.

In Lucys Geschichte entdeckt diese eine 90jährige Malerin, zu der es ein reales Vorbild gibt. Über deren Bilder sagt Lucy:
"Sie sind so schlicht und doch nie so schlicht, wie man am Anfang meint. Sie sind nicht gemalt, um jemanden zu beeindrucken, sondern einfach Ausdruck einer Wahrnehmung." (215)

Besser könnte man Mingels Roman nicht beschreiben!

Ich möchte mich herzlich beim Penguin-Verlag für das Leseexemplar bedanken und hoffe, dass der Roman noch viele Leser*innen findet, die ebenso begeistert sind, wie ich es bin.