Samstag, 4. Juni 2022

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet

ein Roman in vier Erzählungen.

Leserunde auf whatchaReadin

"So tun, als ob es regnet" bedeutet im Rumänischen, dass man zwar körperlich anwesend ist, sich aber ganz den Gedanken hingibt, sich "ganz aus der Zeit und diesem Raum" (77) stiehlt.

Diese Eigenschaft zeichnet alle vier Protagonist:innen der vier Erzählungen, die miteinander verbunden sind, aus.

Die erste Erzählung "Budapest?" spielt im 1.Weltkrieg und den deutschen Soldaten Jacob verschlägt es nach Siebenbürgen, wo viele Deutschsprachige gelebt haben und das im Herzen Rumäniens liegt. Inmitten der Sinnlosigkeit des Krieges lernt Jacob Alma kennen, eine verheiratete Frau mit drei Töchtern, und verliebt sich in sie, während ihn aus der Heimat schlimme Nachrichten erreichen.

Ihre kurze, heimliche Begegnung begründet eine Familiengeschichte, die sich über die nächsten drei Erzählungen erstreckt. Henriette - Vicco - Hedda verbindet die Suche nach dem Glück angesichts der politischen Umstände in ihrem Land, ihrer persönlichen Lebens- und Familiengeschichte.

Henriettes Geschichte spielt 1933, bevor Siebenbürgen von den Deutschen besetzt wurde. Die geheimnisvolle Begegnung mit einer Fremden wirft viele Fragen auf, die in unserer Leserunde für Spekulationen gesorgt hat. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Zitate, die jeder Erzählung vorangestellt sind und die sozusagen den Kern jeder Geschichte enthalten und einen Hinweis auf die Bedeutung der Fremden geben.

Die dritte Erzählung spielt im jungen Ceausescu Regime. Während die Amerikaner auf dem Mond landen, wird die Freiheit im kommunistischen System mit Füßen getreten und Gegner willkürlich verhaftet. In wenigen Sätzen fächert Iris Wolff die Konsequenzen auf, wenn man aus der Reihe tanzt.

"Es brauchte keine Beweise, die meisten Gerichtsverhandlungen waren Schauprozesse, die Strafen standen schon vorher fest." (109)

"Sie kannten die Spielregeln: Du weißt von nichts, es geht geht dich nichts an, die Partei hat recht. Drei einfache Regeln, mit denen man auch im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte." (110)

Heddas Geschichte spielt Anfang des neuen Jahrtausends auf La Gomera, wo sie Buchempfehlungen verfasst, selbst schreibt, vor allem träumt und so tut, "als ob es regnet". Auch sie ist auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben, während ihr Vater Vicco mit der alten Heimat abgeschlossen hat. 

Es sind die existentiellen Fragen nach dem Glück, nach den vermeintlich wichtigen Entscheidungen im Leben, die im Vordergrund der Erzählungen stehen - genauso wie die Frage nach der Heimat.

"Vielleicht war es zuletzt lächerlich gleichgültig. Jedes Ziel, jeder Wunsch diente dazu, irgendwo anzukommen, und wenn man nicht aufpasste, versäumte man den Moment, in dem man mit allen Sinnen spürte, wo man war." (162)

"Es war einmal und ist doch nie geschehen" (162) - in wunderbar poetischer und bilderreicher Sprache, die doch niemals überladen wirkt, erzählt uns Iris Wolff auf wenigen Seiten eine vier Generationen umfassende Familiengeschichte.