Mittwoch, 6. März 2019

Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman, der von fünf unterschiedlichen Frauen erzählt, hat in der Leserunde für einigen Diskussionsstoff gesorgt. Die verschiedenen Charaktere und deren Lebensentwürfe bieten Identifikationsmöglichkeiten und Interpretationsspielräume. Die wunderbare Sprache, die mit ungewöhnlichen Bildern aufwartet, verleitet zudem über das Gelesene intensiv nachzudenken.

Wer sind diese Frauen, die die Liebe im Ernstfall erleben?

1. Paula
"Der Tag, an dem Paula feststellt, glücklich zu sein, ist ein Sonntag im März." (5)

Offenkundig hat sie eine Zeit der Trauer überwunden. Im Rückblick, der sich mit der Gegenwart abwechselt, erfahren wir, wie die junge Buchhändlerin Paula ihren zukünftigen Mann Ludger kennen lernt, den ihre beste Freundin Judith ablehnt, trotzdem zieht sie mit ihm zusammen.

"Der Abschied von Judith fiel ihr schwer. Fünf gute Jahre hatten sie zusammengewohnt. Niemand sonst war ihr so nah." (13)

Seit Kindertagen sind sie befreundet, doch Ludger stellt diese Freundschaft auf eine harte Probe. Nachdem ihre gemeinsame Tochter Leni zur Welt gekommen ist, will er noch weniger Spuren auf der Erde hinterlassen, das bedeutet nachhaltig zu leben und dafür ist er bereit Verzicht zu üben. Allerdings möchte er seine Umwelt davon überzeugen, dass seine Art zu leben die einzig Richtige ist, was auch Paula irgendwann überfordert.

"Paula erschien es, als bezahlte sie den Preis für dieses Glück. Als lebte er von ihr. Je mehr Energie er hatte, umso schwächer fühlte sie sich. Je besessener er Pläne schmiedete, umso antriebsloser wurde sie." (29)

Als ihre zweite Tochter geboren wird, scheint sich die Beziehung zu entspannen, bis ein furchtbares Unglück sie heimsucht. Die Liebe hat den Ernstfall nicht überstanden und nur der erste Satz des Kapitels stimmt hoffnungsfroh, dass Paula mit ihrem neuen Lebensgefährten Wenzel einen Neuanfang wagen kann.

2. Judith
Das Kapitel setzt zeitlich nach Paulas Unglück ein, bevor sie Wenzel kennen lernt.

"Wie ein Abgrund ist Paula, wie ein tiefes schwarzes Loch, in das man Verständnis, Geduld und Liebe hineinwirft, und alles versinkt in der Tiefe, ohne auch nur einen Hall zu erzeugen." (66)

Judith ist Mitte 30, gutaussehend, sportlich, leitet erfolgreich eine Arztpraxis, liebt es im Galopp mit ihrem Pferd zu reiten und hört gerne klassische Musik.

So würde sie sich vielleicht selbst in einer der Dating-Agenturen beschreiben, in denen sie permanent auf der Suche nach dem richtigen Partner ist.

"Das Schwierigste an den Treffen mit den unbekannten Männern ist die Anstrengung, sich erklären zu müssen, immer wieder bei null anzufangen, sich auf nichts Vorhandenes berufen zu können." (62)

Obwohl die hochintelligente Judith unabhängig und stark erscheint -

"Manchmal steht sie fassungslos vor der Großzügigkeit anderer Frauen. Wie mild sie urteilen, wie sanft sie sich ihren Männern zuwenden, wie großherzig sie deren Schwächen hinnehmen und übersehen." (84) -

ist sie neidisch, als sie während eines Hausbesuchs die tiefe Verbundenheit zwischen einem Mann - Wenzel Goldfuß - und seiner krebskranken Frau Maja erlebt.

Doch dann lernt sie Gregor kennen...

3. Brida

ist Schriftstellerin und Judiths Freundin. Sie haben sich kennengelernt, als Brida Judith gebeten hat, ihren Roman auf sachliche Fehler hin zu lesen.

Brida verbringt ihre Ferien gemeinsam mit ihren Kindern Hermine und Undine, ihrem Exmann Götz und dessen Freundin Svenja. Eine etwas seltsame Konstellation, hinzu kommt, dass Götz und Brida immer noch regelmäßig miteinander schlafen.

Im Rückblick schildert Brida aus ihrer Sicht, wie sie sich in Götz, den Restaurator antiker Möbel, verliebt hat.

