Samstag, 12. November 2022

Celeste Ng: Unsere verschwunden Herzen

 - eine Dystopie

Leserunde auf whatchaReadin.

Noah ist 12 Jahre alt, doch sein Name "fühlt sich immer noch wie eine Halloween-Maske an, gummiartig und unangenehm, etwas, das nicht richtig sitzt." (13)

Denn eigentlich ist er Bird - so hat ihn seine Mutter immer genannt, die ihn und seinen Vater Ethan jedoch vor drei Jahren verlassen hat, warum, erfährt man zunächst nicht.

Zu Beginn der Handlung erhält Bird einen Brief von ihr.

"Natürlich aufgerissen und wieder versiegelt mit einem Aufkleber, wie alle Briefe: Geprüft zu Ihrer Sicherheit - PACT." (11)

Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft in den USA, in der die Regierung nach einer drei Jahre andauernden Krise, deren Ursache im Unklaren bleibt, ein Gesetz (PACT) beschlossen hat, das verspricht, "amerikanische Ideale und Werte" zu schützen und "gegen unamerikanische Ideen" zu verteidigen. Als Sündenbock für die Krise hat man sich auf China geeinigt - "diese gefährliche, ständige gelbe Bedrohung" (197) - was für Menschen, die asiatisch aussehen bedeutet, dass sie offen auf der Straße angepöbelt werden dürfen, dass es gewaltsame Übergriffe gibt, während alle anderen zusehen. Als Druckmittel nimmt die Regierung Kinder aus den Familien heraus, die sich gegen PACT und gegen die Regierung selbst stellen. Die "verschwundenen Herzen" kommen in Pflegefamilien und die ursprünglichen verhalten sich still, in der Hoffnung ihre Kinder auf diesem Weg wieder zurückzubekommen.

Der Begriff "verschwundene Herzen" stammt aus einem Gedicht von Birds Mutter Margaret Miu, "einer Person of Asian Origin" (17), die als Verräterin gilt. Deshalb stehen Bird und sein Vater unter Beobachtung. Sein Vater, einst Linguistikprofessor, arbeitet inzwischen in der Universitätsbibliothek in Harvard und bläut seinem Sohn ein, nicht aufzufallen, unter dem Radar zu fliegen, keinerlei Aufsehen zu erregen. Allein sein Aussehen veranlasst andere Menschen ihn anzugreifen. Doch Bird schlägt die Warnungen in den Wind und macht sich auf die Suche nach seiner Mutter - ein Abenteuer, das ihn nach New York führt.

Wie die Autorin im Nachwort schreibt, ist ihr Romans dicht an der Realität.

"Mit dem Beginn der Pandemie im Jahr 2020 ging ein starker Anstieg antiasiatischer Diskriminierung einher, aber auch das ist kein neues Phänomen: In der amerikanischen Geschichte hat diese Diskriminierung lange und tiefe Wurzeln." (393, Nachwort)

Auch die Tradition Kinder als Druckmittel einzusetzen, ist leider keine Erfindung der Autorin. So gab es in den USA "staatliche Internate für indigene Kinder, (...) und die nach wie vor stattfindende Trennung von Migrantenfamilien an der Südgrenze der USA" (393, Nachwort).

Während der erste und letzte Teil aus der Perspektive des 12-jährigen Birds erzählt werden, erfährt man im Mittelteil im Stil eines Erzählberichtes die Geschichte Margarets. In der Leserunde herrschte Konsens darüber, dass dieser Part aufgrund der Erzählweise weniger berührend ist, dass er dazu dient, die Ereignisse gestrafft zusammenzufassen, die zur Situation in der Gegenwart geführt haben. Der letzte Teil "reißt" den Roman dann wieder raus. Er ist unglaublich spannend und wartet mit einer starken Idee des Protests auf, die verdeutlicht, wie wichtig jedes einzelne Schicksal ist. 

Insofern rüttelt der Roman auf und zwingt, genau hinzusehen und die Augen nicht vor der Diskriminierung zu verschließen, sondern laut davon zu sprechen, Zeugnis abzulegen, damit nichts vergessen wird.