Samstag, 21. Mai 2022

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Leserunde auf whatchaReadin

Die Frage, ob man dieses Buch als Roman bezeichnen könne, wurde in der Leserunde zunächst diskutiert. Im Anhang erklärt der Autor, dass die Geschichte auf "historischen Fakten und einer ausführlichen Dokumentation, ergänzt durch die Fantasie des Autors" (467) basiert. Also doch ein Roman, der die Biographie des flämischen Kollaborateurs und SS-Mannes Willem Verhulst mit der Lebensgeschichte des Autors verknüpft.

Die Verbindung besteht in einem Haus im Genter Stadtviertel Patershol, in dem der Autor 20 Jahre gelebt hat und das auch der Wohnsitz Willem Verhulsts gewesen ist. Stefan Hertmans schildert zunächst sehr lebhaft, wie der das verwunschene Haus im Spätsommer 1979 entdeckt hat.

"Um die verrosteten Gitterstäbe eines der Zäune wanden sich die dicken, fast schwarzen Äste eines Blauregens. Schwer von Staub hingen späte Blütentrauben herab, dennoch rührte mich ihr Duft - er führte mich zurück in den verwilderten Garten meiner Kindheit;" (8)

Er kontaktiert den Notar De Potter, Besitzer des Hauses, und besichtigt das heruntergekommene Haus und kauft es aus einem Impuls heraus. Anfang des neuen Jahrtausend, als er das Haus gerade wieder verkauft hat, fällt ihm dann das Buch seines ehemaligen Geschichtsprofessors Adrian Verhulst in die Hände: "Sohn eines >>falschen<< Flamen". Bevor er den Professor besuchen kann, stirbt dieser, worauf sich Hertmans vornimmt, "nicht die Geschichte eines SS-Mannes (zu) erzählen; solche Geschichten gibt es ohnehin zuhauf. Ich werde die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen." (12)

Zu Beginn weicht er jedoch von diesem Vorsatz ab und schildert zunächst die Kindheit Willems, erzählt von seiner ersten Ehe mit einer jüdischen Frau, die für ihn ihren Ehemann verlassen hat. Nach deren Tod gründet er eine 2.Familie. Wir erfahren auch, dass er ein Frauenheld und seine politische Gesinnung zunächst sehr wechselhaft ist. Geprägt hat ihn der flämisch-wallonische Konflikt und dessen Politisierung nach dem 1.Weltkrieg. Daraus resultiert auch, dass er als patriotischer Flame mit den Deutschen, die Belgien im 2.Weltkrieg besetzt haben, kollaboriert.
Seine Frau Mientje hingegen erscheint als friedliebend und freundlich. Zudem ist sie eine gläubige Protestantin, die sich dem Haushalt und dem Aufziehen der drei Kinder Adrian, Letta und Suzy widmet. Sie ist die stille Heldin, die heimlich Widerstand übt.
Ab dem zweiten Teil des Romans wechseln die Szenen, in denen der Autor das Haus besichtigt, mit denen aus der Vergangenheit ab. Sehr interessant, wie sich der Autor auf Spurensuche begibt und z.B. den Ort in Deutschland aufsucht, an dem die Kinder Verhulst den Sommer 1942 verbracht haben. Es wird immer deutlicher, dass er seine Biografie auf viele Quellen stützt, auf Interviews mit den beiden noch lebenden Töchtern und den Hinterlassenschaften der Familie: „die Tagebücher der Mutter, ihre eigene (Lettas) Lebensgeschichte, ein Heft mit einem Läufer, auf dessen Umschlag in der väterlichen Handschrift Wils Kindheit und Jugend geschrieben steht.“ (157)

Der Autor erklärt auch implizit seine Vorgehensweise:
„Symphonein bedeutet zusammenklingen, gemeinsam einen Klang hervorbringen, dessen komplexes Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile.“ (157)

Sein Bestreben ist es, aus den verschiedenen Quellen die Lebensgeschichte Willem Verhulst und seiner Familie zusammenzusetzen, so dass ein Bild jenes Mannes entsteht, der als SS-Mann viele Menschen verraten, seine Taten jedoch niemals bereut hat, und das seiner Familie, die sich zunehmend um Distanzierung bemüht. Gleichzeitig wird auch die Geschichte des Drongenhofer Haus erzählt, in dem Mientje Menschen versteckt hat, auch Kollaborateure, und das auf den Autor eine besondere Faszination ausübt. Auch der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen wird thematisiert, ein Thema, das in Belgien sicherlich größere Aufmerksamkeit erlangt als in Deutschland.

Insgesamt eine interessanter Roman mit dokumentarischem Charakter, da er eine Vielzahl an Bildmaterial bietet und Zitate der Kinder und Enkelkinder eingeflochten sind. Trotz einiger Längen lesenswert.