"Zu Beginn ihrer Beziehung gab es Malika, von der Götz damals sagte, sie sei die Frau um meine Familie zu gründen. Ihr Körper sei der Körper einer Mutter - weich und warum und wie ein schützender Wintermantel" (129),

während er sie als "wild und rauh wie eine Katzenzunge" (129) beschreibt.

Trotzdem gründen die beiden eine Familie, doch Brida zerbricht an ihrem Wunsch als Schriftstellerin weiter arbeiten zu wollen, ihren Figuren Raum zu geben und gleichzeitig Mutter zweier Kinder zu sein, die ihre Aufmerksamkeit fordern. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie Hermine zur Tagesmutter bringt und nach dem 2.Kind schweigen sogar ihre Figuren. Götz unterstützt sie, mit seinem Laden sorgt er für den Unterhalt und ermahnt sie, "[a]lles hat seine Zeit" (164).

In der Leserunde haben wir darüber diskutiert, ob Brida zu viel will. Der Beruf der Schriftstellerin erfordert Freiräume, in denen sich Kreativität entfalten kann, und passt nicht zu dem Bedürfnissen kleiner Kinder, die nicht warten, bis der Schreibprozess zum Ende kommt. Was hätte ein Schriftsteller gemacht? Hätte er auch ein schlechtes Gewissen gehabt oder auf seine künstlerische Freiheit gepocht?

4. Malika
Die Geigenlehrerin Malika erscheint zunächst als die schwächste der Frauen. Von ihren erfolgreichen Eltern, der Vater Cellist, die Mutter Musikwissenschaftlerin, fühlt sie sich ungeliebt. Ihre Schwester Jorinde, Schauspielerin, ist immer diejenige gewesen, die von ihnen vergöttert worden ist. Von dem Mann verlassen, den sie über alles geliebt hat - Götz - liest sie jede Zeile von Brida Lichtblau, um in den Männern der Geschichten Züge von Götz zu finden. In der neusten Geschichte, die Brida nach dem Urlaub mit Götz und Svenja geschrieben hat, Ein Sommer, erkennt sie ihn wieder und hofft, dass Brida ebenso leide wie die Hauptfigur.

Aus ihrer Perspektive schildert sie im Rückblick, wie sie Götz zum ersten Mal gesehen hat -

"Die Zeit des Alleinseins war vorbei. Mit der Kraft seiner Liebe bewegte sie sich mühelos in die Richtung ihrer besten Eigenschaften" (208) -

und wie er sie wegen Brida verlassen hat. Die andere Sichtweise wirft eine neues Licht auf alle Beteiligten. Ihr Wunsch nach einem Kind, der sich nicht verwirklichen will, setzt Götz unter Druck. In dieser Phase taucht Brida auf und in der Gegenwart bittet Malikas Schwester sie um einen unglaublichen Gefallen.

5. Jorinde

"Seit sie denken kann, kämpft sie um Malikas Liebe." (240)

Erneut lässt eine andere Perspektive das zuvor Erzählte einem anderen Licht erscheinen. Jorinde scheint Malika zu brauchen und es zeigt sich, dass die beiden Schwestern gut harmonieren und Malika tatsächlich zur Mutter geboren ist. Gemeinsam ziehen sie eine Wohnung, nachdem Jorinde ihren Mann verlassen hat, der

"als die Jahre und die Kinder eine Anpassung der Wünsche an die Wirklichkeit erforderten, [sich] verweigerte. Kompromisse ging er kaum ein, schon gar nicht beruflich" (244),

obwohl Jorinde die erfolgreichere Schauspielerin ist. Mit Malika zusammen gelingt ihr vorläufig der "Balanceakt der modernen Frau", wie eine der Diskussionsteilnehmerinnen so treffend bemerkt hat.

Zu diesem Balanceakt gehört nach wie vor die Zerrissenheit zwischen Beruf, Kindern und Partnerschaft. Der Kinderwunsch oder die bewusste Entscheidung dagegen prägen diese Frauen, in deren Lebensentwürfen sich die Leser*innen teilweise wiederfinden können. Die Geschichten stellen auch die Frage danach, wie Liebe sein sollte, und thematisieren die Einsamkeit, Zweifel und Sehnsüchte, wenn sie den Ernstfall nicht bestanden hat.

"Liebe ist kein Gefühl.
Liebe ist keine Romantik.
Liebe ist eine Tat.
Man muss die Liebe vom Ernstfall aus betrachten." (144)

Bis jetzt das Lese-Highlight 2019!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.