Sonntag, 23. Februar 2020

Anna Burns: Milchmann

The Man Booker Prize 2018

Leserunde auf whatchaReadin

Das Cover des Romans zeigt einen Sonnenuntergang in verschiedenen Farbschattierungen, orange, pink, rosa, violett - Farben, die der Himmel in der Welt der Ich-Erzählerin nicht haben darf.

"Nach Generationen und Generationen, Vätern und Vorvätern, Müttern und Vormüttern, Jahrhunderten und Jahrtausenden, in denen der Himmel offiziell eine und inoffiziell drei Farben gehabt hatte, durfte doch jetzt nicht einfach so ein bunter Himmel erlaubt sein." (96)

Die Diskussion über einen bunten Sonnenuntergang entbrennt während eines Französisch-Kurses und hat Stellvertreterfunktion in einer Gesellschaft, die nur "Die" oder "Wir" kennt - Schwarz oder Weiß.

Der Roman spielt in den 70er Jahren in Belfast während des IRA-Konfliktes. Das erlebende Ich wächst in einer von Terror und Gewalt beherrschten Gesellschaft auf, in der es wichtig ist, eindeutig Position zu beziehen, die Verweigerer - die IRA-Kämpfer zu unterstützen, die gleichzeitig die katholische Hochburg beherrschen, und gegen alles zu sein, was aus dem Land von der anderen Seite der See kommt. Strikte unausgesprochene Regeln und Gesetze bestimmen z.B. welche Namen oder Fernsehsendungen erlaubt sind, und wenn man dagegen verstößt, macht man sich des Denunziantentums verdächtig.
In dieser aufgeladenen Atmosphäre wird die 18jährige Ich-Erzählerin vom "Milchmann" bedroht. Dessen Namen rührt daher, dass in den Milchkästen die Bomben der IRA versteckt waren und er wird als Einziger beim Namen genannt.
Ansonsten sind im Roman die Figuren nur in ihren Beziehungen zueinander bezeichnet - Schwester eins, Schwager eins, Vielleicht-Freund, Ma, Älteste Freundin oder aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften wie Atomjunge oder Tablettenmädchen. Das liest sich zu Beginn etwas ungewöhnlich, doch letztlich ergibt es einen Sinn. Es verleiht der Geschichte Universalität, das Geschehen könnte theoretisch überall dort stattfinden, wo die Gesellschaft von Terror und Abgrenzung bestimmt wird, wo Gerüchte schnell entstehen und Urteile blitzschnell getroffen werden.  Andererseits verdeutlicht es, wie schwierig es ist, in einer solchen Gesellschaft individuell zu handeln, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen.
Der Ich-Erzählerin wird eine Affäre mit dem Mittvierziger paramilitärischen "Milchmann" angedichtet, obwohl er ihr nachstellt, sie anspricht, sie bittet, in sein Auto zu steigen, ihr andeutungsweise zu verstehen gibt, dass ihr Vielleicht-Freund an einer Autobombe sterben könnte. Jener hat sich verdächtig gemacht, da er den Kompressor eines Bentleys, eines klassischen englischen Wagens, gewonnen und angenommen hat. Die gilt bereits als Verrat.
Gleich im ersten Satz erfahren wir vom erzählenden Ich, dass der Milchmann erschossen wird - immer wieder reflektiert das "erwachsene" Ich die damalige Situation und bewertet ihr Verhalten.
"Damals, als ich achtzehn war, lauteten die Grundregeln in der permanent alarmbereiten Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war: Wenn keine körperliche Gewalt ausgeübt und man nicht direkt verbal beleidigt worden war und keiner in der Nähe blöd guckte, dann war auch nichts passiert." (13)

Die Ich-Erzählerin startet einen Versuch, ihrer Mutter - ihr Vater, der an Depressionen gelitten hat, ist bereits verstorben, von den falschen Gerüchten zu erzählen, doch diese glaubt ihr nicht. So wählt die Ich-Erzählerin den Rückzug, das Schweigen, um die Situation "auszusitzen" und zieht damit die Aufmerksamkeit umso stärker auf sich. Die Tatsache, dass sie in der aufgeladenen politischen Situation im Gehen liest, vorzugsweise Romane aus dem 18./19.Jahrhundert, verleiht ihr den Status einer Übergeschnappten.
Der Autorin gelingt es hervorragend die Bedrohung durch den Milchmann, der niemals handgreiflich wird oder die Ich-Erzählerin auch nur anrührt, zu beschreiben. Die Spannung steigert sich und wird aufgrund der zahlreichen Reflexionen, Einschübe und Zeitsprünge der Erzählerin kaum aufgelöst.
Es entsteht das Psychogramm einer verängstigten jungen Frau, deren Angst sich auch körperlich auswirkt, die abstumpft, sich einkapselt und nicht in der Lage ist, dem Milchmann etwas entgegen zu setzen. Doch es gibt auch positive Figuren, wie den echten Milchmann oder die Französischlehrerin, die sich bemüht, ihren Schülerinnen und Schülern einen neuen Blickwinkel aufzuzeigen. Und einige Figuren entwickeln sich in eine unerwartete Richtung.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt Frauen im Gegensatz zu Männern nichts gegolten haben, ihnen keine Macht zugesprochen wurde, zeigen einige Situationen im Roman, dass ein solidarisches, gemeinschaftliches Handeln der Frauen zum Erfolg führt, wie das Aufheben der Ausgangssperre. Andererseits zeigt das Schicksal der Ich-Erzählerin, wie gefährlich es sein kann, sich zur Außenseiterin zu machen, individuell zu handeln.

Ein Roman, der mich wirklich begeistert hat, aufgrund seiner Thematik
- wobei die aktuelle Me Too-Debatte sicherlich zum Erfolg beigetragen hat, ebenso wie der Brexit, der die Grenze in Irland wieder in den Fokus gerückt hat -
seiner außergewöhnlichen Sprache und seines teilweise skurrilen Humors.
Der Gedankenfluss der Ich-Erzählerin ist im wahrsten Sinne des Wortes mitreißend und bleibt es bis zum Schluss.

Vielen Dank dem Klett-Cotta-Verlag für das Rezensionsexemplar!