Donnerstag, 8. August 2024

Paul Lynch: Das Lied des Propheten

Leserunde auf whatchaReadin

Wie würdest du handeln, wenn sich das demokratische Land, in dem du lebst, zu einem totalitären Staat wandelt und ein Bürgerkrieg ausbricht?

Das ist die Kernfrage, mit der sich der irische Autor Paul Lynch beschäftigt. Zwar verortet er die Romanhandlung nach Irland, aber letztlich könnte sie in jedem demokratischen Land spielen, in dem mittels Notverordnungen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden.
Am Beispiel der Mikrobiologin Eilish, deren Ehemann Larry als stellvertretender Gewerkschaftssekretär der Lehrergewerkschaft tätig ist und die gemeinsam vier Kinder haben -
den fast erwachsenen Mark
die pubertierende Molly
den 12-jährigen Bailey und
das Kleinkind Ben -
erzählt Lynch sehr poetisch, welche Auswirkungen ein totalitäres System auf den einzelnen (Durchschnitts-)menschen hat, der mit staatlicher Willkür konfrontiert wird. 

Im ersten Kapitel wird dabei das Szenerio der Bedrohung in dichter metaphorischer Sprache dargelegt. Jeden Satz muss man sorgfältig lesen, damit einem nichts entgeht. Gleichzeitig entsteht Eindringlichkeit durch die vielen Wiederholungen. Auch die kurzen Ellipsen erzeugen ein Gefühl von Dringlichkeit, daneben die langen, verschachtelten Sätze mit vielen Adjektiven, die trotzdem nicht überladen wirken. Die Zeitform Präsens sorgt dafür, dass man quasi am Geschehen teilnimmt.

"Doch da, das Klopfen. Sie hört, wie es ins Denken dringt, das harte, beharrliche Hämmern, ein jedes Klopfen so voll vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt." (9)

Die Klopfenden sind zwei Polizisten der neu gegründeten Geheimpolizei, die ihren Mann sprechen wollen, der jedoch nicht zu Hause ist.
Nachdem sie das Haus verlassen haben, ist "etwas von diesem Dunkel ins Haus gekommen." (S.11)

Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive Eilishs. Ihre Sicht auf die Ereignisse stehen im Vordergrund, als Leser:innen erfahren wir nicht mehr als sie, d.h. Hintergründe, wie es zur Machtübernahme bzw. der Veränderung hin zu einem totalitären System gekommen ist, bleiben im Dunkeln.
Um für die Verfassungsrechte zu kämpfen, will die Lehrergewerkschaft eine Demonstration veranstalten, an der Larry teilnimmt und von der er nicht wiederkehrt. Eilish erhält keinerlei Informationen, es findet weder eine Haftprüfung statt noch kann der Anwalt der Gewerkschaft etwas ausrichten.
Eilish, die sich um ihren Vater kümmern muss, der zunehmende Anzeichen einer Demenz zeigt, ist mit der  Situation überfordert. Sie bemüht sich die Familie zusammenzuhalten, beruhigt und belügt auch die Kinder und versucht sie zu beschützen, während Irland sich in einen totalitären Staat verwandelt, in der die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden.
Erst jetzt wird Eilish bewusst, in welchem alltäglichen Glück sie zuvor gelebt haben.

"Das Glück, das in dem Stumpfsinn steckt, wie es indem alltäglichen Hin und Her lebt, als wäre das Glück etwas, was nicht gesehen werden soll, als wäre es ein Ton, den man erst hören kann, wenn er aus der Vergangenheit schallt" (S.50) Eine wunderbare Beobachtung - wie oft nehmen wir unser alltägliches Glück nicht wahr.

Mit jedem Kapitel steigt die Bedrohung. Die Frage, der sich Eilish stellen muss, ist, ob sie ihr Zuhause verlassen oder bleiben soll, in der Hoffnung, dass Larry zurückkehrt.
Dass sie teilweise sehr unvernünftig handelt, wurde ausführlich in der Leserunde diskutiert und die meisten waren der Meinung, dass wir es uns kaum anmaßen können, über sie in dieser Ausnahmesituation zu urteilen. Wie würde ich im Angesicht der Bedrohung handeln? Würde ich aktiv Widerstand leisten oder versuchen meine Familie zu beschützen? Würde ich versuchen, das Land zu verlassen? 

Trotz dieser drängenden Fragen und der zunehmenden düsteren, bedrohlichen Atmosphäre begeistert die Sprache des Romans - trotz einiger schiefer Metaphern oder auch einiger weniger unglücklichen Übersetzungen. Insgesamt ist die Übersetzung dieser dichten, lyrischen Sprache von Eike Schönfeld bewundernswert.

Der Roman regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an, v.a. wie schnell die Entwicklung hin zu einem totalitären Staat vollzogen werden kann und wie lange die Protagonisten dies nicht wahrhaben wollen. Lynch entwirft keine Dystopie, sondern ein mögliches Szenario, das durchaus Realität werden könnte. Er prophezeit, was sein wird, wenn wir nicht achtsam sind. 

Passend auch das Brecht-Gedicht, das dem Roman vorangestellt ist:
In den finsteren Zeiten,
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.

Gerade in dunklen Zeiten braucht es die Stimme der Literatur - auch wenn sie augenscheinlich nicht viel ausrichten kann, ist sie doch ein Zeugnis dessen, was geschieht bzw. was geschehen könnte.