Sonntag, 16. Januar 2022

Damon Galgut: Das Versprechen

Booker Prize 2021

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman spielt in Südafrika und die Handlung setzt im Jahr 1986 ein, in der Zeit, in der es allmählich zu einer Wende in der Apartheidspolitik kommt.
Doch auf der Farm, zu der die 14-jährige Amor, weil ihrer Mutter nach längerer Krankheit gestorben ist, zurückkehrt, sind die Schwarzen "offenkundig unsichtbar. Und auch was Salome empfindet, ist unsichtbar. (...) Aber Amor kann sie durchs Fenster sehen, also ist sie wohl doch nicht unsichtbar." (31)
Salome arbeitet seit Jahren für die Familie, hat die drei Kinder Anton, Astrid und Amor großgezogen und wohnt in einem windschiefen Haus, dem Lombard-Haus. Amor erinnert sich, während sie Salome im Zimmer ihrer Mutter Rachel sieht, daran, dass diese kurz vor ihrem Tod ihrem Mann Manie das Versprechen abgenommen hat, dass Salome das Haus erhalten soll - etwas, was rechtlich zu dieser Zeit noch nicht möglich ist.
Und doch erzählt Amor Lukas, Salomes Sohn davon und erinnert auch ihren Vater an "Das Versprechen".

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels ("Ma") steht die Beerdigung Rachels, die zu ihrem jüdischen Glauben zurückgekehrt ist, worüber es in der christlichen Familie des Vaters Streit gibt.

Im Verlauf der Handlung begegnen wir der Familie Swart jeweils im Abstand von ca. zehn Jahren, das letzte Kapitel spielt im Jahr 2018. Anlass ist jeweils eine Beerdigung - so viel sei hier verraten. Neben Amor stehen vor allem ihr älterer Bruder Anton im Fokus sowie ihre Schwester Astrid. Von Amor selbst hätte ich gern mehr gelesen. Sie wird zu einer aufopferungsvollen Krankenschwester, die, so scheint es, eine Opferrolle einnimmt, jedoch zu schwach ist, um selbst aktiv gegen das Unrecht anzukämpfen.

Galgut erzählt vom Niedergang einer Familie, die stellvertretend für die weiße Gesellschaft Südafrikas steht. Beladen mit Schuld gegenüber denjenigen, die sie ausgebeutet haben, unfähig, sich mit den neuen Gegebenheiten zu versöhnen und Unrecht wieder gutzumachen.
Die Handlung bleibt jedoch bruchstückhaft, vieles wird angedeutet, Fäden aufgenommen, aber nicht zu Ende gesponnen, so dass man als Leser:in permanent die Lücken füllen muss. Trotzdem entfaltet die Erzählweise einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.
Und das ist auch das Außergewöhnlichste an diesem Roman:

die Erzählstimme,
- die permanent in die Gedanken der unterschiedlichen Figuren schlüpft
"Amor will aber keine rusks. Sie hat keinen Appetit. Tante Marina backt ständig irgendwelche Sachen und will einen damit füttern. Ihre Schwester Astrid sagt, das macht sie nur, damit sie nicht als Einzige so fett ist, und es stimmt, ihre Tante hat zwei Kochbücher mit Teatime-Leckereien veröffentlicht, die bei einer bestimmten Sorte älterer weißer Frauen recht beliebt sind, wie man allenthalben deutlich sieht.
Naja, sinniert Tante Marina, wenigstens kann man mit der Kleinen vernünftig sprechen." (14)

- die auch Geister und Tiere berücksichtigt:
"Tojo, der Schäferhund, beobachtet ihr Kommen und Gehen (Rachels Geist) ohne Mühe, denn er hat nie gerne, dass das nicht möglich ist." (60)

- von für das Geschehen unbedeutender Nebenfiguren erzählt, z.B. von Bob, einem Obdachlosen, der vor einer katholischen Kirche lebt.
"Ich kann es dir nicht beweisen, aber er hatte einmal einen hochgezahlten Job und eine Existenz, die Achtung und Respekt verlangte." (252)
Wir begleiten Bob drei Seiten lang, "doch es gibt keinen Grund, ihn zu begleiten, und seien wir ehrlich es hat nie einen gegeben." (255)

Die Erzählstimme macht uns mit Ironie und Sarkasmus darauf aufmerksam, dass auch Menschen wie Bob gesehen werden wollen, ebenso wie jene, die vor den Beerdigungen die Leichen herrichten und diejenigen, die sich nach der Trauerfeier um sie kümmern.
Galgut stellt uns die Welt in ihrer Diversität vor - auch die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen haben ihren Platz, indem diverse Priester und auch ein Yogalehrer zu Wort kommen.
Auch in skurrilen Situationen von denen man üblicherweise in Romanen nichts liest:
"Seltsam, dass die Leute kaum je über ihre Notdurft spreche, obwohl sie nämliche doch tagtäglich verrichten. Das Gehirn würde sie am liebsten ausblenden, trotz der Grundwahrheiten, die dann unten geäußert werden. Keine Romanfigur tut je, was er (der katholische Priester Timothy Batty) jetzt tut, sprich die Hinterbacken spreizen, um sich seiner Drangsal leichter entledigen zu können." (251)

Interessanterweise beschreibt Galgut am Ende seinen eigenen Roman implizit, indem er uns Antons Roman vorstellt, den dieser auf der Farm geschrieben hat.
"Namen und Details ändern sich von einem Absatz zum anderen (...) Ist das eine Familiensaga oder ein Farmroman? (...) Die verschiedenen Lebensphasen des Mannes, erzählt im Abstand von jeweils ungefähr 10 Jahre, sollen seine Entwicklung zum erwachsenen Mann nachzeichnen." (S.347)

Will Galgut die Geschichte Antons erzählen? Ist der Roman eine Familiensaga im Spiegel der politischen Entwicklung in Südafrika von 1986 bis heute, wobei wir die Familie immer nur anlässlich einer Beerdigung begleiten. Will er von den tiefen Gräben in der südafrikanischen Geschichte erzählen? Von verlorenen Träumen und verpfuschtem Leben? Ein Kaleidoskop aus allem, wobei die Leser:innen gefordert sind, sich die einzelnen Teile selbst zusammenzusuchen. 

Für mich ein Lesehighlight, ein ungewöhnlicher Roman, den ich nicht nur wegen der besonderen Erzählweise gerne weiter empfehlen möchte.