Dienstag, 3. März 2020

Daniela Krien: Muldental

- ein Erzählband

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich letztes Frühjahr "Die Liebe im Ernstfall" in einer Leserunde auf whatchaReadin gelesen habe und die lose verknüpften Geschichten von fünf Frauen micht begeisterten, freute ich mich besonders auf den neuen Erzählband von Daniela Krien.

Wie sie selbst im Vorwort schreibt, sind die 11 Erzählungen aus einem kleinen "Notizheft voller Geschichten", aus "Skizzen von Lebensdramen" (9) entstanden, wie

"Überschuldeter Handwerker begeht Selbstmord" (9).

Daraus entstand die Erzählung "Sommertag", in der ein Schreiner nach der Wende einen Aufschwung erlebt, Kredite angeboten bekommt und mit der finanziellen Freiheit nicht umzugehen weiß. Seine Frau gibt das Geld mit vollen Händen aus, gönnt sich das, was sie sich immer schon gewünscht hat, bis die Rechnungen und Mahnungen überhand nehmen und der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Otto Gerling ist ein "Wendeverlierer oder ein Kapitalismusopfer" (198), wie es in der Erzählung "Der Zigarettensammler" heißt. Menschen, die am politischen und gesellschaftlichen Umbruch scheitern und "trudelnd" (Klappentext) zurückbleiben.

Die erste Erzählung spielt im "Muldental", einem ehemaligen Landkreis (1994-2008) in der Nähe von Leipzig, der in "Ort der Vielfalt" umbenannt wurde, also geographisch im Osten der Republik verortet ist. Marie lebt dort mit ihrem Mann Heinz, einem Künstler, den sie zu DDR-Zeiten auf Druck der Stasi bespitzelt hat und der sie heute dafür büßen lässt. Mit wenigen Worten gelingt es Daniela Krien das Innenleben der Figuren darzustellen, bedrohliche Situationen zu schildern und bei den Leser*innen Empathie zu wecken - auch für die Täter. So empfindet man tatsächlich in der Erzählung "Heimkehr" - die Namensgleichheit mit Kafkas Parabel ist meines Erachtens kein Zufall - tatsächlich Mitleid mit einem verurteilten Mörder, der eine lieblose Kindheit erfahren hat, von den Eltern missachtet, von den Mitschüler*innen ausgegrenzt, gehänselt, weil er ein "Daumenlutscher" ist. Dass diese Lebensumstände zu aggressivem Verhalten führen, scheint genauso plausibel, wie das destruktive Verhalten der jungen Anna in der Erzählung "Mimikry", die permanent mit Vorurteilen gegenüber den "Ossis" konfrontiert wird und von der nun im Westen Anpassung gefordert wird.

Die Erzählung "Freiheit", basierend auf der Notiz "Junge Frau entscheidet sich für Spätabtreibung" (9) führt besonders gut vor Augen, dass - wie Krien im Vorwort schreibt - "das Individuum seine Entscheidung" (10) frei trifft, aber auch die Verantwortung für jene tragen muss. Diese Geschichte geht wirklich unter die Haut, genauso wie "Aussicht", in der eine pubertierende Tochter sich mit allen Konsequenzen gegen ihre Mutter stellt - danach braucht man als Leser*in erstmal eine Pause.

Daniela Krien schreibt über Menschen, "deren Schicksal ihre Kräfte übersteigt" (10), und es ist wichtig, dass sie diesen Gehör verschafft. Einige Geschichten beziehen sich explizit auf die Wende oder den Osten bzw. die ehemalige DDR, wie "Sarabande in B-Moll", in der eine schizophrene junge Frau kurz vor dem Mauerbau in den Westen reist, weil sie glaubt, dort besser behandelt werden zu können. Andere könnten überall spielen, sind sozusagen unabhängig vom politischen Geschehen.

Mit der Geschichte "Muldental II", die die 1.Erzählung weiterführt und mit "Plan B" verknüpft, schließt dieser Erzählband, der sehr nachdenklich stimmt und dessen eindringliche Geschichten die Leser*innen zwingen, ihre Komfortzone zu verlassen und sie zunächst rat- und sprachlos zurücklassen.
(Glücklicherweise konnte man sich in der Leserunde darüber austauschen!)

Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Erzählband oder einen Roman von Daniela Krien, die eine großartige, zeitgenössische Erzählerin ist und die mit wenigen Worten so viel sagen kann.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.