Abschied nehmen
Leserunde auf whatchaReadin
Auch der neue Roman von Kent Haruf spielt in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, ist jedoch im Gegensatz zu seinen Vorgängern im neuen Jahrtausend angesiedelt, wahrscheinlich kurz nach 9/11. Auch die Figuren spielten in den anderen Romanen keine Rolle, so dass uns neue, andere Schicksale erwarten.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Dad Lewis, der Besitzer der Eisenwarenhandlung in Holt.
Gleich zu Beginn der Handlung erfahren wir, dass Dad Lewis wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat:
"Leider habe ich keine allzu guten Nachrichten für sie, sagte der Arzt." (7)
Metaphorisch bietet Haruf mehr Informationen, indem die Tageszeit oder auch das Wetter symbolischen Charakter zeigen.
"Als sie nach Hause kamen, ging die Sonne gerade unter, und die Luft kühlte allmählich ab." (8)
Dad Lewis bleibt ein Sommer, um sich vom Leben und seinen Lieben zu verabschieden. Dies ist der Erzählstrang, der am meisten Raum einnimmt. Seine Frau Mary begleitet seinen Sterbeprozess, bleibt an seiner Seite, unterstützt von ihrer Tochter Lorraine, die aus Denver angereist ist, um die letzten Wochen in der Nähe ihres Vaters zu sein.
Doch die Familie ist nicht vollständig, denn Lorraines jüngerer Bruder Frank hat keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Während Mary darunter leidet, scheint Dad Lewis mit diesem Thema abgeschlossen zu haben. Im Verlauf der Handlung erfahren wir aus Rückblicken, dass Franks Homosexualität zum Bruch mit dem Vater geführt hat, dem es nicht gelingt, dies zu akzeptieren. Werden sie sich vor Dad Lewis Tod versöhnen?
Dies ist nicht der einzige Konflikt, der Dad Lewis beschäftigt. Einst hat er einen Angestellten entlassen, der Einnahmen veruntreut hat, und ihn gezwungen, Holt zu verlassen. Daraufhin hat sich Clayton umgebracht, eine Frau und zwei Kinder hinterlassen. Auch daran denkt Dad Lewis zurück - er will in Frieden gehen.
Ein weiterer Handlungsstrang rankt sich um Willa und Alene Johnson - Mutter und Tochter, die mit den Lewis befreundet sind.
Während Dad Lewis am Ende seines Lebens steht, hat Alene das Gefühl, jenes bereits erreicht zu haben. Offenkundig hat sie eine unglückliche Liebe hinter sich und will keine traurige alte Frau werden.
"Ich werde sterben, ohne jemals gelebt zu haben. Es ist so lächerlich. So absurd. Alles ist so sinnlos." (65)
Die beiden freunden sich mit Alice an, die bei ihrer Großmutter Berta May, Nachbarin der Lewis, lebt, nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben ist. Alice wird eine Art Ersatzkind und in einer der schönsten Szenen des Romans baden vier Frauengenerationen gemeinsam nackt.
Alice, Lorraine, Alene und Willa - in der Beschreibung ihres Körpers und dem Vergnügen, dass sie beim Baden in einem kalten Wassertrog an einem heißen Tag empfinden, offenbart Haruf seine sensible Art zu erzählen. Er begegnet seinen Figuren mit Empathie, beschreibt ohne zu werten, überlässt es den Leser*innen sich eine Meinung zu bilden.
Neben diesen Figuren, die in Holt verhaftet sind, steht der neue Reverend Lyle, der aus Denver nach Holt "strafversetzt" wurde. Sein pubertierender Sohn John Wesley fühlt sich in der Kleinstadt nicht wohl, daran ändert auch seine Freundin nichts, die ihm vorwirft:
„Du wirst noch alles kaputtmachen, merkst du das nicht? Du siehst ja nicht mal, was du vor der Nase hast. (...) Du träumst rückwärts.“(80)
Auch die Frau des Reverend möchte zurück nach Denver, vor allem nach einer denkwürdigen Predigt Lyles, in der - das war der Tenor der Leserunde - Haruf seinen amerikanischen Traum zu Papier bringt. Es könnte ein Amerika geben, das statt in den Krieg gegen die Terroristen zu ziehen, großzügig ist, dass seine Stärke dafür einsetzt, "etwas zu erschaffen. Wir werden eure Straßen und Highways reparieren, eure Schulen ausbauen, eure Brunnen und Staudämme modernisieren, eure alten Denkmäler und eure Kulturgüter retten, eure Tempel und Moscheen renovieren. Genauer gesagt: Wir werden euch lieben." (186)
Eine Botschaft, die konträr zum derzeitigen Kurs der amerikanischen Außenpolitik steht und die sowohl bei den Figuren im Roman als auch in der Gegenwart für Unverständnis sorgt. Eine mutige Botschaft, die Haruf hinterlässt und die sich auch auf der Ebene der Figuren widerspiegelt.
Sein Protagonist Dad Lewis möchte Frieden schließen, sich aussöhnen und Liebe geben, auch wenn ihm das im Leben nicht immer gelungen ist.
"Vergib mir, flüsterte er. Ich habe eine Menge Dinge versäumt. Ich hätte es besser machen können." (291)
Es sind "kostbare Tage", die wir als Leser*innen miterleben dürfen. Die letzten Tage Dad Lewis, der Abschied nimmt. Aber auch kostbare Momente erleben wir, z.B. wenn Dad seiner Tochter sagt, er liebe sie oder das gemeinsame Mahl bei Willa und Alene, die Lyle in seinem Traum unterstützen und das gemeinsame generationenübergreifende Baden. Das ist es, was am Ende bleibt und kostbar ist.
Ein wunderbarer Roman!