Im Roman erzählt McEwan die Lebensgeschichte von Roland Baines verknüpft mit der realen politischen Geschichte, die Einfluss auf Baines nimmt, was dieser mehrfach reflektiert und thematisiert.
McEwan erzählt nicht linear, sondern ausgehend von der Gegenwart im Jahr 1986 erinnert sich der der 38-Jährige an seine Klavierstunden als 11-Jähriger zurück. Dabei hat ihn seine Lehrerin sexuell belästigt hat, was bei ihm aber vor allem sexuelle Fantasien auslöst, so dass seine Lehrerin dem 13-Jährigen als Objekt der Begierde bei der Masturbation dient.
Roland Baines wurde im Spätsommer 1959 ins Internat nach England geschickt, während seine Eltern in Libyen bleiben. Dort ist sein Vater als britischer Armeeoffizier stationiert. Die Zeit in Libyen hat Roland in guter Erinnerung, auch während der Suezkrise. In dieser Zeit war er in einem Camp evakuiert, in dem er trotz der Abschottung grenzenlose Freiheit erlebt hat, "sie prägte ihn in seiner Ruhelosigkeit, seinem unklaren Ehrgeiz mit Anfang zwanzig, bestärkte seine Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit." (82)
Auch der Einfluss des autoritären Vaters sowie der depressiven Mutter prägen ihn - Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Erziehung zum Mann vs. Vertrauter der Mutter. In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) nicht: Warum wachsen seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm auf? Warum ist seine Mutter so traurig?
Die Erinnerungen an seine Klavierlehrerin Miriam Cornell werden wach, weil er in der Gegenwart im Jahr 1986 von seiner Frau verlassen wird und nun mit seinem sieben Monate alten Sohn Lawrence allein dasteht. Folgende Nachricht hat Alissa ihm hinterlassen:
"Versuche nicht, mich zu finden. Mir geht es gut. Es ist nicht Deine Schuld. Ich liebe dich, aber dies ist endgültig. Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst." (20)
- trotzdem wird er von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.
Während Roland wie gelähmt ist, legt sich eine atomare Wolke über Europa - der Supergau in Tschernobyl.
"Er hatte gedacht, es sei seine Liebe, die das Kind schützte. Aber ein öffentlicher Notstand ist ein indifferenter Gleichmacher. Kinder eingeschlossen. (...) Was in den Augen eins Politikers gut für die Massen sein mochte, war womöglich für keinen Einzelnen gut, insbesondere nicht für ihn." (52)
Ein Satz, der für viele politische Ausnahmezustände Geltung hat.
Wir begleiten Roland von Ende 30 bis zu seinen 70ern, immer wieder durchbrochen von Rückblicken an seine Jugend, an die Klavierlehrerin, die sein Leben nachhaltig beeinflusst hat, und auch den Beginn seiner Ehe mit Alissa.
Die Geschichte der Eltern der beiden wird erzählt, so dass Licht in die "Familienwolke" fällt und auch Alissas Verhalten wird anhand ihrer Familiengeschichte verstehbar - auch wenn die Tatsache, dass sie ihre Familie verlässt, um ihren Traum Schriftstellerin zu werden verwirklichen zu können, kaum nachvollziehbar bleibt.
Die Geschichte Rolands wird in drei Teilen erzählt, die deutliche Zeitsprünge aufweisen.
Teil 1: 1986
Teil 2: 1989 - 1996
Teil 3: 2002 - 2021
Teil 2: 1989 - 1996
Teil 3: 2002 - 2021
McEwan webt in Rolands Lebensgeschichte die politische Geschichte ein und gemeinsam mit dem Protagonisten tauchen wir auch in die Höhepunkte des letzten Jahrhunderts - den Fall der Mauer, das vorläufige Ende des Kalten Krieges, das zu politischem Optimismus verführt hat, der bitter enttäuscht worden ist.
"Wie - nach welcher Logik, welcher Motivation oder infolge welcher hilfloser Kapitulation - waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US-Kapitol gelangt? Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen." (696)
Die Kunst McEwan besteht für mich darin, dass er Rolands Entwicklung, aber auch die der anderen Figuren, authentisch und nachvollziehbar schildert. Ist man zunächst abgestoßen von Rolands Dahintreiben, wächst einem der Protagonist im Lauf des Romans ans Herz, so dass ich nach 710 Seiten immer noch gern weitergelesen hätte, obwohl fast alle Handlungsfäden aufgelöst werden. Viele kluge Sätze über das Elterndasein, das Älterwerden und den Einfluss der Geschichte auf unser Leben machen diesen Roman zu einem Lesevergnügen.
Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.