Sonntag, 27. März 2022

Dagmar Schifferli: Meinetwegen

- Monolog einer Psychopathin (?)

Leserunde auf whatchaReadin

Katharina ist ein 17-jähriges Mädchen, das sich in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche befindet, weil sie straffällig geworden ist. Der kurze Roman ist ausschließlich aus ihrer Sicht in der Ich-Perspektive verfasst. Als Leser:innen hören wir ihr zu, wie sie einmal in der Woche mit ihrem Psychiater spricht, der selbst ins Gespräch nicht eingreifen darf. Das ist ihre Bedingung, damit er alles über ihre Tat erfährt.

Gleich zu Beginn gibt sie zu bedenken:

„Es wäre nicht willentlich gelogen, wenn ich etwas erzählte, dass ich gar nicht so erlebt habe oder mir jemand erzählt hat, dass es so gewesen sei. Ohrfeigen, wenn sie heftig genug sind, verletzen das Gehirn. Die, die ich gekriegt haben, waren heftig. Darum bin ich mir unsicher, ob ich mich an alles korrekt erinnere. Obwohl ich möchte.“ (5)

Kann man ihr trauen? Ist sie eine zuverlässige Erzählerin? Will sie sich wirklich ihrer Tat stellen? Und was hat sie getan? Das sind die Fragen, die durch den Roman tragen und kontinuierlich die Spannung hochhalten. Katharina erzählt nur das, was sie wirklich will. Vieles bleibt ausgespart und nachfragen darf der Psychiater zunächst nicht.

„Eines aber müssen Sie wissen: Sie dürfen mich nie unterbrechen, niemals. Auch keine Fragen stellen, keine Töne, keinen Pieps von sich geben, wie etwa hm, oder sich räuspern. Das würde meine Gedanken durcheinander bringen.“ (5)

Von ihrem Leben selbst erfahren wir wenig. Ihre Mutter ist an MS erkrankt und verstorben. Ihr Vater hat ein Verhältnis mit der Pflegekraft gehabt und hat Katharina laut ihrer Aussagen geschlagen und auch verbal Schaden zugefügt. Nach eigenen Aussagen lebt sie in „der ständigen Angst vor Prügel und Beschimpfungen. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft mir mein Vater den Tod gewünscht hat.“ (24)
Katharina macht ihn auch für den Tod ihrer Mutter verantwortlich.

„Nein, ich weiß, dass er schuld war,
schuld ist,
am Tod meiner Mutter. Schauen Sie mich nicht so an. Es stimmt. Er hat ihren Rollstuhl nicht arretiert, sie saß drin, der Rollstuhl fuhr immer schneller,
kippte um.“ (19)

Eine Zeitlang hat sie bei ihrer Tante gelebt und war auch in einem katholischen Internat, woraus sie geflohen ist. Ihre Tante wollte sie jedoch auch nicht aufnehmen.

„Keine Ahnung, warum micht ihre Kinder…Man sieht sich ja nie von außen. Das habe ich schon mal gesagt. Jedenfalls haben sie mich ziemlich gemieden.“ (36)


Der Psychiater lässt sich darauf ein und erst nach ein paar Sitzungen darf er mithilfe von Karten mit ihr interagieren. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass das Geschehen im Jahr 1970 spielt. In diesem Jahr ist erstmals die Psychopathy Checklist von R. Hare erschienen ist, so dass der behandelnde Psychiater diese noch nicht gekannt haben kann. Damit gibt uns die Autorin einen Hinweis darauf, dass Katharinas Charakter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aufweisen könnte, d.h. dass sie eine Psychopathin ist, die ihr Gegenüber manipuliert.
(Vielen Dank an unser Leserundenmitglied @Gaia, die uns darüber aufgeklärt hat)

Allerdings legt auch die Erzählweise dies nahe, denn ausgerechnet bei der Sitzung, in der sie ihre Tat erzählen will, muss der Psychiater eingreifen.

„Helfen Sie mir, sagen Sie etwas!
WAS?
Etwas, das mir weiterhilft, bitte!
JA
Ich habe im Bericht Folgendes gelesen, Katharina: (…)" (92)

Dadurch, dass sie sonst die Fäden in der Hand behält und nur beim Geständnis ihrer Tat auf Hilfe angewiesen ist, zeigt meines Erachtens, dass sie keine echte Reue empfindet und den Psychiater dahingehend manipuliert, dass er ihr hilft in den offenen Strafvollzug zu gelangen und ihr ein gutes „Zeugnis“ auszustellen. Auch die intertextuellen Bezüge, z.B. zur Todesfuge von Paul Clean könnten ein Hinweis darauf sein, dass sie sich als Opfer stilisiert, um selbst in einem besserem Licht zu erscheinen.

Allerdings könnte man den Roman auch anders lesen. Katharina befreit sich von ihrer Tat mithilfe der Gesprächstherapie, empfindet Reue, entwickelt sich und will neu anfangen. Beim ersten Lesen erscheint sie durchaus sympathisch, man empfindet aufgrund ihrer Kindheit Mitleid mit ihr. Es bleibt am Ende tatsächlich offen, jedoch bleibt das ungute Gefühl, Katharina meine es nicht ernst, sondern wähle ihre Worte mit Kalkül. Ein Eindruck, der sich beim 2.Lesen bestätigt.

Ein interessanter Roman, der zum Diskutieren einlädt und die Leser:innen herausfordert.